1. November 2009 Redaktion Sozialismus

''Katastrophaler Zustand''

Der neue Frontmann der SPD macht Schlagzeilen. Schlagzeilen allerdings, die weniger die Kritik an freidemokratischer Umverteilungspolitik und an einem "sanften Konservatismus"[1] à la Merkel zum Inhalt haben.

Schlagzeilen produziert der designierte neue SPD-Vorsitzende Siegmar Gabriel mit der Aussage, dass seine Partei sich am Ende ihres Regierungszylus "in einem katastrophalen Zustand befindet". Mehr noch: dass "wir lange brauchen, uns davon zu erholen", dass "die Früchte unserer Arbeit – wenn sie denn gelingt – ... wohl eher die nach uns kommende Generation von Sozialdemokraten ernten" wird.[2] Da ist also jemand, der bis zum 27. September in herausragender Position politische Verantwortung für eine gescheiterte Politik trug, gleichsam über Nacht zu der Erkenntnis gelangt, dass seine Partei daran mindestens zwei Jahrzehnte knapsen muss – um sich sodann in vollem Bewusstsein seiner eigenen Verantwortung zum neuen Vorsitzenden wählen zu lassen. So viel Mea culpa kann nicht sein.

Was also meint Gabriel? "Die Wahrheit ist doch, dass sich die SPD in den letzten Jahren tief gespalten hat in Flügel. Und wir immer weniger gemerkt haben, dass wir eine Partei sein müssen, um zu überzeugen. Diese Flügelbildung ist allerdings auch eine Folge der mangelhaften Diskussion über politische Inhalte."[3] Für letzteres lassen sich in der jüngsten Geschichte reichlich Beispiele finden. Aber stimmt die Einschätzung einer in diverse Strömungen und Tendenzen gespaltenen Partei?

Im Vorfeld der Besetzung der Führungspositionen unter Fraktionschef Steinmeier war in der Presse zu lesen: "Mit Verwerfungen bei den Wahlen wird nicht gerechnet, Kampfkandidaturen waren nicht in Sicht". Die unumgängliche Generalinventur der Sozialdemokratie sollte nicht durch Mythen belastet werden: Strittige Auseinandersetzungen in der SPD über politische Themen waren die Ausnahme und alternative Kandidaturen bei wichtigen personalpolitischen Entscheidungen hatten Seltenheitswert. Es ist auch nicht so, dass Parteiflügel autoritär gegen vehementen Widerstand gestutzt worden wären. Der Fall ist komplizierter: ein Amalgam aus Diskursen "jenseits von Rechts und Links", Amerikanisierung der einstigen Programm- und Mitgliederpartei, Generationenwechsel des Führungspersonals, Umdeutung der Orte und Medien politischer Kommunikation. Man möge in den schnellen Personalwechseln der SPD kurz innehalten: Zwischen Generalsekretären vom Schlage eines Peter Glotz und Hubertus Heil liegen Welten politischer Analysefähigkeit.

Man muss es schon so hart formulieren: Der politische Niedergang der Sozialdemokratie ist auch Resultat eines Kompetenzverlustes, die sozio-ökonomischen Entwicklungsbrüche bewerten und einschätzen zu können. Die Agenda 2010 war ein politischer Kurswechsel, der von der damaligen Parteiführung entwickelt und in einem Top down-Prozess durchgesetzt wurde. Dem ging im Jahr 2001 der Crash der so genannten New Economy voraus. Schröder bilanzierte damals, dass vom Höhepunkt des Booms bis Ende 2002 Aktienwerte von 1,7 Billionen Euro auf 647 Milliarden Euro abgeschrieben werden mussten. Zwar räumten die rot-grünen Regierungsspitzen ein, dass für das Platzen dieser großen Börsenblase nicht die Lohnabhängigen und ihre Gewerkschaften verantwortlich gewesen seien. Aber – so hieß es in der damaligen Regierungserklärung – die massive Entwertung von Eigentumstiteln verlange eine neue politische Kraftanstrengung vor allem mit Blick auf "Fehlentwicklungen" im System der sozialen Sicherung. Die Regierung Schröder sah sich mit dieser Stoßrichtung ihrer Politik in "guter" sozialdemokratischer Tradition: Seit dem Sparpaket des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Schmidt gegen den vermeintlichen Leistungsmissbrauch von Sozialtransfers im Jahr 1982 ist in der deutschen und in weiten Teilen der europäischen Sozialdemokratie immer wieder dieselbe falsche Politik praktiziert worden. "Kündigungsschutz lockern, Sozialausgaben senken, Bürokratie abbauen, Gesundheit bezahlbar machen, alles schon mal da gewesen, alles nichts gebracht." (Heiner Flassbeck)

Die Politik, die "ausgewucherten Leistungen des Sozialstaates" für die Krise verantwortlich zu machen, hat die Reihen der Sozialdemokraten gelichtet. Gleichwohl wurde Schröder lange als herausragender Kommunikator gefeiert; seine Stärke soll darin bestanden haben, komplexe Zusammenhänge den Bürgern als einfache Wahrheiten zu präsentieren. Schröder verkaufte mit Überzeugung und Härte eine verlogene Botschaft: Der Sozialstaat in Deutschland lebe über den Verhältnissen wegen der überzogenen Ansprüche der verschiedenen Klienten und käme ohne massive Sparoperation dem Bankrott immer näher. Der Kommunikator obsiegte – eine kleine Rebellion mit einem innerparteilichen Abstimmungsbegehren brach weit unterhalb des notwendigen Quorums zusammen. Das war der letzte Flügelschlag in einer von der Regierungscrew entmachteten Partei.

Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Wolfgang Clement, Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück, Olaf Scholz und auch Siegmar Gabriel haben die große Mehrheit der Sozialdemokratie in diesem Jahrzehnt repräsentiert. Ihre Rhetorik war, von allen sozialen Schichten der Gesellschaft Abstriche auf Ansprüche und zusätzliche Eigenleistungen zu verlangen, um die sozialen Aufwändungen einer nicht mehr beschleunigt akkumulierenden Ökonomie anzupassen. Doch eine Gleichbehandlung aller gab es nie – vielmehr eine wachsende Schieflage in den Verteilungsbilanzen, denn vor allem durch Kostensenkungen und verstärkte Gewinnanreize sollte die globale Konkurrenzposition des Nationalkapitals verbessert werden. Deshalb folgte eine Unternehmenssteuerreform auf die andere, deshalb wurden Unternehmen bei der Finanzierung des Sozialstaats entlastet, deshalb wurde die Staatsquote durch Privatisierung, Sozialabbau und drastische Einschränkungen öffentlicher Investitionen heruntergedrückt, deshalb wurde eine wettbewerbsorientierte Lohnpolitik eingefordert.

Der Vorwurf der sozialen Asymmetrie focht die Vertreter der modernisierten Sozialdemokratie gleichwohl nicht an. Ihrem Verständnis nach war die Revitalisierung "der Wirtschaft" die Voraussetzung dafür, nachfolgend das soziale Inventar der Gesellschaft wieder auf stabile Grundlagen zu stellen. Deshalb wähnten sie sich jenseits von links und rechts: Stärkung des Kapitals zur Stärkung der Lohnarbeit in einem zugleich modernisierten Sinne – nicht mehr der sozial bedürftigen, auf eine sozialstaatliche Bürokratie angewiesenen Lohnarbeit, sondern jener "empowerten" Lohnarbeit der Arbeitskraftbesitzer, die eigenständig soziale Vorsorge betreiben können. Weshalb diese vermeintliche Win-Win-Situation nicht aufging, ist für die RepräsentantInnen der neuen Sozialdemokratie ein Rätsel geblieben.

Siegmar Gabriel hat Recht, dass die Agenda 2010 nicht die alleinige Ursache für den Zustand der SPD ist; "es gibt sehr viele Entwicklungen, die zu diesem Ergebnis geführt haben. Die ersten Landtagswahlen haben wir nämlich deutlich vor der Agenda 2010 krachend verloren". Die Fehlentwicklung der Sozialdemokratie begann bereits unter Helmut Schmidt vor mehr als einem Vierteljahrhundert. Diese Geschichte wäre politisch-programmatisch aufzuarbeiten.

Was will Gabriel? Zwei Schwerpunkte sind zu erkennen. Erstens Korrekturen einzelner politischer Fehlentscheidungen: "Themen wie die Rente mit 67 oder auch die Mehrwertsteuererhöhung in der großen Koalition haben die Glaubwürdigkeit der SPD tief erschüttert." Bleibt es dabei, kratzt der neue Vorsitzende gleichsam nur an der Oberfläche, dringt zu den falschen politischen Weichenstellungen nicht vor.

Der zweite Schwerpunkt von Gabriel heißt Reform der innerparteilichen Willensbildungsprozesse: "Der Zustand vieler Ortsvereine und Unterbezirke hat schon sehr lange nichts mehr mit einer Volks- und Mitgliederpartei zu tun." Mit guten Gründen wird niemand gegen eine solche Reformabsicht sprechen können. Doch es bleibt wie bei den Inhalten das gleiche Dilemma: Kann man im 21. Jahrhundert zurück zu einer lebendigen, in Ortsvereinen gegliederten Mitglieder- und Volkspartei? Kann man im 21. Jahrhundert zurück zu einer beschleunigten Kapitalakkumulation, indem man die Lasten der sozialen Sicherheit zurückfährt?

Die stark geschrumpfte sozialdemokratische Restlinke knüpft an den beiden Punkten an.[4] Der kritische Bezugspunkt ist das Schröder-Blair-Papier aus dem Jahr 1998. "Zehn Jahre nach dem ›Schröder-Blair‹-Papier hat sich gezeigt, dass dieser Weg gescheitert ist." Organisationspolitisch heißt scheitern: "Gegenüber der Bundestagswahl von 1998 hat sie (die SPD) bei den Wahlen vom 27.9.2009 mehr als 10 Millionen WählerInnen verloren, im gleichen Zeitraum hat sie 1/3 ihrer Mitgliedschaft eingebüßt. Die SPD schafft es nicht (mehr), traditionelle WählerInnengruppen zu mobilisieren und neue zu gewinnen. Es ist wichtig, sich die­se Verluste drastisch vor Augen zu führen, vor allem, weil sie einem Trend folgen, der sich seit 2002 schrittweise verstärkt hat und auch bei den Landtags- und Kommunalwahlen sowie den Europawahlen zu beobachten war. Sie sind nicht einer einmaligen Wahlkampagne zuzuschreiben, sondern berühren den Kern sozialdemokratischer Politik und organisationspolitischer Praxis des zurückliegenden Jahrzehnts."

Auch hier stellt sich die Frage nach der Parteikonzeption im 21. Jahrhundert. Denn klar ist, "dass die Finanz- und Wirtschaftskrise nicht ohne eigenes Zutun der SPD neue Mehrheiten verhelfen wird… Viele andere europäische sozialdemokratische und sozialistische Parteien haben einen ähnlichen Prozess wie die SPD hinter sich. Keine Formation hat bisher eine Antwort auf den Druck von linkspopulistischen Parteien auf der einen und sich mitfühlend und liberal aufstellenden konservativen Parteien auf der anderen Seite gefunden."

Die SPD kann programmatische und politische Glaubwürdigkeit wiedergewinnen, wenn sie sich von der falschen Vorstellung verabschiedet, dass eine beschleunigte Kapitalakkumulation durch Redimensionierung der sozialen Umverteilung möglich wird. Zu Recht plädiert DL21 für einen neuen verteilungspolitischen Diskurs in der SPD. "Die SPD muss sich für Verteilungsgerechtigkeit durch eine stärkere Besteuerung des Faktors Kapital einsetzen… Zu lange wurde sich in Deutschland um die Verteilungsfrage herumgedrückt... Die Schere zwischen Arm und Reich ist in den letzten Jahren überproportional gewachsen. Wir haben eine historisch niedrige Lohnquote erreicht und die Lohnspirale entwickelt sich immer mehr nach unten. Die ungerechte Einkommens- und Vermögensverteilung ist spürbar und greifbar. Die Menschen wollen keinen 'Nachtwächterstaat'".

Wenn das erste Elemente und erste Ansätze für eine neue Politik sind, dann muss sich eine erneuerte Sozialdemokratie allerdings auch von der dümmlichen Formel verabschieden, das sei billiger "Sozialpopulismus" einer anderen linken Partei.

[1] Werner A. Perger: Sanfter Konservatismus und der Verlust der Mitte. Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse, Bonn 2008; www.fes.de
[2] "Gabriels Brief an die Genossen", in: Süddeutsche Zeitung vom 22.10.2009, dokumentiert auf der Homepage: www.sueddeutsche.de
[3] Ebd.
[4] Die Erneuerung der SPD entschlossen angehen! Erste Schlussfolgerungen des Vorstands des Forum DL21 zur Bundestagswahl vom 27.9.2009.

Zurück