28. August 2023 Carsten Büchling/Steffen Liebig/Klaus Dörre/Kim Lucht

Innovation durch Mitbestimmung – auch in der Transformation?

Die Automobilindustrie befindet sich inmitten einer krisenhaften Transformation historischen Ausmaßes. Neben den Megatrends der Dekarbonisierung, Elektrifizierung und Digitalisierung treten in jüngster Zeit vermehrt Absatzprobleme, gestörte Lieferketten und unsichere Zukunftsperspektiven auf den Plan.

Oliver Blume, Vorstandsvorsitzender von VW, drückt es so aus: »Die Automobilindustrie wird sich in den kommenden fünf Jahren stärker verändern als in den 50 Jahren zuvor«.[1] Während es unbestritten ist, dass eine Transformation stattfindet, ist das Wie und Wohin nach wie vor umkämpft. Die sozial-ökologischen Transformationskonflikte in der Branche müssen dabei ebenso differenziert wie dynamisch analysiert werden.

Der Kasseler Weg

Unterschiedliche Konfliktverläufe und -achsen resultieren nicht nur aus dem Verhältnis von Zulieferbetrieben und Endherstellern;[2] auch die Situation der großen OEMs stellt sich je nach Konzern und Betriebsstandort unterschiedlich dar, wie ein Blick nach Baunatal nahe Kassel zeigt. Das dortige zweitgrößte VW-Werk Deutschlands ist als Komponentenwerk und mit einem politisch in hohem Maße profilierten Betriebsrat in einer besonderen Position. Als die Zukunft des Werks gefährdet war, da ein Verkauf im Raum stand, vereinbarten der Betriebsrat und die Werkleitung im Rahmen des »Kasseler Weges«, einer institutionalisierten Kooperation zwischen lokalem Management und der Interessensvertretung der Belegschaft, gemeinsam eine Zukunftsstrategie für das Werk und die Belegschaft. Starke Mitbestimmung vor Ort wirkte als Innovationstreiber: Die Elektrifizierung war in der Konzernzentrale noch umstritten, als sich der Betriebsrat in Kassel bereits für zukunftssichere E-Antriebe am Standort stark machte. Gleichzeitig positioniert sich der Betriebsrat mit bemerkenswerten Statements und kritischen Analysen zur Transformation und Zukunft der Autoindustrie.

Carsten Büchling ist Betriebsratsvorsitzender bei Volkswagen am Standort Kassel, Mitglied des Gesamt- und Konzernbetriebsrates sowie Mitglied der IG Metall-Tarif- und Verhandlungskommission. Er berät als Mitglied des Gewerkschaftsrates den Vorstand der Partei DIE LINKE in gewerkschaftspolitischen Fragen.
Steffen Liebig arbeitet als Post-Doc am SFB. »Strukturwandel des Eigentums« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Teilprojekt »Eigentum, soziale Ungleichheit und Klassenbildung in sozial-ökologischen Transformationskonflikten«. Arbeitsschwerpunkte: Arbeits- und Wirtschaftssoziologie, sozial-ökologische Transformationsforschung, Konfliktsoziologie und Gewerkschaftsforschung.
Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er war geschäftsführender Direktor des DFG-Kollegs »Postwachstumsgesellschaften« und leitet u.a. das Teilprojekt »Eigentum, soziale Ungleichheit und Klassenbildung in sozial-ökologischen Transformationskonflikten« am SFB »Strukturwandel des Eigentums«.
Kim Lucht ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB »Strukturwandel des Eigentums« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Teilprojekt »Eigentum, soziale Ungleichheit und Klassenbildung in sozial-ökologischen Transformationskonflikten«. Ihre Dissertation beschäftigt sich mit den Verbindungslinien zwischen Klimabewegung und Gewerkschaften.

[1] »Historischer Wandel der Autoindustrie«. In: Hamburger Abendblatt 8.5.2023, www.abendblatt.de/wirtschaft/article238344783/VW-Chef-in-Hamburg-Historischer-Wandel-der-Autoindustrie.html.
[2] Oftmals verfügen kleine und mittlere Zulieferbetriebe nicht über eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilungen, weshalb sie strategisch kaum in der Lage sind sich proaktiv in bestehende Transformationsprozesse einzubringen. Im Ergebnis können konservierende Interessenpolitiken überwiegen und anstehende Transformationskonflikte verdrängt werden (vgl. exemplarisch: Johanna Sittel et al. (2022: Vor der Transformation. Der Mobilitätskonflikt in der Thüringer Auto- und Zulieferindustrie. In: Klaus Dörre et al. (Hrsg.): Abschied von Kohle und Auto? Frankfurt a.M., S. 129–181).

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