1. September 2002 Jürgen Wagner

Irak: Erstes Opfer der Bush-Doktrin?

"Die Frage in dieser Debatte ist nicht ob, sondern wie und wann Saddam Husseins Regime ersetzt wird", urteilt Geoffrey Kemp, Nahostexperte des Nixon Center.[1] Es wird immer offensichtlicher, dass sich die Hardliner um Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und dessen Stellvertreter Paul Wolfowitz, innerhalb der US-Administration mit ihrer Forderung nach einem Angriff auf den Irak durchsetzen können.

Sie wollen einen solchen Krieg als direkte und notwendige Konsequenz aus den Terroranschlägen des 11. September darstellen. Allerdings haben sie den Sturz des irakischen Präsidenten schon lange vor diesem Datum gefordert. Warum?

Laut der 1992 verfassten Defense Planning Guidance (DPG) ist es das wichtigste Ziel der US-Außenpolitik, dass die Vereinigten Staaten "jegliche Macht daran hindern, eine Region zu beherrschen, deren Ressourcen, sofern unter ihrer Kontrolle, ausreichen würden, eine neue Großmacht zu werden."[2] Die Autoren dieses Strategiepapiers, unter anderem Cheney und Wolfowitz, haben inzwischen die Kontrolle über die US-Außenpolitik übernommen. Sie sehen ihre vorrangige Aufgabe in der Bewahrung der US-Hegemonie und damit verbunden der Kontrolle aller strategisch wichtigen Regionen der Welt.

Dazu entwickelten sie in der Folge der Anschläge des 11. September eine neue Doktrin, die ein umfangreiches militärisches Engagement zur Wahrung von US-Interessen ermöglichen soll. Der US-Präsident hat die wesentlichen Elemente der neuen Bush-Doktrin in zwei programmatischen Grundsatzreden Ende Januar und Anfang Juni 2002 ausgeführt. Danach ist die Verhinderung einer weiteren Verbreitung von Massenvernichtungsmittel aus Sicht der US-Administration das wichtigste Element im "Kampf gegen den Terror". Hierfür müssten alle, auch militärische Mittel angewendet werden. Die Staaten, an die diese Drohung adressiert wurde, waren die der "Achse des Bösen" zugeordneten Länder Nordkorea, Iran und Irak.

Weiter kündigte Bush an, für die "Freiheit und die Verteidigung unserer Leben präventive Aktionen durchzuführen."[3] Zum ersten Mal in der Geschichte erhebt damit ein westliches Staatsoberhaupt die Führung von Präventivkriegen zur offiziellen Politik seines Landes. Darin eingeschlossen ist eine Option auf Ersteinsatz von Atomwaffen gegen "Schurkenstaaten".[4] Die Drohung mit solchen "präventiven" Angriffen oder "offensive strikes" der US-Streikräfte ermöglicht es Washington, nahezu beliebig alle Länder unter Druck zu setzen und gegebenenfalls auch militärisch anzugreifen, die amerikanischen Interessen im Wege stehen. "So wäre z.B. eine Intervention im Irak auf der Grundlage der Bush-Doktrin möglich."[5]

Schon seit Jahren plädieren die Hardliner in Washington für einen Angriff auf den Irak. Die Anschläge des 11. September eröffneten ihnen die Möglichkeit, dies erneut mit Nachdruck zu fordern. Zunächst ging man daran, einen direkten Zusammenhang zwischen den Attentätern und dem irakischen Geheimdienst als Kriegsgrund zu konstruieren. Nachdem dies aber ebenso wie auch Versuche, den Irak mit den Anthrax-Briefen in Verbindung zu bringen, scheiterte, verlegte man sich auf eine neue Strategie.

Dem Problem, wie denn ein Angriff auf den Irak ohne Beweise für eine Mittäterschaft gerechtfertigt werden könnte, widmete sich ein offener Brief an die Regierung, unterzeichnet von zahlreichen prominenten Vertretern der amerikanischen Außenpolitik. Dort wurde gefordert, dass "selbst für den Fall, dass die Beweise keine direkte Verbindung zum Irak ergeben, jede auf die Eliminierung des Terrorismus und seiner Unterstützter abzielende Strategie eine entschlossene Anstrengung beinhalten muss, Saddam Hussein von der Macht im Irak zu entfernen."[6]

Als Legitimation eines Angriffskrieges hat sich die Bush-Administration ein Konstrukt zurechtgezimmert, das die ganze Tragweite der neuen Präventivschlagsdoktrin zur Proliferationsbekämpfung deutlich macht. "Da Saddam Hussein nicht verrückt war, funktionierte die Abschreckung. [...] Die Logik hinter dem, was Frau Rice und andere Bush-Offizielle jetzt sagen, ist, dass der 11. September diese Gleichung veränderte. [...] Der verrückte Saddam kann heimlich und nicht verhinderbar Waffen, Know-how oder Waffenmaterialien an Terroristen liefern. Dagegen funktioniert die Abschreckung nachgewiesenermaßen nicht. Deshalb ist die bloße Eindämmung Husseins nicht mehr länger eine ausreichende Sicherheitsgarantie."[7]

Der bloße Versuch, an Massenvernichtungsmittel zu gelangen, so die US-Argumentation, stellt in der Welt nach dem 11. September eine so große Gefahr dar, dass dies auch Präventivangriffe rechtfertigt, wie US-Senator John McCain versichert: "Diktatoren, die [...] Massenvernichtungs-Waffen bauen, sind unterrichtet, dass ein solches Verhalten, schon für sich, ein Kriegsgrund ist."[8]

Abgesehen davon, dass es ohnehin zweifelhaft ist, ob der Irak über Massenvernichtungsmittel verfügt, zeigen Aussagen der US-Geheimdienste, dass es sich dabei sowieso nur um ein vorgeschobenes Legitimationskonstrukt zur Wahrung anderer Interessen handelt: "Die CIA hat keine Beweise dafür, dass der Irak innerhalb fast eines Jahrzehntes in terroristische Operationen gegen die USA verwickelt war, und die Spionageagentur ist ebenfalls davon überzeugt, dass Hussein keine chemischen oder biologischen Waffen an Al-Qaida oder ähnliche terroristische Gruppen geliefert hat."[9]

Etwaige Versuche des Iraks, gefährliche Kampfstoffe an Terroristen weiterzugeben, scheiden somit als eigentlicher Kriegsgrund aus. Zwei miteinander verflochtene Gründe stellen die wahren Ursachen für Washingtons Angriffspläne dar. Als Klammer um diese Motivation fungiert das Interesse an den Ölvorkommen des Persischen Golfes.

Schon seit Jahrzehnten lassen die Vereinigten Staaten keine Zweifel daran aufkommen, dass sie sich als Ordnungsmacht am Persischen Golf betrachten. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Die Region verfügt über die größten Ölreserven der Welt. Deren Kontrolle stellt ein überragendes Ziel der US-amerikanischen Politik dar.

Allerdings gefährden die jüngsten Spannungen mit Saudi Arabien Washingtons Anspruch als Ordnungsmacht. Die Konflikte zwischen beiden Ländern haben inzwischen solche Ausmaße angenommen, dass Riad droht, die zur Machtprojektion unerlässlichen amerikanischen Militärbasen schließen zu lassen. Ein Krieg gegen den Irak, der ohne Zweifel eine dauerhafte Besetzung des Landes nach sich ziehen würde, könnte den USA in der Golfregion wieder eine zuverlässige Machtsäule verschaffen, ihren Anspruch als Ordnungsmacht untermauern und wäre hilfreich bei der Disziplinierung der Länder dieser Region.

Deshalb haben Washingtons Kriegspläne auch tatsächlich etwas mit dem irakischen Interesse an Massenvernichtungsmittel zu tun. Die USA würden nämlich in ihrer selbstauferlegten Rolle als Ordnungsmacht zumindest behindert, wenn ein Staat der Region in der Lage wäre, Washington mit Massenvernichtungsmitteln von Interventionen abzuschrecken.

In einem 1998 an den damaligen US-Präsidenten Clinton gerichteten Brief, den so gut wie alle heutigen Mitglieder der Regierungsmannschaft unterzeichnet haben, wurde ein Angriff auf den Irak mit genau diesem Argument gefordert: "Wenn wir den gegenwärtigen Kurs weiter beschreiten, werden die Sicherheit der amerikanischen Truppen in der Region, unsere Freunde und Verbündeten wie Israel und eine bedeutende Menge der Weltölversorgung in Gefahr gebracht."[10] In dieser Aussage kommt nicht nur das Streben nach einer Kontrolle der gesamten Golfregion zum Ausdruck, sondern auch das Interesse am Irak als attraktives Ölförderland. Wurden die Ölreserven des Landes früher auf 112 Mrd. barrel geschätzt, gehen neuere Untersuchungen inzwischen von etwa 330 Mrd. barrel aus – fast ein Drittel mehr als das bisher ölreichsten Land der Welt Saudi Arabien.

So kommt denn auch der von 1999-2001 im amerikanischen nationalen Sicherheitsrat für die Golfregion zuständige Kenneth Pollack zu dem Schluss: "Die strategische Logik für eine Invasion ist zwingend. Sie würde die Möglichkeit eliminieren, dass Saddam sein Militär wiederaufbaut oder Atomwaffen erlangt und damit die Sicherheit der Weltölversorgung gefährdet."[11]

Die Entscheidung, einen Krieg zu führen, wurde längst getroffen. Unklar ist aber, zu welchem Zeitpunkt er beginnen soll. Der "Salami-Crash" an den Börsen und das deutlich verlangsamte Wachstumstempo der amerikanischen Wirtschaft, das gar in eine erneute Rezession umzuschlagen droht, bringen die Bush-Administration innenpolitisch mehr und mehr in Bedrängnis, so dass den Republikanern bei den im November anstehenden Wahlen zu Kongress und Abgeordnetenhaus eine Niederlage droht. Vor diesem Hintergrund gibt es Spekulationen, der militärische Aufmarsch für eine Irak-Intervention könne noch in diesem Herbst einsetzen, nachdem zunächst alles auf das Frühjahr 2003 hingewiesen hatte.

Vermutlich werden die USA versuchen, den Beginn der Angriffe mit der irakischen Ablehnung von UN-Waffeninspekteuren zu begründen. Die unmissverständlichen Ankündigungen, die Forderungen so hoch zu schrauben, dass kein Land der Welt dem zustimmen kann, sollen eine irakische Ablehnungshaltung bewirken, die dann den willkommenen Anlass für einen Krieg liefert.

Es bleibt die Frage, wie sich die Europäer verhalten werden. Washington hat unmissverständlich klar gemacht, dass es bedingungslose Bündnistreue erwartet. Zwar mehren sich in Europa die kritischen Stimmen gegenüber Washingtons Angriffsplänen, allerdings scheint niemand willens zu sein, sich direkt gegen die US-Regierung zu stellen. Im Gegenteil, einiges deutet darauf hin, dass der US-Krieg in England, Deutschland und Frankreich seine Unterstützer finden wird.

Dies ist umso bedauerlicher, da es ganz offensichtlich ist, dass die USA ohne die Zustimmung dieser Staaten, kaum in der Lage sein werden, ihre Präventivschlagsdoktrin in Form eines neuerlichen Irak-Krieges in die Praxis umzusetzen. In dieser Frage sollten die Europäer endlich kritische Solidarität beweisen und die US-Regierung dazu bewegen, im Austausch für Zulassung eines neutralen Inspektionsregimes eine Nicht-Angriffsgarantie zu geben, statt sie in einem Krieg zur Durchsetzung ihrer Machtinteressen zu unterstützten, der kaum absehbaren Folgen haben wird.

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