1. März 2002 Redaktion Sozialismus

»In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod«

Die sozialdemokratischen Modernisierer beleuchten die Geschichte ihrer Partei neu: »Politisch gesehen, war die SPD immer eine Partei der Mitte«. [1] Wer das sagt, weiß, wovon er redet: Aus »kleinen, manchmal auch ärmlichen Verhältnissen« hat sich der Kanzler hochgearbeitet. Nicht mehr die Herkunft, also Stand und Klasse, sondern Leistung und Bildung würden den Platz in der Gesellschaft bestimmen. »Da sind wir angekommen«, lautet Schröders Bilanz. Die Mitte als Zentrum des sozialen Ausgleichs.

Die Mitte ist nicht substanzlos, betont Anthony Giddens, Cheftheoretiker des Dritten Weges. Sie organisiere den Zusammenhalt der Gesellschaft, indem sie Ausschluss und Ausgrenzung verhindere: Zum einen den gewollten Ausschluss der besitzenden Klassen, die sich durch Steuerflucht der Verantwortung für das Gemeinwesen entziehen. Zum anderen die Ausgrenzung der mittellosen Klassen, indem die Reintegration in den Arbeitsmarkt gefördert – und gefordert – wird. Die Botschaft lautet: Die Rechte grenzt aus, die Mitte integriert. In den Worten von Gerhard Schröder: »Wer ausgrenzt, zerstört die Mitte.«

Auf den ersten Blick stehen die Chancen für ein neues Mandat für Rot-Grün gleichwohl nicht günstig. Die Regierungsbilanz überzeugt nicht. Seit Monaten verliert die Koalition deutlich an Zustimmung, was nicht allein auf die Performance der Grünen zurückzuführen ist. Die Regierung ist mit dem Abschwung der Konjunktur, dem erneuten Anstieg der Massenarbeitslosigkeit und daraus resultierender Staatsverschuldung auf den meisten Politikfeldern wieder ins Straucheln geraten. Aber Vorsicht! Aus empirischen Untersuchungen über die Kernwählerschaft wissen wir: Die Erwartungen an einen Politikwechsel mit SPD und Bündnisgrünen waren schon 1998 nicht sehr hoch und folglich hält sich die zweifelsohne vorhandene Enttäuschung in Grenzen. Natürlich sind eine Reihe von Einzelgesetzen – von den Rücknahmegesetzen aus der Lafontaine-Zeit über die Reform der Betriebsverfassung bis hin zum Tariftreuegesetz – positiv aufgenommen worden. Aber sie bleiben in den Augen vieler Stückwerk und sind nicht Ausdruck eines Gesamtkonzepts einer arbeitsorientierten, sozial gerechten Reformpolitik.

Die Rentenreform bleibt bei einem Großteil der Lohnabhängigen mit der Absenkung des Rentenniveaus in der gesetzlichen Säule und dem Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme verbunden. Die Gewerkschaften sind nach der Verabschiedung dieser Reform von der Kritik auf die konstruktive Nutzung der privaten Altersvorsorge umgestiegen und haben zur Gestaltung der Riester-Rente Tarifverträge abgeschlossen. Aber das Janusgesicht der Rentenreform bleibt. Sie ist kein Mobilisierungsfaktor für die SPD. Im Gegenteil, befürchten doch viele der Sozialdemokratie nahestehende WählerInnen, dass der Zug in Richtung Teilprivatisierung noch beschleunigt wird: beim Umbau der Bundesanstalt für Arbeit ebenso wie bei der Gesundheits»reform«. Aber: Vom CSU-Kandidaten Stoiber und einer gelifteten FDP erwartet der Großteil der Lohnabhängigen erst recht keine sozial gerechtere Politik.

Die Tatsache, »dass es keine in den Grundsätzen gemeinsame Perspektive von SPD und Gewerkschaften über die Reform des Sozialstaates, mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft, die Zukunft der Erwerbsarbeit und die Erneuerung der Arbeitsgesellschaft gibt«, [2] zwingt die Interessenorganisationen der Lohnabhängigen vielmehr zur politischen Distanz und Formulierung autonomer Positionen. Die Gewerkschaften »müssen ihre Kampagne ›Für Arbeit und mehr soziale Gerechtigkeit‹ aufleben lassen und mit denselben Maßstäben wie 1998 ihre Forderungen aktualisieren.« [3] Die wesentlichen Projekte, um die es dabei geht, sind: Arbeit umverteilen und neue Arbeit schaffen, Umverteilung von Einkommen und Vermögen, ökologischer Strukturwandel, Ausbau sozialer und demokratischer Teilhaberechte, Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, Abrüstung, internationale Solidarität, zivile Konflikt- und Krisenprävention.

Ein beträchtlicher Teil sozialdemokratischer KernwählerInnen will einen Politikwechsel. Weitere Einschnitte in das bereits ausgedünnte soziale Netz werden mit Skepsis betrachtet. Vom Kurs in Richtung Minimalstaat muss nicht nur das traditionelle sozialdemokratische Klientel, sondern auch Teile der »Mitte« erst noch überzeugt werden, also von den Deregulierungen »besonders auf dem Arbeitsmarkt, bei den Sozialversicherungen und den Transfersystemen«, wie die Brüsseler Kommission in ihren »Empfehlungen für das Stabilitätsprogramm« dargelegt hat.

Wahlentscheidend im Herbst ist zunächst, ob sich im Rahmen einer Konjunkturerholung die Aussichten für den Arbeitsmarkt aufhellen. Dann geht es um die Inhalte weiterer angekündigter »Reformen«:

  die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe; damit verbunden die Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund, Ländern und Gemeinden;

  die Gesundheits»reform«, von der Schröder sagt: »Dinge, die eher dem allgemeinen Wohlbefinden dienen, sollen künftig privat finanziert werden«.

  Umorientierung der Arbeitsmarktpolitik, bei der es immer weniger um die Schaffung von Arbeitsplätzen, damit auch um aktive Arbeitsmarktpolitik geht; Arbeitslosigkeit wird umdefiniert in ein Problem nicht vermittlungsbereiter Arbeitsloser und in ein Problem bürokratisierter öffentlicher Vermittlungspraxis; d.h. Druck auf Arbeitslose, Leistungskürzungen und Teilprivatisierung;

  die weitere Verschlankung des öffentlichen Dienstes. Beschleunigter Personalabbau bei gleichzeitiger Arbeitszeitverlängerung stehen bei Bund, Ländern und Kommunen ganz oben auf der Maßnahmenliste. »Die Haushaltskonsolidierung geht jetzt erst richtig los«, kündigt Eichels Behörde an.

Nicht, dass hier jemand an soziale Grausamkeiten denkt. Diese Politik sei alternativlos, weil sie »Spielräume für Zinssenkungen eröffnet« und weil sie neue Möglichkeiten »für eine schnelle und erfolgreiche Eingliederung von Arbeitslosen« schafft. »Von der Mitte aus wird die Gesellschaft politisch geführt.« Und wegen seines Fauxpas mit der »ruhigen Hand« ist Schröder genötigt hinzuzufügen: »Wohlgemerkt: geführt. Nicht festgezerrt oder verwaltet.« Selbst dieser kleine Anflug von Cäsarismus geht daneben, wissen wir doch seit Max Weber, dass Cäsarismus nicht mit Anmaßung, sondern mit Krisenlösungskompetenz zu tun hat. Das ist das Problem – nach innen wie nach außen.

Rot-Grün hat die Renaissance des Militärischen in der Politik zu verantworten. Der Einsatz der Bundeswehr in den Kriegen auf dem Balkan und in Afghanistan macht vor allem dem grünen WählerInnen-Klientel zu schaffen. Rot-grüne Realpolitik ist auch auf der internationalen Bühne ein Abgesang auf ein sozial-ökologisches Reformprojekt. Die Erkenntnis, dass globale Gerechtigkeit eine der entscheidenden Voraussetzungen zur nachhaltigen Bekämpfung von Terrorismus ist, hat im Regierungshandeln keine Spuren hinterlassen. Man vergleiche nur die Peanuts, die im Entwicklungshilfeetat für Entschuldungsprogramme von Staaten der »Dritten Welt« bereitgestellt sind, mit den Aufrüstungsprojekten der Bundeswehr. Initiativen in Richtung präventiver Konfliktstrategie, strikter Einhaltung des Völkerrechts und Aufwertung der Vereinten Nationen sucht man vergebens. Kann ja auch nicht verwundern, angesichts der realpolitischen Verletzung internationalen Rechts und der Tatsache, dass auch unter Rot-Grün gutes Geld mit Rüstungsexporten verdient werden kann.

Erst in jüngster Zeit gehen Schröder und Fischer vorsichtig auf Distanz zu der auf unilaterale Hegemonie und Konfrontation mit den »Achsenmächten des Bösen« angelegten Politik der Bush-Administration. Kriegführung als Mittel der Politik ist nach wie vor in Deutschland wie in anderen Staaten Europas nicht konsensfähig. Schröders Formel von der »uneingeschränkten Solidarität« wird von vielen WählerInnen mit Skepsis betrachtet, weil sie der aggressiven und allein auf die geostrategischen Interessen der Weltmacht USA ausgerichteten Politik der Bush-Administration keinen Widerstand entgegensetzt. Uneingeschränkte Solidarität sei kein Freibrief für Abenteuer, betont Schröder im Hinblick auf einen möglicherweise in wenigen Monaten bevorstehenden Krieg gegen den Irak. Doch mit diplomatischen Noten ist es nicht getan. Nur wenn die führenden Staaten Europas gemeinsam Front gegen US-amerikanische Feldzüge gegen das »Reich des Bösen« beziehen, werden sie Gehör finden und ihre Vasallen-Rolle überwinden. Der Ausgang der Bundestagswahlen im Herbst wird also vom weiteren Fortgang der internationalen Konflikte mitbestimmt. Es ist daher auch nicht belanglos, ob die Präsidentschaftswahlen in Frankreich Mitte des Jahres eine Verstärkung der kritisch-distanzierten Politik gegenüber den USA ermöglichen oder ob sich der Rechtstrend in Europa verstärkt – mit den entsprechenden Rückwirkungen auf eine internationale Rambo-Politik.

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