1. Februar 2002 Bernd Riexinger

Hohe Lohnabschlüsse sind für Dienstleistungsbranchen besonders wichtig

Vorreiter der diesjährigen Tarifrunde ist zweifellos die IG Metall. Verlauf und Abschluss in der Metallindustrie haben jedoch eine wichtige Signalwirkung für die anderen Branchen, besonders für diejenigen im Dienstleistungsgewerbe.

Man braucht die Argumente für einen hohen Tarifabschluss mit deutlicher Reallohnsteigerung in der Zeitschrift Sozialismus nicht ständig wiederholen. Die stagnierende Lohn- und Gehaltsentwicklung der letzten 15 Jahre hat im so genannten Niedriglohnbereich heftige Spuren hinterlassen und den Spielraum für eine nachholende Lohnentwicklung deutlich eingeengt. 2-3% Lohn- oder Gehaltserhöhung sind eben auf ein Facharbeitergehalt von 2.500 oder 3.000 Euro mehr als auf ein Verkäuferinnengehalt von 1500 oder 1700 Euro. Die Schere zwischen den verschiedenen Verdiensten hat sich in den letzten Jahren weiter geöffnet. Dies betrifft bei weitem nicht nur die Beschäftigten im Einzelhandel – auch bei der Post und im öffentlichen Dienst sind die Verdienste in breiten Teilen der Belegschaften nicht im oberen Bereich angesiedelt. In Stuttgart z.B. gelingt es der Stadtverwaltung nicht einmal, alle offenen Stellen im Bereich der Erzieherinnen zu besetzen, weil es im teuren Ballungsraum kaum möglich ist, mit 1250 Euro netto anständig zu leben.

Insbesondere zum Organisationsbereich der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di gehören viele Branchen, die dem so genannten Niedriglohnsektor angehören. Dazu zählt der Einzel- und Großhandel. Die Vorlage der IG Metall wird entscheidend, denn in diesen Branchen sieht es wirtschaftlich deutlich schlechter aus als in der Metallindustrie. ver.di wird dort heftig kämpfen müssen, um eine deutliche Reallohnsteigerung durchzusetzen.

Insbesondere die Beschäftigten in den unteren Lohn- und Gehaltsbereichen brauchen dringend eine spürbare Reallohnsteigerung, wenn sie in ihrem Lebensniveau nicht weiter absinken wollen. Die derzeit von der Regierung und insbesondere von den Grünen losgetretene Diskussion um den Kombilohn konterkarriert die dringend notwendige Offensive um ein Lohnniveau, das eine eigenständige Lebensführung ermöglicht. Es soll der Eindruck erweckt werden, dass eine Absenkung des Lohn- und Gehaltsniveaus (beim Kombilohn durch staatliche Zuschüsse) neue Arbeitsplätze schafft. Dabei ist der Kombilohn nur das Einfallstor, den längst vorhandenen Niedriglohnsektor auszudehnen und die Ideologie »Hauptsache Arbeit« hoffähig zu machen. Jede(r) weiß, dass das Mainzer Modell des Kombilohnes kein Renner war. Es wurden in kaum nennenswertem Umfang Arbeitsplätze geschaffen und die Frage der Mitnahmeeffekte ist zumindestens offen. Eine bundesweite Ausdehnung soll 30.000 Arbeitsplätze schaffen. Selbst wenn diese Zahl stimmen sollte, kann von einem wirkungsvollen Instrument gegen die Massenarbeitslosigkeit kaum gesprochen werden. Überlegungen aus dem Arbeitsministerium, das Arbeitslosengeld weiter abzusenken, zeigen wohin die Reise gehen kann. Die Absenkung des Arbeitslosengeldes, der Arbeitslosenhilfe oder der Sozialhilfe erhöhen den Zwang, jede noch so schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen. Es ist keine neue Erfahrung, dass die Kürzung von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe immer auch auf die Löhne zielt. Auf diesem Weg soll der Druck auf die unteren Lohn- und Gehaltsbereiche verstärkt werden.

Insofern geht die Kehrtwende des DGB-Vorsitzenden bei den Kombilöhnen in die völlig falsche Richtung und die Aussage, dass der DGB alle Maßnahmen unterstützt, die Arbeitsplätze schaffen, ist – vorsichtig ausgedrückt – naiv. Es entstehen keine neuen Arbeitsplätze, aber die Gewerkschaften befördern damit (vielleicht unbewusst), dass die These, Arbeit sei zu teuer und ihre Verbilligung schaffe neue Arbeitsplätze, ohne großen Widerstand ins öffentliche Bewusstsein dringt. Gerade die Beschäftigten im Handel, die ohnehin am Ende der Gehaltsskala stehen, machen seit Jahren die Erfahrung, dass ihre Arbeitsplätze keinesfalls sicher sind. Fast jedes Jahr werden 30.000 Arbeitsplätze vernichtet. Deshalb ist eine Kampagne gegen die Ausdehnung und für die Eindämmung des Niedriglohnbereiches notwendig. Auch im öffentlichen Dienst nimmt der Druck auf die Löhne durch Ausgliederungen und Privatisierung wachsender Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge zu und auch hier sind in besonderem Maße die Beschäftigten in unteren Gehaltsgruppen betroffen – ob im Logistikbereich der Krankenhäuser, beim Reinigungspersonal oder beim ÖPNV. Die Flucht aus dem BAT führt zur Absenkung der Löhne und Gehälter, in erster Linie in den unteren Einkommensbereichen. Auch viele in den Schubladen liegende Spartentarifverträge, die in Verbindung mit dem geforderten Vergabegesetz verhandelt wurden, sehen Absenkungen für einen Teil der neu Einzustellenden vor.

Natürlich können diese Entwicklungen nicht durch eine Lohnrunde aufgehalten werden. Aber eine offensive Lohn- und Gehaltsrunde kann eine Trendwende einleiten und die Spielräume für eine egalitärere Tarifpolitik erweitern.

Deshalb ist es zu begrüßen, dass die IG Metall-Bezirke die Vorstandsempfehlung nach einer Tarifforderung zwischen 5 und 7% in den oberen Bereich gerückt haben. Dass der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske diese Forderung begrüßt und der ver.di-Vorstand für die Postdienste die deckungsgleiche Empfehlung ausgesprochen hat, ist positiv. Ein hoher Tarifabschluss in der Metallindustrie, vielleicht sogar mit einem Arbeitskampf durchgesetzt, wäre zugleich ein Signal für eine alternative Politik im Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit, gegen die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme und damit gegen die zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft.

Dabei können wir mit Sicherheit nicht davon ausgehen, dass ein hoher Lohnabschluß (vorausgesetzt es gibt ihn) in den ver.di-Branchen (Handel, Finanzdienstleistungen, Druck-Industrie, usw.) einfach von der Kapitalseite nachvollzogen wird. Sie wird vielmehr mit allen Mitteln, selbst in der Finanzdienstleistungsbranche, versuchen, Abschlüsse unterhalb des Metallniveaus durchzusetzen. Das gilt in noch stärkerem Maße für den öffentlichen Dienst, der erst im Herbst mit Tarifverhandlungen dran ist. Deshalb müssen sich die ver.di-Tarifbereiche darauf einstellen, dass sie im Geleitzug der IGM für ihre Tarifforderungen kämpfen müssen.

Tarifauseinandersetzungen sind immer auch gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Niemand hat das besser begriffen als das Kapital und seine Verbände. Deshalb bauen sie heute schon ein Horrorszenario auf, wenn es zu Tarifabschlüssen oberhalb des Produktivitätszuwachses kommen sollte. Sie versuchen den Gewerkschaften die Verantwortung für die wieder wachsenden Arbeitslosenzahlen zuzuschieben und den öffentlichen Druck zu verstärken. Das Bündnis für Arbeit soll – wie bereits vor zwei Jahren – dazu genutzt werden, die Gewerkschaften auf moderate Tarifabschlüsse ggf. mit vermeintlich »innovativen« Elementen wie ertragsabhängige Entlohnung zu verpflichten. In der Vergangenheit war das Bündnis immer ein Forum gewesen, das unter dem Etikett einer »beschäftigungsorientierten Verteilungspolitik« Lohnzurückhaltung auf Kosten der Beschäftigung propagiert hat – wodurch die politische Defensive der Gewerkschaften verstärkt wurde. Die Gewerkschaften müssen dem nicht nur widerstehen, sondern rechtzeitig aus der argumentativen Defensive herauskommen. Dabei muss die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und die Bekämpfung der gesellschaftlichen Armut im Mittelpunkt stehen. Lohnverzicht schafft keine Arbeitsplätze – gerade im Konjunkturabschwung muss mit der Stärkung der Kaufkraft gegengesteuert werden. Auch die Veröffentlichung internationaler Vergleiche, die zeigen, dass die permanente Senkung der Lohnstückkosten (im Verhältnis zu den meisten europäischen Industrieländern) zwar die deutsche Exportposition verbessert, aber weder zum Abbau der Arbeitslosigkeit beiträgt, noch das Lebensniveau der Menschen verbessert, kann hilfreich für die Verankerung gewerkschaftlicher Positionen sein.

Das Herauskommen aus der Defensive beginnt in den Köpfen der Gewerkschaftsmitglieder und Beschäftigten. Die Diskussion in vielen Betrieben um die Forderungen zeigt zumindest, dass es (noch) keine weit verbreitete Verzichtsmentalität gibt. Die Kolleginnen und Kollegen haben die Erfahrung gemacht, dass die geringen Lohn- und Gehaltsabschlüsse der letzten Jahren keine Arbeitsplätze geschaffen haben. Auf diese Erfahrung kann durch fundierte und schlüssige Aufklärung aufgebaut und die Mobilisierung für die Tarifauseinandersetzungen vorbereitet werden.

Bernd Riexinger ist Gewerkschaftssekretär von ver.di in Stuttgart.

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