26. Januar 2022 Petra Reichert: Geschlechtergleichstellung in bisherigen Regierungsberichten und im neuen Koalitionsvertrag

In Sichtweite des Ziels?

Der Koalitionsvertrag liegt vor, die neue Regierung ist gebildet und die vorrangigen Prioritäten sind benannt: Bekämpfung der Pandemie, Start der Klimaschutzmaßnahmen und digitale Transformation.

Parallel dazu haben die Ministerien Zielkataloge abzuarbeiten, deren Maßnahmen von ähnlich großer Dringlichkeit sind, zumal sie teilweise mit den Hauptbereichen eng verzahnt sind oder sich wechselweise voraussetzen wie Digitalisierung des Bildungswesens, schulische Infrastruktur und gleiche Bildungschancen für alle Kinder.

Das Thema »Gleichstellung« gehört zweifellos zu solchen übergreifenden Bereichen, die die ganze Gesellschaft betreffen, und wo verändernde Maßnahmen nur in Kooperation mit zahlreichen anderen Politikfeldern umgesetzt werden können. Auffällig ist jedoch, dass die Gleichstellung weit hinten im Prioritätenkatalog der Ampel mit einem lediglich zwei Seiten umfassenden Unterabschnitt auftaucht. Und der einleitende Satz zu diesem Abschnitt legt nahe, dass die Koalition davon ausgeht, dieser Bereich sei bereits auf gutem Weg und im Begriff, in einem überschaubaren Zeitraum abgearbeitet zu werden: »Die Gleichstellung zwischen Frauen und Männern muss in diesem Jahrzehnt erreicht werden.«[1] Da wird sich manche Frau und mancher Mann erstaunt die Augen reiben. Tausende Jahre Patriarchat in einem Dezennium aufgehoben? Es wird hier nicht darauf eingegangen, wie »Gleichstellung« näher definiert und mit welchen Indikatoren der Fortschritt in diesem Bereich gemessen werden soll. Die Autor*innen des Koalitionsvertrags begnügen sich mit einem Verweis auf das dafür von den Vorgängerregierungen hinterlassene Instrumentarium: »Wir werden die ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie des Bundes weiterentwickeln, u.a. mit einem Gleichstellungscheck künftiger Gesetze und Maßnahmen.«[2]

Etwas ausführlicher werden im Gleichstellungsabschnitt noch einige Unterpunkte behandelt, darunter wichtige Themen wie Schutz vor Gewalt, reproduktive Selbstbestimmung und ökonomische Gleichstellung. Weitere konkrete Maßnahmen zum selben Komplex finden sich in Kapiteln zu Arbeit, Familie und Bildung. Auf eine nähere Erläuterung dieses Mammutprojekts »Gleichstellung« mit Klärung oder zumindest Hinweisen auf Ausgangslage, Priorisierung, zeitliche Planung und Finanzierung wird jedoch verzichtet. Es fragt sich, ob dadurch eine kontinuierliche Beobachtung des Emanzipationsprozesses und entsprechende Schwerpunktsetzungen, wie sie in den Gleichstellungsberichten angeschoben wurden, aus dem Blickfeld geraten. Werfen wir einen Blick auf Daten, Analysen und Empfehlungen, wie sie in den europäischen und deutschen Institutionen zum Thema Stand der Gleichstellung vorliegen.

Fortschritte im Schneckentempo

Die EU hat 2010 das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) gegründet mit dem Auftrag, die Geschlechtergleichheit in der gesamten EU zu stärken. Dazu wurde u.a. ein Gleichstellungsindex entwickelt, der Gleichstellung als komplexen Prozess mit ineinandergreifenden Wirkfaktoren definiert und den jeweiligen Stand für die einzelnen EU-Länder dokumentiert.

Petra Reichert war Psychologin und Gleichstellungsbeauftragte, lebt als Rentnerin in Hamburg und arbeitet in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST).

[1] Vgl. Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag 2021-2025 zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, Berlin 2021, S. 114.
[2] Diese Berücksichtigung gleichstellungsrelevanter Faktoren bei allen Maßnahmen, Gesetzen etc., bekannt auch unter dem Begriff »Gender Mainstreaming«, ist sicher von besonderer Bedeutung. Fragwürdig erscheint, warum diese wichtige, aber mit wenig konkreten Zielvorgaben versehene ressortübergreifende Strategie genannt wird, die gründlicher und mit konkreten Handlungsempfehlungen auf die strukturellen Benachteiligungen eingehenden Gleichstellungsberichte aber keine Erwähnung finden.

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