28. März 2011 Martin Künkler

Hartz-IV-Regelsätze: Am Existenzminimum vorbei

»Alle Grundsicherungsempfänger bekommen das Existenzminimum: genau, fair und gerecht ausgerechnet; nicht willkürlich, nach Kassenlage oder nach Gutdünken.« Dies behauptete Arbeitsministerin von der Leyen, nachdem sich Union, FDP und SPD am 21. Februar 2011 auf einen Kompromiss bei den Hartz IV-Leistungen geeinigt hatten.

Monika Schwesig, Verhandlungsführerin der SPD, formulierte vorsichtiger. Anders als von der Leyen, die absolute Kriterien wie die Sicherstellung des Existenzminimums und die Herstellung von Transparenz als erfüllt ansieht, betont Schwesig den Fortschritt gegenüber der alten Rechtslage. Sie begründete die Zustimmung der SPD zum Kompromiss so: »Das Leben wird sich für viele Menschen, vor allem für zwei Millionen Kinder, wesentlich verbessern.«

Genau das ist nicht der Fall. Zwar sind die durchgesetzten drei neuen Branchen-Mindestlöhne anzuerkennen, ebenso die Ausweitung des »Bildungspakets« auf weitere einkommensschwache Haushalte. Aber bezogen auf das Wesentliche, nämlich die Höhe des Existenzminimums, wird in der Gesamtschau aller Neuregelungen nichts besser. Denn im Gesetz, mit dem die Regelsätze neu festgesetzt werden, sind viele gravierende Verschlechterungen versteckt, die das Existenzminimum absenken. Und dem »Bildungspaket« steht gegenüber, dass Grundbedürfnisse von Kindern wie etwa Ernährung und Bekleidung zukünftig noch schlechter abgedeckt werden als heute. Doch der Reihe nach.


Nicht mal ein Inflationsausgleich

Die Regelsätze für Erwachsene werden rückwirkend zum 1. Januar 2011 um 5 bzw. 4 Euro erhöht. Die Beträge sind in der Tabelle 1 dargestellt. Die bisherigen Sätze für minderjährige Kinder und Jugendliche gelten unverändert weiter. Allerdings hat das Arbeitsministerium die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen anhand der Ausgaben von Paaren mit einem Kind neu »ermittelt«. Die Werte liegen unter den bisherigen Sätzen und sind in der Tabelle in Klammern angegeben. Diese niedrigeren Sätze bilden künftig die Ausgangsbasis für die jährliche Anpassung (siehe unten).

Tabelle 1: Regelsätze für den Lebensunterhalt in Euro je Monat

 

alt

neu

Differenz

Alleinstehende, Alleinerziehende

359

364

5

Paare, je Person

323

328

5

Kind 18-24

287

291

4

Kind 14-17 J.

287

287 (275)

0

Kind 6-13 J.

251

251 (242)

0

Kind 0-5 J.

215

215 (213)

0

Quelle: Regelbedarfsermittlungsgesetz (REBG)

Zum 1. Januar 2012 steigen die Regelsätze zusätzlich zur turnusmäßigen Anpassung um 0,75%, also für Alleinstehende um 3 Euro. Dies ist – bezogen auf die Höhe des Existenzminimums – die einzige Verbesserung, die im Vermittlungsverfahren gegenüber den ursprünglichen Plänen der Koalition durchgesetzt werden konnte. Die Sonderanpassung ist keine strukturelle Verbesserung, sondern vollzieht nur die Preis- und Lohnentwicklung zwischen 2009 und 2010 nach.[1]

Mit der minimalen Erhöhung wird noch nicht einmal ein nachholender Inflationsausgleich gewährt. Seit Einführung von Hartz IV im Januar 2005 sind die regelsatzrelevanten Preise um gut 8% gestiegen.[2] Um diesen Anstieg zu kompensieren, müsste der Regelsatz statt 364 Euro 373 Euro betragen. Hartz IV-Bezieher können sich heute real weniger kaufen als von den ursprünglichen 345 Euro aus dem Einführungsjahr, die das Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärte.

Die neu festgesetzten, ausgesprochen niedrigen Regelsätze sind politisch gewollt. So hat die Regierung bewusst einige politische Setzungen für die Ableitung der Sätze aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) vorgenommen, die das Existenzminimum nach unten drücken:

  • Statt der unteren 20% der nach ihrem Einkommen geschichteten Ein-Personen-Haushalte wurden die untersten 15% als Vergleichsgruppe gewählt.
  • Es wurden nur Hartz IV- und Sozial­hilfebezieher vorab aus der Vergleichsgruppe herausgenommen, nicht aber Haushalte mit einem Einkommen unterhalb des Hartz IV-Niveaus (verdeckte Arme/Dunkelziffer).

Weniger bekannt, aber nicht weniger problematisch, sind die beiden folgenden Punkte:

  • Das Arbeitsministerium hat die Bedarfe für Kinder und Jugendliche – die niedrigen Zahlen in den Klammern in Tabelle 1 – aus einer extrem kleinen Stichprobe von Referenzhaushalten ermittelt. So wurden beim Regelsatz für 14- bis 18-Jährige 212 Ausgabenpositionen aus der EVS als regelsatzrelevant berücksichtigt. Bei 179 Ausgabenpositionen (= 84%) liegen den Ergebnissen die Ausgaben von höchstens 100 Haushalten zugrunde. Bei 90 Ausgabenpositionen (42%) beruhen die Ergebnisse sogar nur auf den Ausgaben von weniger als 25 Haushalten. Nach den üblichen statistischen Standards sind solche Daten völlig unbrauchbar.
  • Das Herausrechnen einzelner Ausgaben wie etwa für Alkohol und Tabak, verzerrt die gesamte Statistik und drückt das Existenzminimum nach unten. Denn die Haushalte der Vergleichsgruppe geben ihr äußerst begrenztes Budget vollständig aus. Da jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann, geben Haushalte mit Ausgaben für Alkohol und Tabak entsprechend weniger Geld in den anderen Bereichen – etwa für Ernährung oder Freizeitaktivitäten – aus. Diese niedrigeren Ausgaben fließen aber in die Rechnung ein und drücken die Durchschnittswerte für alle Haushalte. Die isolierte Herausnahme der Ausgaben für Alkohol und Tabak verfälscht das Gesamtergebnis, da die niedrigeren Ausgaben in anderen Bereichen weiter wirksam bleiben.


Bildungspaket und eingefrorene Regelsätze für Kinder

Die Leistungen des Bildungspakets halten bei weitem nicht das, was Ursula von der Leyen der Öffentlichkeit verspricht (»neues Kapitel in der Sozialgeschichte«). So sind einige Leistungen gar nicht neu, sondern werden nur unter dem Dach des Bildungspakets neu strukturiert. Die Beihilfe für Schulmaterialien – mit 100 Euro pro Schuljahr das quantitativ bedeutsamste Element des Bildungspakets – gibt es längst und auch die Übernahme von Kosten für Nachhilfe ist seit Februar 2010 möglich.

Die tatsächlich neu eingeführten Leistungen werden zwar im Einzelfall zu spürbaren Verbesserungen führen – etwa wenn die Bedingungen dafür erfüllt sind, dass eine Schülermonatskarte erstattet werden muss. Aber der Zugang zu diesen Leistungen ist so restriktiv gefasst, dass die Masse der Kinder sie gar nicht bekommen wird. Beispielsweise kommt der Zuschuss zum Mittagessen für schätzungsweise 70% der Schülerinnen und Schüler gar nicht in Frage, weil ihre Schule keine Kantine hat. Nur die Gutscheine für Vereinsbeiträge, Musikunterricht und Ähnliches im Wert von 10 Euro monatlich sind allen Kindern und Jugendlichen zugänglich.

Dem »Bildungspaket« steht gegen­über, dass Grundbedürfnisse wie Ernährung und Bekleidung zukünftig noch schlechter als heute abgedeckt werden können. Denn die Regelsätze für den laufenden Lebensunterhalt von Kindern und Jugendlichen werden in den nächsten Jahren eingefroren. Der Grund: Die Koalition hält die bestehenden Sätze aufgrund ihrer neuen »Bedarfsermittlung« für zu hoch. Die Nicht-Anpassung der Regelbedarfe für Kinder und Jugendliche wird zu einem kontinuierlichen Kaufkraftverlust führen. Ein Beispiel soll diesen Mechanismus illustrieren: Der Regelsatz der 14 bis 17-Jährigen lag bisher und liegt in den nächsten Jahren unverändert bei 287 Euro. Laut Koalition beträgt der Regelbedarf der Altersgruppe jedoch nur 275 Euro. Das sind 12 Euro weniger – ein größerer Verlust als der Zugewinn in Höhe von 10 Euro für soziale Teilhabe beim Bildungspaket. Der Satz von nominell 287 Euro gilt solange, bis der jährliche Anpassungsmechanismus auf Basis der 275 Euro einen höheren Wert ergibt. Angenommen, die Regelsätze steigen in der Zukunft jährlich um ein Prozent (zuletzt waren es 0,55%), dann bekommen die 14- bis 17-Jährigen in den nächsten vier Jahren keinen Cent Hartz IV mehr und müssen auch noch im Jahr 2015 mit 287 Euro »auskommen«. Darin enthalten sind dann wie heute auch schon: 3,48 Euro für Essen und Trinken pro Tag sowie – auf ein Jahr gerechnet – 73 Euro für alle Sport- und Freizeitschuhe sowie 6,72 Euro fürs Sparen auf ein Fahrrad. Mit dem kommt man dann irgendwann, nach jahrelangem Sparen, vielleicht auch beim Sportverein an.


Verschlechterungen im Wind­schatten der Regelsatzdebatte

Mit dem Gesetz zur Neufestsetzung der Regelsätze wird eine Vielzahl von weiteren Änderungen vollzogen. Darunter finden sich auch viele Verschlechterungen, die das Existenzminimum absenken.

Die Kommunen können beispielsweise die Leistungen für die Wohnkosten künftig niedriger als bisher und unterhalb der Standards, die das Bundessozialgericht gesetzt hat, festlegen. Dabei sollen erstmals auch abgeltende Pauschalen möglich sein. Die gewährten Leistungen werden dann vielfach die tatsächlichen Kosten fürs Wohnen nicht mehr decken. Wollen Leistungsberechtigte ihre Wohnung behalten, müssen sie einen Teil der Warmmiete aus den Regelsätzen finanzieren. Unterm Strich drohen Leistungskürzungen, die die minimale Erhöhung der Regelsätze um ein Vielfaches übersteigen.

Zudem wurden die Tatbestände deutlich ausgeweitet, bei denen die Jobcenter einen Teil des Regelsatzes einbehalten können. Bei diesen so genannten Aufrechnungen wird das gesetzlich definierte Existenzminimum immer unterschritten, da die Regelsätze nicht vollständig ausgezahlt werden. So müssen beispielsweise künftig vom Jobcenter gewährte Darlehen für Mietkautionen sofort durch Einbehaltungen vom Regelsatz abgestottert werden. Gleiches gilt bei der Erstattung von Überzahlungen, selbst wenn der Leistungsberechtigte diese gar nicht verschuldet hat.[3]

In beiden genannten Fallkonstellationen, die häufig vorkommen, werden 10% des Regelsatzes bzw. 10% der Regelsatzsumme für mehrere Personen einbehalten und nicht ausgezahlt. Da sich das Existenzminimum aus den Regelsätzen und den Leistungen fürs Wohnen zusammensetzt und da für die Existenzsicherung nicht der theoretische Leistungsanspruch, sondern der tatsächlich ausgezahlte Geldbetrag entscheidend ist, werden viele Haushalte trotz der fünf Euro mehr und trotz des Bildungspakets schlechter gestellt.


Alternative Herleitungen des Existenzminimums

Es ist absehbar, dass gegen die neuen Regelsätze geklagt werden wird und dass das Verfassungsgericht erneut über die Verfassungskonformität der Sätze entscheiden muss. Voraussichtlich werden auch die neuen Regelsätze in Karlsruhe durchfallen. Unter Beachtung der Vorgaben des Verfassungsgerichts hätte die Regierungskoalition die Leistungen höher ansetzen müssen, als sie es getan hat. Aber: Die Vorgaben aus Karlsruhe alleine garantieren kein Existenzminimum, das den materiellen Möglichkeiten eines reichen Landes wie der Bundesrepublik angemessen ist. Die Festsetzung des Existenzminimums war und ist eine politische Frage und Fortschritte beim Existenzminimum lassen sich nur politisch erkämpfen.
Als Alternativen zur Festsetzung der Regelsätze durch die Regierungskoalition kommen insbesondere folgende Ansätze infrage:

1. Das Statistikmodell, bei dem das Existenzminimum aus den Ausgaben der unteren Einkommensgruppe (20%) abgeleitet wird, wird »1:1« umgesetzt: Alle relevanten, statistisch erfassten Ausgaben fließen in die Regelsätze ein; auf Abschläge wird weitestgehend verzichtet.[4] Angesichts der Polarisierung der Einkommen bleibt dieser Ansatz aber problematisch: In den letzten Jahren konzentrieren sich die Einkommenszuwächse auf die oberen Einkommensklassen. Die unterste Einkommensgruppe fällt hingegen zurück und wird zunehmend von der Wohlstandsnormalität in der Mitte der Gesellschaft abgekoppelt (siehe Tabelle 2).[5]

 

Tabelle 2: Höhe des Regelsatzes für Alleinstehende bei alternativer Herleitung in Euro

 

Unterschiede zum Gesetzesbeschluss

absolut

Differenz 1)

Referenzgruppe: untere 20% statt 15%

382

18

Herausnahme der verdeckt Armen

374

10

Zwischensumme:
20% ohne verdeckte Armut

392

28

Und zusätzlich

 

 

Verzicht auf willkürliche, fachlich nicht begründete Abschläge 2)

465

101

Verzicht auf nicht »zwingende« Abschläge 3)

514

150

1) Zum beschlossenen Regelsatz in Höhe von 364 Euro.
2) Z.B. Alkohol/Tabak, Blumen, Telekommunikations- und Mobilitätsausgaben.
3) Es werden nur Ausgaben herausgerechnet, die gar nicht anfallen (z.B. GEZ-Gebühren) oder anderweitig abgedeckt sind (z.B. Wohnkosten)
Quelle: DIE LINKE/Katja Kipping


2. Ausgehend von einem relativen Armutsbegriff und den relativen Armutsgrenzen (siehe Tabelle 3) aus der Armutsforschung wird das Existenzminimum mit dem Ziel festgesetzt, dass der Abstand zu den mittleren Einkommen in Grenzen gehalten werden soll (»vergleichbare Lebenslagen«). Dies könnte beispielsweise so operationalisiert werden, dass von den Ausgaben der mittleren Einkommensgruppe ausgegangen wird, bestimmte Ausgabenarten wie etwa für Bildung und Ernährung zu 100% übernommen werden und andere Ausgabenpositionen (z.B. Freizeit, Kultur) zu 50% in die Hartz IV-Sätze einfließen – als Mindestmaß an Teilhabe.

 

Tabelle 3: Hartz-IV-Bedarf und Armutsrisikoschwelle
in Euro je Monat

Haushaltstyp

Hartz-IV-Bedarf 1

Armutsrisiko-schwelle 2



1-Personen-Haushalt

629

925


(Ehe)Paar ohne Kinder

981

1388


(Ehe)Paar mit 1 Kind

1283

1665


(Ehe)Paar mit 2 Kindern

1612

1943


(Ehe)Paar mit 3 Kindern

1970

2220


Alleinerziehende mit 1 Kind

1014

1203


Alleinerziehende mit 2 Kindern

1356

1480


1) Regelsätze für den Lebensunterhalt, durchschnittliche Wohnkosten einschließlich Heizung und Mehrbedarfszuschlag für Alleinerziehende
2) 60% der bedarfsgewichteten Haushalts-Nettoeinkommen (Median)

Quellen: SOEP/DIW 2010, BA, eigene Berechnungen

3. Es wird definiert, welche Versorgungsstandards und welches Maß an sozialer Teilhabe zum Existenzminimum gehören sollen und die notwendigen Ausgaben für eine Bedarfsdeckung ermittelt (»Warenkorbmodell«). Solche bedarfstheoretischen Überlegungen können auch genutzt werden, um die Ergebnisse des Statistikmodells zu überprüfen und ggf. zu korrigieren (»Bedarfs-TÜV«). Die beschlossenen Regelsätze sind in wichtigen Bereichen nicht ansatzweise bedarfsdeckend: Von den vorgesehenen 4,25 Euro pro Tag ist keine gesunde Ernährung möglich, von 18,41 Euro pro Monat für Mobilität kann kein Monatsticket bezahlt werden und von monatlich 1,39 Euro für Bildung ist noch nicht mal ein Volkshochschulkurs pro Jahr bezahlbar.

Unabhängig davon, welche Alternative man wählt: Am Ende würden Regelsätze stehen, die deutlich über den nun beschlossenen Regelsätzen liegen.


Gesellschaftliche Relevanz der Regelsätze

In der vorherrschenden Meinung werden Hartz IV-Bezieher mit Langzeitarbeitslosen gleichgesetzt. Auf dieser Folie kann es gelingen, Hartz IV-Bezieher gegen Geringverdienende auszuspielen. Als Guido Westerwelle im Frühjahr 2010 von »spätrömischer Dekadenz« sprach, begründete er seine Ablehnung höherer Regelsätze explizit damit, dies wäre ungerecht gegenüber Arbeitnehmern mit geringem Einkommen. Hartz IV ist jedoch ein Auffangbecken für sehr unterschiedliche materielle Notlagen. Erwerbslose sind mit 29% von allen und mit 41% der Erwerbsfähigen nur eine Minderheit unter den Leistungsbeziehern (siehe Tabelle 4). Neben »Armut trotz Arbeit« sind etwa Phasen der Erziehung oder Pflege, Krankheit und »Vorruhestand« – die alle nicht anderweitig sozialstaatlich aufgefangen werden – häufige Ursachen für den Leistungsbezug.

 

Tabelle 4: Zusammensetzung der Hartz-IV-Leistungsbezieher
(Oktober 2010)

Ausgewählte Personengruppen

absolut

in %

Leistungsbezieher insgesamt

6.537.195

100

Erwerbsfähige Leistungsbezieher

4.749.979

73

Darunter

 

 

abhängig Beschäftige

1.280.592

20

Arbeitslose

1.927.746

29

Schüler/Studierende/Auszubildende

321.408

5

Erziehende/Pflegende

330.027

5

Kranke

259.011

4

Personen im »Vorruhestand«

276.914

4

Nicht Erwerbsfähige Leistungsbezieher

1.787.216

27

darunter Kinder unter 15 Jahren

1.710.491

27

Quelle: BA: Analyse der Grundsicherung für Arbeitsuchende


Direkt oder indirekt betrifft die Höhe der Regelsätze große Teile der Wohnbevölkerung: Denn die Regelsätze bestimmen nicht nur die Lebenslage der Bezieher von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe. Sie gelten unmittelbar auch für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Sie sind zudem maßgebend bei der Prüfung, ob und in welcher Höhe Geringverdiener einen Anspruch auf den Kinderzuschlag haben. Darüber hinaus werden die Grund- und Kinderfreibeträge bei der Einkommenssteuer – das steuerfreie Existenzminimum – aus den Regelsätzen abgeleitet. Hinzu kommen gravierende Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt: Solange die Regelsätze nicht armutsfest sind, besteht ein immenser Druck, auch niedrigst entlohnte Arbeit annehmen zu müssen, um den Lebensunterhalt zu sichern. Not macht erpressbar. Diese »Armutspeitsche« hat für die Durchsetzung und Ausweitung des Niedriglohnsektors eine größere Wirkung als die Zumutbarkeitsregeln, nach denen Hartz IV-Bezieher unter Androhung von Leistungskürzungen bis hin zum vollständigen Leistungsentzug fast jede Arbeit annehmen müssen. Denn die Zumutbarkeitsregelungen entfalten »nur« dann ihre Lohn drückende Wirkung, wenn ein Stellenangebot über die Arbeitsverwaltung vermitteln wird. Dies betrifft aber nur einen geringen Anteil der Arbeitsaufnahmen aus der Arbeitslosigkeit heraus.[6]

Und schließlich wirken die niedrigen Hartz IV-Sätze als Angstmacher in die Betriebe hinein, insbesondere wenn der Abbau von Arbeitsplätzen angedroht wird. Die Sorge vor dem sozialen Abstieg im Fall von (länger anhaltender) Arbeitslosigkeit erhöht die »Konzessionsbereitschaft« der Arbeitnehmer und spielt so den Arbeitgebern in die Hände.[7]

Die Höhe des Existenzminimums, ausgedrückt in den Regelsätzen, ist quasi der Sockel der Einkommenspyramide, mit Auswirkungen auf das gesamte Lohn- und Gehaltsgefüge. Je nach konkreter Festsetzung werden darüberliegende Einkommen stabilisiert oder ins Rutschen gebracht.


Verlorene Auseinandersetzung

Die Akteure, die sich für eine deutliche Anhebung der Regelsätze stark machen, haben die aktuelle Auseinandersetzung um die Höhe des Existenzminimums verloren. Zwar gab es auch Lichtblicke: So konnten beispielsweise die Erwerbslosen-Netzwerke in Oldenburg die Demonstration »Krach schlagen statt Kohldampf schieben« mit mehr als 3.000 Teilnehmern organisieren und so zumindest einen ersten Schritt in Richtung Wiedererlangung von Protestkultur und Mobilisierungsfähigkeit gehen, die in den Jahren seit den ersten Montagsdemonstrationen weitgehend verloren gegangen waren. Und in der breit und kontrovers geführten Debatte kamen durchaus auch Befürworter deutlich höherer Leistungen zu Wort.

Es ist aber nicht gelungen, aus der Zivilgesellschaft heraus ein deutliches Signal zu senden, dass die armselige Fünf-Euro-Erhöhung der Koalition als völlig unzureichend eingestuft und nicht akzeptiert wird. Ein Grund dafür ist, dass die oben skizzierte gesellschaftspolitische Relevanz des Themas nicht ausreichend verdeutlicht werden konnte. Für viele ist die Regelsatzfrage immer noch ein Problem nur der Langzeitarbeitslosen.

Zwar lässt sich theoretisch gut begründen, warum Arbeitnehmer neben dem Interesse an gesetzlichen Mindestlöhnen auch ein vitales Interesse an armutsfesten Hartz IV-Leistungen haben (müssten). Im Alltagsbewusstsein ist die Sichtweise, »zu wenig Hartz IV ist schlecht für alle«, aber bisher nur unzureichend verankert.

Problematisch war auch der Verlauf der Debatte, die sich zunehmend auf Nebengleisen abspielte. Welches Maß an Versorgung und Ausstattung mit Gütern und Dienstleistungen sowie welches Mindestmaß an sozialer Teilhabe ist in der reichen Bundesrepublik für ein menschenwürdiges Leben zu gewähren? Welcher Geldbetrag ist dafür mindestens erforderlich?

Die­se beiden Fragen waren, ausgelöst durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit der Neufestsetzung der Regelsätze zu entscheiden. Das von Ursula von der Leyen vorgeschlagene Bildungspaket, die Chipkarte für Kinder sowie die Debatte, ob Tabak und Alkohol zum Mindestbedarf gehören, haben von den wesentlichen Fragen abgelenkt anstatt sie zu beantworten. Im zweiten Vermittlungsverfahren spielten sie schließlich kaum noch eine Rolle.

Offen bleibt die Frage, ob (etwas) höhere Regelsätze möglich gewesen wären, wenn die SPD auch das zweite Vermittlungsverfahren hätte platzen lassen. Jedenfalls wurde aus der Zivilgesellschaft heraus die Position der Oppositionsparteien nicht so gestärkt, dass diese der schwarz-gelben Koalition substanzielle Verbesserungen bei den Regelsätzen hätten abtrotzen können.

Zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens haben die Gewerkschaften stark auf den gesetzlichen Mindestlohn fokussiert. Diese Erweiterung war sachgerecht und ist m.E. in keiner Weise zu kritisieren, da Mindestlöhne und armutsfeste Regelsätze wie die zwei Seiten einer Medaille zusammengehören. Später war ein Mindestlohn für die Leiharbeit die gewerkschaftliche Hauptforderung – wohl aus der Einschätzung heraus, dass sich ein allgemeiner, flächendeckender Mindestlohn (noch) nicht durchsetzen lässt.

Schließlich konzentrierten sich die Gewerkschaften am Ende nahezu ausschließlich auf die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit – wohl aus der richtigen Erkenntnis heraus, dass Equal Pay für die Leiharbeitsbranche das passendere, weil wirksamere Instrument ist. Auch wenn diese Entwicklung der Prioritäten in sich nachvollziehbar und folgerichtig ist, so hat doch auch dieses gewerkschaftliche Agieren dazu beigetragen, dass das Thema Existenzsicherung in den Hintergrund gedrängt wurde.


Ausblick

Gewerkschaften, Sozial- und Wohlfahrtsverbände und Erwerbsloseninitiativen haben in der Auseinandersetzung um die Regelsätze kaum kooperiert, weitgehend isoliert voneinander unterschiedliche Forderungen vorgetragen und nicht zu gemeinsamen – oder zumindest abgestimmten – politischen Interventionen zusammengefunden. Dass die genannten Akteure aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen Traditionen, Ausrichtungen und sozialen Basen unterschiedliche Schwerpunkte setzten, ist verständlich und stellt auch kein unüberwindbares Hindernis für Kooperationen dar.

Denn es gibt eine ausreichend große Schnittmenge, ein gemeinsames Interesse an existenzsichernden Arbeitseinkommen und Sozialleistungen. Dieses Gemeinsame muss aber noch stärker herausgearbeitet und in gemeinsames politisches Handeln transformiert werden.
Dazu wollen die Erwerbslosen-Netzwerke einen Beitrag leisten. Neben anderen Aktivitäten, die auf eine bessere Selbstorganisation von Erwerbslosen bzw. Hartz IV-Beziehern abzielen, haben sie verabredet, alle Akteure an einen Tisch zu holen, die einen Eckregelsatz von deutlich über 400 Euro fordern.

In einem mittelfristig angelegten Prozess wollen wir ausloten, ob es möglich ist, sich auf gemeinsam getragene (Mindest-)Forderungen zum Existenzminimum zu verständigen, und ausloten, ob zukünftig gemeinsam getragene politische Interventionen möglich sind. Damit wir bei der nächsten Runde der Auseinandersetzung um das Existenzminimum besser aufgestellt sind und wirkungsmächtiger intervenieren können.

Martin Künkler ist politischer Referent der Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS).

[1] Die den Regelsätzen zugrundeliegenden Daten der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe stammen aus dem Jahr 2008. Nach dem Gesetzentwurf der Regierung sollten die Werte nur für das Jahr 2009 fortgeschrieben werden und der zweite Anpassungsschritt sollte den Leistungsberechtigten vorenthalten werden.
[2] Preisentwicklung Dezember 2004 bis Dezember 2010. Eigene Berechnungen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes. Beim regelsatzrelevanten Preisindex werden die unterschiedlichen Preisentwicklungen für einzelne Güter und Dienstleistungen entsprechend ihrem Anteil am Regelsatz abweichend vom allgemeinen Verbraucherpreisindex gewichtet.
[3] Nach bisherigem Recht mussten Mietkautionen erst nach Rückzahlung durch den Vermieter bei einem erneuten Wohnungswechsel oder nach der Beendigung des Leistungsbezugs zurückgezahlt werden. Erstattungsansprüche des Amtes gegen den Leistungsberechtigten durften nur aufgerechnet werden, wenn der Leistungsberechtigte diese durch grob fahrlässiges oder vorsätzliches Verhalten (z.B. falsche Angaben zum Einkommen) verursacht hatte.
[4] Es werden nur Ausgaben herausgerechnet, die bei Hartz IV-Beziehern gar nicht anfallen (z.B. GEZ-Gebühren) oder über andere, zusätzliche Leistungen abgedeckt sind (z.B. Wohnkosten).
[5] Vgl. DIW-Wochenbericht 7/2010.
[6] Im Laufe des Jahres 2010 konnten 3,2 Mio. Personen aus der Arbeitslosigkeit heraus eine abhängige Beschäftigung aufnehmen. Nur 930.000 bzw. 29% der Arbeitsaufnahmen erfolgten nach einem Stellenangebot durch die Arbeitsagenturen und Jobcenter. BA Monatsbericht 12/2010.
[7] Hartz IV wirkt auch im Aufschwung und bei günstiger Arbeitsmarktentwicklung als Angstrohstoff. Denn gegen den Trend wird auch in diesen Zeiten in einzelnen Betrieben und Sektoren massiv entlassen. So ging im Jahr 2010 die registrierte Arbeitslosigkeit deutlich zurück und die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Stellen stieg um fast 500.000. Trotzdem verloren im Laufe des Jahres 2,9 Mio. Menschen ihren Arbeitsplatz und mussten sich arbeitslos melden. BA Monatsbericht 12/2010.

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