1. März 2007 Mario Keßler

Historiker der Russischen Revolution

Am 3. April 2007 jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag des Historikers Isaac Deutscher, der als Biograph Stalins und Trotzkis berühmt wurde. Deutscher übertrug die marxistische Kritik an der stalinistischen Sowjetunion auf das Gebiet der Geschichtswissenschaft.

Zugleich erhob er die Analyse der Oktoberrevolution und ihrer Folgen in Form der biographischen Darstellung zu einer eigenständigen literarischen Gattung. Er starb am 19. August 1967 in Rom.[1] Deutschers Name ist heute durchaus über den Kreis der Spezialisten präsent. Die jüngere Leserschaft aber hat nur noch selten eines seiner Werke zur Hand. Dies gilt besonders für Deutschland, wo die Stalin-Biographie zuletzt 1997 erschien, das Werk über Trotzki aber seit 1972 nicht mehr aufgelegt wurde. In England hingegen erfuhr diese Trilogie kürzlich eine Neuauflage. Die Rezensionen würdigten den literarischen Wert von Deutschers Büchern, während seine enthusiastische Hoffnung auf eine sozialistische Demokratisierung der Sowjetunion scheinbar nur noch antiquarischen Wert hat. Wer war Isaac Deutscher, worin liegt seine Bedeutung für eine Gegenwart, die sich von seiner Zeit grundlegend unterscheidet?

Als Journalist in Polen und England

Isaac Deutscher wurde in Chrzanów unweit von Kraków geboren. Sein Vater besaß eine Druckerei. Er erzog Deutscher und seine Schwester nach den Geboten der jüdischen Religion. Der junge Isaac besuchte die jüdische Schule. "War die dort gelehrte Art der scholastischen Debatte von irgendeinem Nutzen?", fragte er später. "War es vielleicht eine frühe Übung in erfolgreicher polemischer Disputation?" Nein: "Dieses Pseudowissen", so Deutscher kategorisch, habe sein Gedächtnis verwirrt und überspannt; "es hielt mich vom wirklichen Leben, vom wirklichen Lernen und vom wirklichen Wissen über meine Umwelt ab."[2]

Als Vierzehnjähriger wandte sich Deutscher – gegen den erbitterten Widerstand seines Vaters – von der Religion ab. Er suchte die Grenzen des Judentums zu überschreiten, ohne aber das kulturelle Erbe der Ostjuden zu verleugnen. Seitdem bezeichnete er sich als "nichtjüdischen Juden" im Geist der jüdischen "Rebellen" von Spinoza und Heine bis Rosa Luxemburg und Trotzki. Sie alle, so Deutscher, hätten "als Juden an der Grenze zwischen unterschiedlichen Zivilisationen, Religionen und nationalen Kulturen gelebt ... Jeder von ihnen gehörte zur Gesellschaft und doch wieder nicht, war ein Teil von ihr und wiederum nicht. Dieser Zustand hat sie befähigt, sich in ihrem Denken über ihre Gesellschaft, ihre Nation, über ihre Zeit und Generation zu erheben, neue Horizonte geistig zu erschließen und weit in die Zukunft vorzustoßen."[3] 1924 schloss sich Deutscher der Sozialistischen Partei (PPS) an. Zwei Jahre später verließ er sie allerdings und trat der Kommunistischen Partei Polens bei, für deren Presse der gelernte Buchdrucker nun schrieb. 1931 fuhr er erstmals in die Sowjetunion, aus der er ernüchtert zurückkehrte. Die Unterdrückung kritischer Meinungen weckte sein Interesse für die von Stalin geschlagene, doch noch nicht vernichtete Linksopposition um Leo Trotzki. Als dessen Anhänger wurde Deutscher 1932 aus der KP Polens ausgeschlossen. Fortan schrieb er wieder für sozialdemokratische Blätter. Er war Wortführer einer kleinen antistalinistischen Gruppe, der Bolschewiki-Leninisten, die die Moskauer Prozesse brandmarkte, zur Einheit mit der nichtkommunistischen Linken aufrief und eine kritische Solidarität mit Trotzki zeigte, allerdings nicht dessen kleiner Vierter Internationale beitrat. Zur Gruppe gehörten auch die Journalisten Bernard Singer und Hersz Mendel sowie der spätere Literatursoziologe Jan Kott.

Beim deutschen Überfall auf Polen im September 1939 befand sich Deutscher durch einen lebensrettenden Zufall in London, das ihm zur neuen Heimstatt wurde. Seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet, seiner Schwester gelang die Flucht nach Palästina.

In England fasste Deutscher rasch Fuß. Schon bald mit den Feinheiten der Sprache vertraut, arbeitete er für verschiedene renommierte Blätter, so für den Economist, den Observer, die Tribune und den Manchester Guardian. Nach Kriegsende suchte er seine Erkenntnisse in eine dauerhaftere Form zu bringen und wandte sich der Geschichtsschreibung zu, ohne den Journalismus aufzugeben. Dabei fand er die Unterstützung durch seine gleichfalls aus Polen stammende Frau Tamara (1913-1990).

Der Biograph Stalins und Trotzkis

Im Zentrum von Deutschers Werk stand die Geschichte der Russischen Revolution, besonders die Biographien von Stalin und Trotzki. Ein Buch über Lenin blieb unvollendet. In seiner 1949 noch zu Lebzeiten des Diktators erschienenen Stalin-Biographie wollte Deutscher "die ganze Vielfalt des Charakters" seiner Hauptfigur zeigen und porträtierte Stalin "von vorn als einen Nachkommen Lenins und im Profil als Nachfahren Iwans des Schrecklichen". Deutscher suchte Stalin in eine kritische Perspektive zu rücken, doch aus den aktuellen Kontroversen der Nachkriegsjahre herauszuhalten. "Ich war nie dem Stalinkult verfallen gewesen und der Kalte Krieg war nicht mein Krieg", konnte er schreiben. Aber er wollte sich nicht mit Stalin als dem Unvermeidbaren aussöhnen: "Die stolzesten Augenblicke in der Geschichte der Menschheit sind die, in denen gegen das Unvermeidliche angekämpft wird."[4] Diese Haltung lag auch der Trotzki-Biographie zugrunde, deren drei Bände zwischen 1954 und 1963 herauskamen.

Sie zeigen Trotzki als "die repräsentative Figur des prästalinistischen und Vorläufer des nachstalinistischen Kommunismus". Dennoch meinte Deutscher nicht, "daß die Zukunft des Kommunismus im Trotzkismus liegt. Ich möchte glauben, daß die geschichtliche Entwicklung sowohl über den Stalinismus als auch den Trotzkismus hinausschreitet und einer größeren Weite zustrebt, als sie beiden eigen ist."[5]

Die Trotzki-Biographie war ein eminent politisches Werk, das von den Auseinandersetzungen seiner Zeit geprägt war. Nur wenige Geschichtswerke hatten so heiße Kontroversen hervorgerufen wie diese drei Bände, nur wenige wurden in den 1950er und 1960er Jahren häufiger zitiert, nur wenige aber sind scheinbar so unzeitgemäß geworden wie dieses. Seit die ideologischen Kämpfe um Sinn oder Widersinn einer Reform des Sowjetreiches aus der Arena der Politik in das Schattenreich nostalgischer oder schaurig-beklemmender Erinnerungskulturen verwiesen wurden, gilt Trotzki auch vielen Linken nicht mehr als Alternative zu Stalin. Trotzkis Bild ist jenem ähnlich, das die westliche Öffentlichkeit hatte, bevor Deutschers Bücher erschienen: Der einstige zweite Mann hinter Lenin gilt vielen als ein Wegbereiter des Terrors, beinahe gleichzusetzen mit seinem siegreichen Rivalen.

Diesem Bild der bürgerlichen und sozialdemokratischen Historiographie wollte Deutscher entgegentreten. Zugleich war seine Trotzki-Trilogie die schärfste Kampfansage an die offizielle sowjetische Geschichtspolitik. "Beinahe dreißig Jahre lang arbeitete der stalinistische Propagandaapparat wie besessen, um den Namen Trotzkis aus den Annalen der Revolution zu löschen oder um ihn gleichlautend mit dem eines Erzverräters zu verewigen."[6]

Dass ein einzelner Forscher das Trotzki-Bild einer ganzen politisch aufgewühlten Generation mitprägen konnte, lässt allein schon Rückschlüsse auf die Qualität des Werkes zu. Viele Erkenntnisse, die Deutscher zutage förderte, sind inzwischen so sehr Allgemeingut des kollektiven Geschichtsbewusstseins geworden, dass kaum erinnert wird, auf wen sie zurückgehen. Dazu gehören zwingende Einsichten in den widersprüchlichen Verlauf der Russischen Revolution. Deutscher sagte seinen Zeitgenossen eindringlich, warum die bolschewistische Herrschaft nach ihrem Sieg schon den Keim eines schweren Konfliktes in sich trug: Nicht die politischen Unzulänglichkeiten oder charakterlichen Mängel ihrer Führer seien für den Niedergang der Utopie verantwortlich, obwohl Deutscher die Fehlentscheidungen der dramatis personae einprägsam vor Augen führte. Es war vielmehr der wirtschaftliche Zusammenbruch des Landes, der die Revolution überhaupt möglich und schließlich unabwendbar machte, aber den Verfallsprozess beschleunigte, der die Spirale von Gewalt, Terror und Gegenterror des Bürgerkriegs hervorrief. In diesem Bürgerkrieg siegten die Bolschewiki und Trotzki.

Was aber Deutscher als Trotzkis "Niederlage im Sieg" sichtbar machte, galt für die gesamte Linke: Ihre politische Basis schrumpfte in dem Maße zusammen, in dem die Arbeiterklasse aufgerieben und auf ein Zehntel ihrer Vorkriegszahl zusammenschmolz. Die Rekonstruktion der industriellen Basis des Landes war durch demokratische Mehrheitsentscheidungen nicht herbeizuführen. Als die Partei diktatorische Maßnahmen ergriff, um das Wirtschaftsleben in Gang zu setzen, musste sie auch die innerparteiliche Kritik zum Schweigen bringen. Deutscher sah mit Recht den Kronstädter Aufstand und das zeitgleiche Verbot der Fraktionsbildung innerhalb der Partei 1921 als Ausdruck dieses Dilemmas.

Das Dilemma war unlösbar. Eine Rettung erhofften viele Bolschewiki von einer Revolution im Westen, vor allem in Deutschland. Eine deutsche Revolution würde den cordon sanitaire sprengen, den die bürgerliche Welt um Russland gelegt hatte. Niemand verkörperte diese Hoffnung stärker als Trotzki, der Künder der "permanenten Revolution". Die Niederlage der Revolution im Westen trug zu Trotzkis Niederlage bei.

Gelebter Internationalismus: Deutschers Vermächtnis

Isaac Deutscher hoffte auf eine grundlegende Demokratisierung der Sowjetunion. Seine Hoffnungen und Besorgnisse fanden Ausdruck in einer Reihe von Monographien und Essaysammlungen, so in der postum 1968 erschienenen Aufsatzreihe über Israel, den Antisemitismus und den Zionismus, die 1977 als Die ungelöste Judenfrage auch auf Deutsch publiziert wurde. Deutschers Witwe Tamara veröffentlichte weitere Werke aus dem Nachlass, die in der Bundesrepublik große Beachtung fanden, darunter 1970 die Aufsatzsammlung Russia, China, and the West 1953-1966.[7]

Dies gilt besonders für seine Reportagen aus Nachkriegsdeutschland, hauptsächlich eine Sammlung von Berichten Deutschers, die dieser als Korrespondent des Observer und des Economist ab 1945 verfasst hatte. Deutscher schilderte die Nachwirkungen von Krieg und Naziherrschaft für das Bewusstsein der Menschen, setzte sich kritisch mit der Politik der Besatzungsmächte auseinander, die den Kalten Krieg auf ihre jeweilige Zone übertrugen, und benannte die Schwierigkeiten für die Neukonstituierung der deutschen Arbeiterbewegung.

Ein aktueller Aspekt war der Aufstieg der NPD, den Deutscher voller Besorgnis wahrnahm. Am 23. Juli 1967, knapp einen Monat vor seinem plötzlichen Tod, setzte er sich in einem NDR-Fernsehinterview mit diesem Problem auseinander und sagte: "Wahrscheinlich ist die Gefahr nicht unmittelbar,... Geschichte wiederholt sich in so unkomplizierter Weise nie. Generäle, so sagt man, möchten in jedem Krieg die Schlachten des vorherigen Krieges neu ausfechten. Etwas Ähnliches geschieht auch in der Politik; man stellt sich neue Gefahren in einer früheren Gestalt vor. Aber die Wellen des Nationalismus, der Reaktion, der Gegen-Revolution nehmen immer neue Formen an. In den Jahren der Weimarer Republik dachten die meisten Leute der Linken, dass die Demokratie in Deutschland von der Restauration der Hohenzollern und des alten Reiches bedroht war. Hitlers Partei war aber republikanisch und nannte sich sogar 'sozialistisch'. Die neue Welle der autoritären Reaktion und des Nationalismus,... wird sich wahrscheinlich in so manchen Zügen vom Nationalsozialismus unterscheiden."[8]

Die Tatsache, dass Deutschland niemals eine Revolution durchgekämpft hat, dass, von der Reformation bis zur Novemberrevolution, stets ein Kompromiss zuungunsten der aufstrebenden Klassenkräfte entstanden war, habe zum Fortdauern vorrevolutionären, vordemokratischen Denkens geführt. Auch die 1945 im Osten durch die Rote Armee bewirkten sozialen Veränderungen seien eher eine Ersatzrevolution, denn eine echte Revolution gewesen. Zudem sei die Frage der Einheit Deutschlands noch immer ungelöst, und das eröffne dem neuen Nationalismus Chancen.

Dies war Deutschers Grundgedanke, der für das Nachdenken über die Perspektiven des Sozialismus wichtig bleibt: Nur durch eine Revolution von unten, die den Weg für einen demokratischen Sozialismus bahnt, kann der Nationalismus überwunden werden. In diesem Sinne blieb für Deutscher die durch den russischen Oktober 1917 eingeleitete Entwicklung eine unvollendete Revolution, wie der Titel seines letzten Buches lautete. Die Sozialisierung der Produktionsmittel sei nur ein erster, notwendiger Schritt, schrieb Deutscher darin. Die Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen verlange aber eine Demokratisierung aller sozialen Beziehungen und Beseitigung aller Privilegien. Eine solche Entwicklung sei nicht auf einen Teil Europas oder gar Deutschlands begrenzt: "Sie kann, wenn überhaupt, nur als ein wirklich internationales Ereignis, als ein Faktum der Universalgeschichte eintreten."[9] Es versteht sich, dass Deutscher sowohl zur Solidarität mit Israel aufrief, wie dessen Politik scharf kritisierte. Seine Hoffnung auf eine künftige sozialistische Nahost-Föderation sollte sich jedoch nicht erfüllen.

Isaac Deutscher, der die englische Sprache erst mit 32 Jahren erlernte, verband in ihr historische Detailtreue mit literarischer Meisterschaft, die Suche nach Objektivität mit dem marxistischen Verständnis von gesellschaftlichen Wandlungen. Die sozialistische Revolution sei "nicht die Weltsymphonie, die einige der großen Revolutionäre erhofft hatten. Sie ist auch nicht das bunte Gemisch unharmonischer Solos, die Kakophonie, die die Philister hören. Sie ist vielmehr die große Fuge, in der sich die Stimmen der Völker, jedes mit seinen eigenen Hoffnungen und Enttäuschungen, nacheinander hören lassen."[10]

Mario Keßler arbeitet am Zentrum für Zeithistorische Forschung und unterrichtet an der Universität Potsdam.

[1] Zur Biographie vgl. L. Syré, Isaac Deutscher, Marxist, Publizist, Historiker. Sein Leben und Werk 1907-1967, Hamburg 1984, und M. Jones/A. Mitchell, Isaac Deutscher, Ketzer des Kommunismus und Trotzkismus, in: Th. Bergmann/M. Keßler (Hrsg.), Ketzer im Kommunismus. 23 biographische Essays, Hamburg 2003, S. 361-382.
[2] I. Deutscher, The Non-Jewish Jew and Other Essays, London 1981, S. 7.
[3] I. Deutscher, Die ungelöste Judenfrage. Zur Dialektik von Antisemitismus und Zionismus, Berlin 1977, S. 9.
[4] I. Deutscher, Stalin. Eine politische Biographie, Berlin 1990, S. 9f.
[5] I. Deutscher, Trotzki, Bd. 2, Stuttgart 1972, S. 11.
[6] Ebenda.
[7] Deutsch (gekürzt): Zwischen den Blöcken. Der Westen und die UdSSR nach Stalin, Hamburg 1982.
[8] I. Deutscher, Reportagen aus Nachkriegsdeutschland, Hamburg 1980, S. 222.
[9] I. Deutscher, Die unvollendete Revolution, Frankfurt a.M. 1970, S. 86.
[10] Ebenda, S. 22.

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