25. September 2018 Sybille Stamm: Zum 80. Geburtstag von Detlef Hensche

»Ich verließ meine Klasse und gesellte mich zu den einfachen Leuten« (Bertolt Brecht)

Detlef Hensche, ehemaliger Gewerkschaftsvorsitzender der IG Medien und Wegbereiter der Fusion von fünf Gewerkschaften zur Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, war ein Glücksfall für die Arbeiterbewegung.

Humanistisch gebildet, ein exzellenter linker Analytiker der gesellschaftlichen Verhältnisse, bescheiden und immer ganz nah bei den Mitgliedern.

Was das heißt, wird exemplarisch an der frühen Einordnung der Mitbestimmungsfrage deutlich. Als Leiter der Abteilung Gesellschaftspolitik im DGB unter der Ägide von Heinz Oskar Vetter erschien 1974 das Referentenmaterial »Mitbestimmung jetzt und keine halben Sachen« – eine wertvolle argumentative Unterstützung für die Mitbestimmungsforderungen des DGB. Gleichzeitig warnte Hensche jedoch, die daraus erwachsenden Einflussmöglichkeiten der Arbeiterbewegung zu überschätzen, Mitbestimmung bereits als Nachweis der Demokratisierung der Wirtschaft zu erachten und Kapitalismuskritik zu kurz kommen zu lassen. Deshalb, so Hensche, sollten wir »uns vor der Illusion hüten, mit Hilfe der Mitbestimmung alles lösen zu können. Die Mitbestimmung ist kein Allheilmittel. Preissenkungen, Umweltschutz, die Produktion gesellschaftlich notwendiger statt überflüssiger Güter usw. – dies alles wird sich nur in Ausnahmefällen durch Mitbestimmung durchsetzen lassen. Hierfür brauchen wir noch andere Mittel gesellschaftlicher und zwar demokratischer Kontrolle… Die Mitbestimmung in den Unternehmen jedenfalls ist nicht dazu geeignet und bestimmt, den Frieden mit dem Kapitalismus einzuläuten.« (Referentenmaterial, S. VIII.)

Als Detlef Hensche Vorsitzender der IG Medien wurde, bat er darum, die Zuständigkeit Tarifpolitik behalten zu können, obwohl diese traditionell nicht im Verantwortungsbereich des Vorsitzenden angesiedelt war. Hensche liebte die Tarifpolitik. Vielleicht, weil der Klassengegensatz im Arbeitskampf, aber auch in Tarifverhandlungen sinnlich greifbar ist. Die Arbeitgeber fürchteten seine Argumentationsmacht, seine Unbestechlichkeit, seine strategische Klugheit, seine intellektuelle Überlegenheit, die er höflich zu verbergen suchte – was selten gelang. Auf eine widersprüchliche Weise verehrten sie ihn auch. Er achtete den Gegner, beschimpfte ihn nie, war jedoch unerbittlich, wenn es um die Sache der Beschäftigten ging.

Die Tarifpolitik der IG Druck und Papier und der IG Medien war kämpferisch und erfolgreich – meistens. Wenn es einmal nicht so war, wie 1994, als die Drucker*innen einen neuen Manteltarifvertrag voller guter Ideen streikweise durchzusetzen versuchten, die Kraft dafür jedoch nicht reichte und der alte MTV wieder in Kraft gesetzt wurde, redete Hensche von einem »Patt«, beurteilte die Kräfteverhältnisse neu, machte Mut.2 Nie redete er öffentlich von Niederlage. Die Kräfte neu sammeln, Perspektiven entwickeln, strategische und taktische Ziele setzen – das war seine Stärke. Hensche war nicht nur ein guter Stratege, er war auch immer ein Bewegungsmensch. Das Motto der großen Gewerkschaftskonferenzen der Rosa-Luxemburg-Stiftung »Erneuerung durch Streik« gefiel ihm gut.

Detlef Hensche ist auch ein guter, auf Tariffragen spezialisierter Jurist. Oft hat er die Herrschenden und die herrschende Lehre kritisiert. »Wenn man schon bestimmte Errungenschaften des sozialen und rechtlichen Fortschritts nicht verhindern kann, sollen sie wenigstens ihres ursprünglichen emanzipatorischen (um nicht zu sagen revolutionären) Anspruchs beraubt werden, indem man sie in festgefügte Institutionen im Dienste marktwirtschaftlicher Funktionalität einpasst. So wird die Tarifautonomie von einem kollektiven Grundrecht in ein Regulierungsinstrument zum besseren Funktionieren der Marktwirtschaft verfälscht.« (Hensche 1987 in »Recht und Arbeiterbewegung« zum Gedenken an Wolfgang Abendroth, S. 17)

Und immer wieder die Wahrnehmung des politischen Mandats der Gewerkschaften! Hensches Kommentare im sogenannten Zentralorgan, der Zeitung »Druck und Papier«, waren berühmt und viel gelesen. Er beobachtete und kommentierte nicht nur die eigene Organisation und den DGB, sondern auch wichtige Geschehnisse weltweit, in der Politik, in der Gesellschaft. Ver.di hat zu Hensches 80. Geburtstag deshalb sehr zu Recht einen umfassenden Reprint seiner »Kolumne« herausgegeben.

Bis zu seinem Ausscheiden mit der ver.di-Gründung im Jahr 2001 lautete sein Credo sinngemäß: Wir müssen uns um unsere Mitglieder, um die Betriebe, um die Tarifpolitik kümmern, aber auch um die gesamte Gesellschaft, die durch soziale Spaltungsprozesse und überkommene Herrschaftsformen auseinandergetrieben wird. Er schrieb gegen den Radikalenerlass, gegen Berufsverbote, er kommentierte erniedrigende politische Entscheidungen wie die Zumutbarkeitsregelungen der Bundesanstalt für Arbeit für Arbeitslose, die ein Regime der Unterdrückung perpetuierten, nahm den Neoliberalismus aufs Korn, geißelte friedensbedrohende Aufrüstung und Kriegspolitik. Diese Kommentare hatten immer den einen Zweck: Aufklärung und politische Orientierung für die Mitglieder.

Zum 80. ein Marx-Zitat: »Die soziale Revolution entwickelt ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit, sondern nur aus der Zukunft.« Wir hoffen, dass du noch lange am Rad der »sozialen Revolution« mitdrehst!

Sybille Stamm hat von 1990 bis 1994 mit Detlef Hensche in der IG Medien eng als Leiterin der tarifpolitischen Abteilung zusammengearbeitet. Sie ist Mitglied im Beitrat des Forum Gewerkschaften und im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

[1] Die Einheit, die von Eurostat gewählt wird, ist das Unternehmen oder genauer die Arbeitsstätte, die kleinste organisatorische Einheit mit einer gewissen Autonomie bei Entscheidungen. Großunternehmen bestehen aus vielen solchen organisatorischen Einheiten.
[2] Siehe auch das Gespräch mit Detlef Hensche in: Constanze Lindemann/Harry Neß (Hrsg.), Vom Buchdrucker zum Medientechnologen. Wege der Druckindustrie in die Welt der Digitalisierung, Hamburg: VSA 2018, S. 242-265 (d.Red.).

Die Leseprobe auch als pdf-Datei!

 

 

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