23. Februar 2021 Holger Politt: Rosa Luxemburgs polnisches Werk – eine Fundgrube nicht gehobener Schätze

Heraus aus dem Schattendasein

Rosa Luxemburgs Werk mutet auch 150 Jahre nach ihrer Geburt wie ein Paar ungleicher Schuhe an. Der eine, dem Umfang und Bekanntheitsgrad nach ohnehin der stärkere Teil, glänzt und ist überhaupt durch und durch in einem gepflegten Zustand, steht sozusagen im besten Saft, die Spuren der Zeit können ihm wenig anhaben.

Der andere hingen wirkt wie das Gegenteil, denn hier hat der Zahn der Zeit ganze Arbeit geleistet. Wäre nicht das glänzende Pendant nebenan, käme kaum jemand auf den Gedanken, sich diesen Schuh noch anzuziehen. Er wäre längst vergessen, gewissermaßen mit dem aufgedruckten Stempel entsorgt, hier habe jemand sich gründlich beim Maßnehmen verhoben. Er wäre nur noch ein Fall für den Historiker, der ohnehin gewöhnt ist, sich durch staubiges, zerfallendes Material durchzuwühlen. Wer heute Rosa Luxemburgs Werk von dieser Seite aus betrachtet, kann außerdem schneller und ungenierter behaupten, es gehöre längst auf den Müllhaufen der Geschichte, wie Regierungskreise in Polen es heute tun. Der empörte Widerspruch der anderen Seite ficht dann kaum mehr an, ist von dort her die eigene Seite des ungleichen Paares kaum noch auszumachen.

Tatsächlich hat Rosa Luxemburg in verschiedenen Sprachen geschrieben, über zwei Drittel des Gesamtwerks in Deutsch, das andere Drittel in anderen Sprachen, wobei der Löwenanteil den polnischen Arbeiten gehört. Die in Französisch, Italienisch und Russisch geschriebenen oder erstveröffentlichten Texte lassen sich leicht an einer Hand abzählen. Wer sich dem Werk heute nähert, hat es also mit zwei, zunächst sprachlich unterschiedenen Teilen zu tun. Selbst ein nur oberflächlicher Blick verrät schnell, dass der deutsch geschriebene Teil in der Rezeption und in den biografischen Arbeiten nicht nur dominierend ist, sondern den kleineren polnischen Teil gleichsam erdrückt. Mitunter wirkt dieser nämlich nur noch wie eine Art Anhängsel, auf das stillschweigend verzichtet oder das nur am Rande mit abgehandelt werden darf. Wer den deutschen Teil erfasst zu haben glaubt, der stürmt gerne schnell los, so als hätte er nun die ganze Rosa Luxemburg bereits in der Westentasche. Und um ganz sicher zu gehen, wird dann noch uneingestanden ein Riegel vorgeschoben, denn im polnischen Werk habe sich Rosa Luxemburg nahezu ausschließlich mit der polnischen oder erweitert mit der nationalen Frage herumgeplagt – und habe sich hierin, wie bis heute von einigen zu hören ist, weitgehend geirrt.

Rosa Luxemburgs polnisches Werk ist bis heute ein verstreutes. Erst mühsam müsste es immer noch zusammengesucht werden, um es gesammelt zu veröffentlichen.

Holger Politt ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau. 2020 gab er, zusammen mit Krzysztof Pilawski, bei VSA: den Band: »Rosa Luxemburg: Spurensuche. Dokumente und Zeugnisse einer jüdischen Familie« heraus, 2016 erschien von beiden Autoren bei VSA: »Polens Rolle rückwärts. Der Aufstieg der Nationalkonservativen und die Perspektiven der Linken«. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der Autor bereitet derzeit für die Ausgabe der »Gesammelten Werke« Rosa Luxemburgs im Karl Dietz Verlag den Band polnischer Schriften von 1892 bis 1904 vor, der im Winter 2021/22 erscheinen soll.

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