1. Mai 2009 Christina Ujma
Italien: Die Rückkehr zur Zukunft
Die italienische Linke mag in der Dauerkrise sein, ihre Basis lässt sich davon nicht allzu sehr beeindrucken: Am 4. April waren die Straßen und Plätze Roms einmal mehr Schauplatz eines Massenaufgebots der linken Gewerkschaft CGIL, die sich damit als organisations- und mobilisierungsstärkste Arbeiterorganisation Europas erwiesen hat.
Unter dem Motto "Futuro si, indietro no" – ja zum Fortschritt, nein zum Rückschritt – demonstrierten zwischen 2,7 und 3 Millionen Menschen gegen die Versuche der Regierung Berlusconi, die Kosten der Krise auf die Arbeitenden und Arbeitslosen abzuwälzen. "Hände weg von den Gehältern, Renten, Rechten und der Freiheit, gemeinsam für ein gerechteres, demokratischeres und solidarischeres Italien" hieß es auf Flugblättern und Plakaten. Die CGIL präsentierte sich als Repräsentantin des Italiens, das sich dem sozialen und gesellschaftlichen Rückschritt entgegenstellt.
Die größte Gewerkschaftsdemonstration Europas
Hunderttausende ItalienerInnen sind mitten in der Nacht aufgestanden oder gar die Nacht durchgefahren, um in 42 Sonderzügen, 7.000 Bussen und zwei Schiffen am Vormittag des 4. April in fünf gigantischen Demonstrationszügen auf den Circo Massimo in Rom vorzurücken, wo die Abschlusskundgebung als fröhliches linkes Volksfest gestaltet wurde. Es gab viel linke Musik, aber auch Reden, denen aufmerksam zugehört wurde. Die Farbe des Tages war rot, die roten Kappen und Fahnen der CGIL, aber auch die der linken Zeitschriften wie Il Manifesto dominierten das Bild.
Natürlich waren auch die Linksparteien vertreten und zwar alle, die sich auch nur irgendwie links definieren, selbst Antonio di Pietro und seine Partei Italia die Valori machten mit und sorgten mit ihren weißgrundigen Fahnen für ein wenig Farbkontrast in dem Meer von roten Flaggen und Kappen. Die Vorsitzenden und ehemaligen Vorsitzenden sämtlicher Linksparteien und deren Spitzenpolitiker defilierten alle an CGIL-Chef Epifani vorbei und der hatte viele Hände zu schütteln. PD-Vorsitzender Dario Franceschino und seine Vorgänger Veltroni, Fassino und D’Alema waren ebenso anwesend wie das Führungspersonal der Linksparteien, von Rifondazione, Sinistra Democratica, den Grünen, PdCI, Rifondazione per la Sinistra bzw. Movemento per la Sinistra, mit Bertinotti, Ferrero, Vendola, Fava und Grazia Francescato. Sämtliche linken Regionalpräsidenten und Bürgermeister waren gekommen, über die wenigen, die ohne guten Grund bzw. unentschuldigt fehlten, stellte die Presse gleich Spekulationen bezüglich Rechtsabweichung an.
Eines hat die CGIL zumindest geschafft, so spotteten einige Zeitungen, sie hat die italienische Linke immerhin für einen Tag geeint. Im Zusammenhang dieser größten europäischen Gewerkschaftsdemonstration seit Jahren kann man die Mobilisierungsarbeit der CGIL nur bewundern: Mit nationalen und regionalen Aufrufen haben sie die progressiven Kräfte eingebunden, es gab Aufrufe der Politikerinnen und Politiker, von 64 Europaabgeordneten, der prominenten Kultur- und Medienschaffenden, der WissenschaftlerInnen, der Bewegungen, wie z.B. der Friedensbewegung, der Lesben- und Schwulenbewegung, der Partisanenverbände.[1]
Breites gesellschaftliches Bündnis
Auf der Kundgebung durften die Politiker allerdings nicht reden, sondern nur zuhören. Geredet haben Vertreter und Vertreterinnen der Gruppen, die auch die Mehrheit der Demonstranten stellten und hier ist der CGIL wiederum ein beeindruckendes soziales Bündnis gelungen. Neben der traditionellen Basis der CGIL, der IndustriearbeiterInnenschaft und den Beschäftigten des öffentlichen Sektors, hat es die Gewerkschaft geschafft, auch große Teile sowohl der Studenten- und Schülerbewegung als auch der Lehrer- und Hochschullehrerbewegung gegen die Kürzungen im Bildungssystem unter ihre Fittiche zu nehmen. Auch die Bewegung der prekär Beschäftigten und der Arbeitslosen war bei der Demonstration zahlreich vertreten. Die Anti-Rassismuskampagne der CGIL zeigte ihre Erfolge darin, dass sowohl legal als auch illegal in Italien lebende MigranteInnen teilnahmen und einer ihrer Vertreter zu den Rednern der Kundgebung gehörte. Obwohl die stets zu Protest aufgelegte RentnerInnenbewegung gegen Altersarmut und Minipensionen bei der Demonstration einmal mehr ihre Stärke zeigte, waren alle Altersgruppen ungefähr gleichstark vertreten. Viele Zeitungen zeigten sich erstaunt über die große Anzahl von jungen Leuten unter den Demonstranten, die nicht nur der Studierendenbewegung angehörten, sondern auch der IndustriearbeiterInnenschaft und dem öffentlichen Dienst. Womit zugleich die auch in Italien beliebte These, dass die Gewerkschaften und ihre Mitglieder von gestern seien und dass gewerkschaftliches Engagement vor allem Männer über 50 interessieren würde, erfolgreich widerlegt wurde. Dementsprechend war es auch die Musik, die einen wichtigen Teil der Kundgebung bildete: Es gab Rap, Ethnopop und natürlich traditionell linke Musik mit den Modena City Ramblers. Bevor die aber Bella Ciao intonierten, hielt Gewerkschaftschef Epifani eine einstündige kämpferische Rede, der die fast drei Millionen Demonstrationsteilnehmer mehrheitlich aufmerksam lauschten.
Die CGIL repräsentiert das Italien der Arbeit
Epifani plädierte für eine Politik, die in der Krise niemanden zurücklässt und wandte sich dagegen, den Banken und kriselnden Unternehmen das Geld hinterherzuwerfen, die Opfer der Krise aber zu ignorieren. Er warb für eine Politik, die sich an Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen orientiert, seien sie regulär oder prekär beschäftigt oder gar im informellen Sektor, üblicherweise Schwarzarbeit genannt. Wie auch die Linksparteien kritisierte er viele der Konjunkturmaßnahmen der Regierung Berlusconi, die sich vor allem auf bauliche Infrastrukturmaßnahmen erstrecken, als Geldverschwendung und Klientelismus. Denn diese würden vor allem den Unternehmern, d.h. Berlusconis Kollegen zugute kommen, die sich damit eine goldene Nase verdienen würden, während für die Opfer der Krise, die Arbeitslosen, kaum etwas getan werde und der Unternehmerverband zusammen mit den rechten Parteien auch noch Lohnsenkungen und den Abbau von ArbeitnehmerInnenrechten fordern würde.
Stattdessen verlangte Epifani Umverteilung, aktive Sozialpolitik, Armutsbekämpfung, Investitionen im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Statt die Lasten der Krise auf die ArbeitnehmerInnen abzuwälzen, forderte er den Kampf gegen die weitverbreitete Steuerhinterziehung der Wohlhabenden. Er wandte sich gegen ungleiche Löhne, Frauendiskriminierung und Migrantenfeindlichkeit auf dem Arbeitsmarkt, wie gegen Niedriglöhne und Minipensionen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Ausländerhetze. Er verwies auf die besonderen Probleme des Südens und schloss mit der Botschaft, dass auf der Kundgebung das Italien, das arbeitet, gegen das Italien des Kapitals aufgestanden sei. Vom Circo Massimo gehe die Botschaft eines solidarischeren Italiens aus, sagte Epifani zum Abschluss, der auch sehr selbstbewusst die CGIL als die Organisation feierte, der es gelingt, die Welt der Arbeit wie auch die der Bewegungen zu mobilisieren. Er hob auch auf die supranationalen Dimensionen des Gewerkschaftsprotests ab und freute sich über die internationale Unterstützung für die CGIL, die u.a. aus Südamerika und von der französischen CGT kam.
Herausforderung für die Parteipolitik
Von der riesigen linken Demonstration zeigte sich auch die Welt der Politik auf die eine oder andere Weise beeindruckt. Der Wunsch, die 2,7 Millionen Demonstranten auch politisch zu repräsentieren, wurde wiederholt geäußert, z.B. von dem ehemaligen Vorsitzenden von Rifondazione Communista, Fausto Bertinotti, der dazu aufrief, endlich mit der Formation der Linkspartei voranzuschreiten.
Verständlicherweise war außerhalb der linken Linken die Begeisterung weniger ausgeprägt. Die Rechte erging sich in Schmähungen, Berlusconi bekam einen Tobsuchtsanfall, beschimpfte Demonstration wie Demonstranten und wiederholte, dass er mit dieser CGIL nicht verhandeln wolle. Realitätsverlust, unverantwortlichen Radikalismus, Weltfremdheit und Wahlkampf für die PD wurden der CGIL vorgeworfen. Dies ist besonders absurd, denn die CGIL mag der PD immer noch nahestehen, sonderlich harmonisch ist deren Verhältnis schon lange nicht mehr, denn die Themen Arbeit und Soziales spielen bei den postsozialdemokratischen Postkommunisten keine sonderlich wichtige Rolle.
<fieldset style="padding:7px; border:1px dotted #000000;">Italienische Verhältnisse
Gewerkschaften in Italien
CGIL: Linksgewerkschaft, ca. 5,2 Mio. Mitglieder
UIL: Liberal, ca. 1,6 Mio. Mitglieder
CISL: christlich und konservativ, ca. 4,3 Mio. Mitglieder
Linke Parteien
PCI: Partito Comunista Italiano bis 1991
Daraus entstanden
PRC: Partito Rifondazione Communista, besteht trotz zahlreicher Abspaltungen bis heute
PDS / DS: Sozialdemokratische Partei bis 2007. Dann Fusion mit der linkschristdemokratischen Margherita zur:
PD: Partito Democratico – Demokratische Partei
Davon abgespalten
SD: Sinistra Democratica – Demokratische Linke
Abspaltungen von Rifondazione
PdCI: Comunisti Italiani
MpS: Rifondazione per la Sinistra bzw. Movimento per la Sinistra
Neu
Sinistra e Liberta: Bündnis von MpS, Grünen, SD und einer Minderheit der PdCI, März 2009
Die Tatsache, dass sich die CGIL und ihr Vorsitzender Epifani erfolgreich als eigentliche Opposition etabliert hat, und dabei im Unterschied zur PD eine solide sozialdemokratische Rolle spielt, ärgert die PD-Führung maßlos. Nach der Fusion von sozialdemokratischer DS und linkschristdemokratischer Margherita zur PD konnten besonders die Christdemokraten wenig mit gewerkschaftlichen Politikformen anfangen; sehr zum Ärger der CGIL blieben sie anfangs Protestkundgebungen meist fern. Dies hat sich geändert, mittlerweile sind die alten Christdemokraten, zu denen auch der neue PD-Vorsitzende Dario Franceschini zählt, brav dabei, wenn die eigene Gewerkschaft zum Protest ruft, auch wenn sie noch so sehr fremdeln.
Uneinigkeit im gewerkschaftlichen Lager
Der neue PD-Vorsitzende Franceschini erschien zwar auf der Demonstration und sicherte der CGIL seine Unterstützung zu; dies hielt ihn nicht davon ab, am Tag danach die Gewerkschaft aufzufordern, weniger zu protestieren und sich stattdessen mit den anderen beiden Gewerkschaften CISL und UIL zu einigen. Die waren gerade dabei, ein Abkommen mit Berlusconi zu unterzeichnen, in dem sie Wohlverhalten in der Krise und Verzicht versprechen. Einige Funktionäre vom rechten Flügel der CGIL bekamen in konservativen Zeitungen sehr viele Zeilen eingeräumt, um diese Position zu unterstützen.
Diese Spaltung der Gewerkschaftsbewegung ist unschön, hat aber der CGIL bislang nicht geschadet; im Gegenteil gelingt es ihr, den Unmut weiter Teile der ArbeiterInnenschaft zu artikulieren und gegenüber den anderen beiden Gewerkschaften Boden gut zu machen. Auf dem anstehenden Gewerkschaftskongress der CGIL wird die Linie sicher kontrovers diskutiert werden, aber bislang gibt der Erfolg der jetzigen Linie der Gewerkschaft recht, denn sie hat es fast als einzige Gewerkschaft Westeuropas geschafft, der Krise offensiv zu begegnen. Sie hat den Herbst und Winter über trotz misslichen Wetters eine hohe Mobilisierung bei Streiks und Kundgebungen aufrechterhalten. Ihre Mitgliedschaft ist, wie Epifani gern betont, dezidiert gegen Nachgiebigkeit den Unternehmern und Berlusconi gegenüber eingestellt, was auch für die Basis der anderen Gewerkschaften gilt, die Epifani beschuldigt, den Willen ihrer Mitglieder nicht zu berücksichtigen. Was passiert, wenn Gewerkschaften gegen die Interessen ihrer Mitglieder handeln, könne man in England oder Frankreich sehen, wo sich die Frustration der ArbeiterInnenschaft in Krawallen und wilden Protesten entlädt.
Neoliberalismus als Mega-Flop
Auch wenn es in Italien bislang friedlich geblieben ist, nehmen selbst gemäßigte Linke kein Blatt vor den Mund; von Gewerkschaftern wie von prominenten Mitgliedern der PD hört man Verständnis für die Randalierer in den europäischen Nachbarländern. Der Philosoph Massimo Cacciari, gegenwärtig PD-Bürgermeister von Venedig, hat es kürzlich in L’Unita auf den Punkt gebracht:[2] Der Neoliberalismus hat sich als Mega-Flop erwiesen; der Versuch, die Kosten dieses Desasters jetzt auf die Arbeitnehmerschaft abzuwälzen und der Jugend, deren Jobaussichten düster aussehen, die Zukunftschancen zu nehmen, löst verständliche und vollkommen nachvollziehbare Wut aus. Die Wirtschaft und Politik beherrschenden Eliten haben sich als unfähig erwiesen, von ihnen kann man keine Problemlösung erwarten, so Cacciari weiter. Die Ursache der spontanen Krawalle in Frankreich oder England liege auch darin, dass es der Arbeit, besonders der Arbeit im prekären oder informellen Sektor an politischer Repräsentation und damit an politischer Führung mangelt, sagte Cacciari. Die Situation stelle für die Linke eine ziemliche Herausforderung dar, denn es bestehe immer die Möglichkeit, dass der Unmut von autoritär gesinnten Kräften instrumentalisiert werde. Der bei weiten Teilen der Linken propagierte Lösungsansatz, eine Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat der 1960er und 1970er Jahre zu fordern, werde da kaum als Antwort genügen, auch die Globalisierung könne kaum zurückdrehen, auch wenn viele davon träumen würden.
Rückkehr der sozialen Frage
Immerhin verbreitet sich bei der Linken langsam die Einsicht, dass es nötig sei, neue Formen der politischen Repräsentation der Arbeit zu finden. Massimo D’Alema sprach sich für die Gründung einer Partei der Arbeit innerhalb der PD aus und Nichi Vendola, der Anführer der neuen Linkspartei, dem oft vorgeworfen wurde, nicht arbeiterbewegt genug zu sein, war am 21. April Gastgeber einer linken Programmkonferenz mit dem Titel Il lavoro: cuore di un nuovo modello economico e civile, d.h. Die Arbeit: Das Herz eines neuen ökonomischen und gesellschaftlichen Modells. Hier wurde von Gewerkschaftern, Wissenschaftlern und Linkspolitikern die Gestalt der neuen sozialen Frage diskutiert. Langsam bewegt man sich bei der neuen Linken nicht nur organisatorisch, sondern auch programmatisch voran. Bei dem Versuch, die Linke aus der Sackgasse zu führen, wird möglicherweise auch die neue linke Zeitung L’Altro helfen. Das Projekt des von Rifondazione Hardliner Ferrero geschassten ehemaligen Chefredakteurs der Rifondazione Zeitung Liberazione wird u.a. von Fausto Bertinotti mitgetragen. Die Zeitung soll nicht nur die Stimme der neuen Linken sein, sie soll sich auch als der Ort erweisen, an dem die inhaltlichen Konturen der neuen Linken in Diskussionen entstehen sollen.
Momentan ist der Zeitgeist eher auf Seiten der Linken. Nach dem Erdbeben in den Abruzzen, das auch deshalb so viele Opfer gekostet hat, weil man Bauvorschriften und Warnzeichen ignoriert hat, hört man allenthalben Anklagen gegen die Gier und das Profitstreben, das mehr als die relativ moderaten Erdstöße an der hohen Zahl der Toten und Obdachlosen schuld sei. Dies ist eine Herausforderung für Berlusconi, der vor allem von denen gewählt wurde, die es mit den Vorschriften nicht so ernst meinen, die Schwarzbauten legalisieren und Steuern hinterziehen wollen.
Ob es der Linken gelingt, diese Stimmung zu nutzen, wird sich zeigen. Falls nicht, wird es sicher nicht an der CGIL liegen, denn die Gewerkschaft mobilisiert bereits auf die nächsten Großveranstaltungen. Am 25. April, dem Tag der Befreiung vom Faschismus, wird das antifaschistische Italien auf die Straße gehen und am 1. Mai wird die italienische Arbeiterbewegung erneut zeigen, dass mit ihr mehr denn je zu rechnen ist.
Christina Ujma arbeitet als Lehrbeauftragte am Otto-Suhr-Institut in Berlin. Sie schreibt in Sozialismus regelmäßig über Italien. Zuletzt erschien von ihr in Sozialismus 4/2009: Ein neuer Frühling für Italiens Linke? Das Bündnis "Links und frei".
[1] www.cgil.it/speciali/20090404/default.aspx
[2] L’Unità, 5.4.2009.