26. Mai 2023 Erhard Korn: Zur Diskussion um Wolfgang Koeppens »Tauben im Gras«

Hilfloser Antirassismus?

Wolfgang Koeppens Roman »Tauben im Gras«, vorgesehen als Lektüre für Abi­turienten an beruflichen Gymnasien in Baden-Württemberg, löste in den deutschsprachigen Ländern eine Debatte darüber aus, ob er in der Schule überhaupt gelesen werden dürfe.

Ausgerechnet das Hauptwerk des »poetische(n) Sachwalter(s) aller Minderheiten – von den Juden bis zu den Homosexuellen«, zugewandt stets den »Einzelgängern, den Nichtdazugehörenden, den Beleidigten, den Verfolgten und den Gezeichneten« (Reich-Ranicki 1999: 504), wird mit dem Rassismusvorwurf konfrontiert.

Wie in anderen Bundesländern wird der Roman »Tauben im Gras« in Baden-Württemberg als Abiturlektüre eingesetzt und dabei der dargestellte Rassismus im Unterricht thematisiert. (Reisner 2013: 97) Gegen die Lektüre wandte sich nun die junge farbige Gymnasiallehrerin Jasmin Blunt, die nachgezählt hat, wie oft das N-Wort verwendet wird. Indem rassistische Begriffe, in diesem Fall »das N-Wort«, Eingang in den Unterricht fänden, würden schwarze Schüler*innen und Lehrerkräfte rassistischer Diskriminierung ausgesetzt.

Theodor W. Adorno, der sich verantwortlich sah für »das meist diskutierte amerikanische Buch zur Erkenntnis des Rassevorurteils«,[1] wollte »die Neger gegen ihre Entwürdigung verteidigen«. (in Behrendt/Adorno 1953) Wenn »das N-Wort in der Schule nichts verloren« hat, wie die taz am 28.3.2023 in der Debatte zum Koeppen-Roman verordnet, müsste dann nicht auch Adorno von den Hochschulen verbannt werden? Oder hätte Salman Rushdie Recht, der am 22. Mai dieses Jahres bei der Verleihung des British Book Awards vor der Bereinigung historischer Bücher von als anstößig empfundenen Begriffen und der alarmierenden Bedrohung der Meinungsfreiheit durch Druck weltanschaulicher Gruppen auf Schulen warnte?

Eine inzwischen von 12.000 Personen unterstützte Petition an das Kultusministerium fordert, dass der Roman aus dem »Pflichtlektürekanon des Bundeslandes Baden-Württemberg und in der Folge aus allen Curricula der Bundesländer entfernt wird«. (https://innn.it/BildungOhneRassismus) Kultusministerin Theresa Schopper hat nun angekündigt, dass künftig eine zusätzliche Pflichtlektüre angeboten werden soll und jede Schule dann selbst entscheiden könne, welches Buch verwendet wird.


Die große Literaturverschwörung und die neue Unübersichtlichkeit

Gleichzeitig wirft Günter Scholdt (2023) in der »Sezession«, dem intellektuellen Flaggschiff des rechten AfD-Flügels um Björn Höcke, Koeppen gerade seinen Antirassismus und die immer penetrantere NS-Bewältigung vor.

Erhard Korn war bis zu seiner Pensionierung Rektor der Blankensteinschule Steinheim an der Murr. Er ist aktiv in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Baden-Württemberg und der Rosa Luxemburg Stiftung. Zuletzt schrieb er in Heft 10/2022 »Der Marsch auf Rom. Vor 100 Jahren etablierte Mussolini seine Diktatur«.

[1] Adorno meint die berühmte und 1950 veröffentlichte Studie »The authoritarian Personality«

Die komplette Leseprobe als pdf-Datei!

Zurück