25. April 2013 Redaktion Sozialismus: Ein Wahlkampfjahr ohne Streit- und Grundsatzfragen?

Keiner sagt, was ist

Es gibt Wahlkämpfe, in denen es um historische Weichenstellungen geht. 1972 war so einer, in dem über die vertragliche Einhegung des Kalten Krieges (die Brandtsche »Ostpolitik«) mit allen Finessen der parlamentarischen Demokratie (Misstrauensvotum, Stimmenkauf) gestritten wurde.

Oder 1989 im Jahr der Implosion der Systemkonkurrenz, als ein bereits gescheiterter und innerparteilich zum Abschuss freigegebener Kohlscher Neokonservatismus mit der nationalistischen Karte der deutschen Einheit (»blühende Landschaften«) gegen den SPD-Herausforderer Lafontaine obsiegte.

Die Bundestagswahl 2013 scheint dagegen zur langen Reihe jener Plebiszite zu gehören, die man bereits vergessen hat, bevor sie zur Entscheidung gelangt sind. Genau hier liegt das Problem. Denn viel spricht dafür, dass eine lange Entwicklungsepoche an einem Wendepunkt angelangt ist.[1] Streit- und Grundsatzfragen zuhauf – allein in Eu­ropa: vom Absturz im mittlerweile sechsten Jahr der Großen Krise bis hin zur Fassadendemokratie eines zunehmend autoritären Kapitalismus. Diese politi­sche Agenda offen ausgetragen würde dem Demos den ihm zustehenden politischen Respekt zollen!

Doch der Nobelpreisträger Europa bleibt in der politischen Arena hierzulande nahezu ausgespart – es sei denn es geht darum, die Anti-Euro-Plattform »Alternative für Deutschland« außerhalb des Parlaments zu halten. In der Logik des politischen Feldes durchaus verständlich: CDU/CSU und SPD ziehen hier an einem Strang. Der SPD-Kandidat kann nicht zuspitzen, während die Kanzlerin ihre Kunst des »Regierens durch Schweigen« (so treffend der FAZ-Herausgeber Schirrmacher) perfektioniert: eben nicht zu sagen, was ist! Strafverschärfend: Auch die Gewerkschaften fahren nicht in die Parade, nehmen sich des großen Themas nicht an.

Doch es gibt ein weiteres Thema der Großen Krise: die soziale Spaltung der Gesellschaft. Das wiederum ist eng mit der Demokratiefrage verwoben. Mehr noch: mit der Zukunft parlamentarisch verfasster Parteiendemokratie. Dass Parteien ihre Aufgabe in der »Willensbildung des Volkes« sehen sollten, ist längst zu einer Verfassungsfloskel verkommen. Aber Parteien, die das gesellschaftliche »Unten« nicht mehr erreichen, stellen realiter die politische Ordnung zur Disposition. Rechtspopulistische Bewegungen sind ihre Erben: in Italien und Frankreich, um die größten Länder zu nennen, oder in Österreich, wo im kommenden Jahr ein Siegeszug der extremen Rechten zu befürchten ist.

Der äußere Anschein besagt, dass zumindest dieses Thema wahlkampfmäßig bearbeitet würde. Selbstverständlich, dass die LINKE »100% sozial!« fordert. Aber auch der SPD-Vorsitzende wirbt dafür, dass »es wieder fairer und gerechter in Deutschland zugeht«. Mehr noch: »SPD-Politik muss wieder Politik von unten sein.« Käme beides zusammen, könnte das – allen demoskopischen Unkenrufen zum Trotz, wahlentscheidend sein. Doch danach sieht es nicht aus.

Werfen wir den Blick auf die SPD – 150 Jahre nach ihrer Gründung.


Kurskorrektur!?


In ihrem Wahlprogramm fordert die SPD Korrekturen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Neben einer deutlichen Ausweitung der Arbeitnehmermitbestimmung in Aufsichtsräten fordert sie ein neues Kontrollsystem zur Bekämpfung von Lohnungleichheit in den Unternehmen und ein Verbot, Zeitarbeiter in Arbeitskämpfen als »Streikbrecher« einzusetzen. Parallel zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von mindestens 8,50 Euro pro Stunde will die SPD künftig auch mehr tariflich ausgehandelte Branchenmindestlöhne für allgemeinverbindlich erklären. In der Renten-, Pflege- und Krankenversicherung kommt die Partei mit der Solidarrente, der Rentenangleichung und der Bürgerversicherung auf einen reformpolitischen Pfad, der mit der Korrektur der Rente mit 67 später abgesichert werden soll. Ist das glaubwürdig? Vom SPD Kanzlerkandidaten Steinbrück ist der Satz überliefert, die Deutschen hätten es sich in ihrem Leben so bequem gemacht, dass ihnen die Sprungfedern des Sofas im Allerwertesten steckten!

Steinbrücks Credo: Notwendig ist ein neues soziales Gleichgewicht auf der Grundlage ökonomischer Prosperität. »Dem Land geht es gut.«[2] Aber, so der Kanzlerkandidat, den Widerspruch zwischen ökonomischer und politischer Stärke und massiven sozialen Defiziten zu beseitigen, sei die Aufgabe der SPD. Die widersprüchliche Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung wird auf eine einfache Formel gebracht: »Es waren immer Sozialdemokratin­nen und Sozialdemokraten, die soziale Gerechtigkeit und eine florierende Wirtschaft zusammengedacht und zusammengebracht haben«. Angesichts öffentlicher Armut und wachsender sozialer Prekarität haben wir »es damit zu tun, dass sich das Nettogesamtvermögen in den letzten 20 Jahren in privaten Händen auf über 10 Billionen Euro verdoppelt« haben.

Wie konnte das passieren? Der Wendepunkt wird auf das Jahr 1989 datiert. »Mit dem Wegfall dieser – ich nenne es so – ideologischen Systemkonkurrenz, die es damals zwischen Ost und West gegeben hat, sahen einige das Ende der Geschichte gekommen. … Aus der Wahrnehmung von vielen hatte der Kapitalismus endgültig über den Sozialismus sowjetischer Prägung gesiegt. Das hatte Auswirkungen im Denken und im Tun von vielen Beteiligten, weil die Anhänger eines sehr radikalen Marktverständnisses, fast einer Marktversessenheit, die Oberhand bekommen haben. Komplizierter ausgedrückt: Sie gewannen die Definitionshoheit über unsere ordnungspolitische und gesellschaftspolitische Debatte.« Und um Anfeindungen hinsichtlich eigener politischer Verantwortung zu entgehen: »Auch wir Sozialdemokraten haben uns diesem Denken vielleicht nicht genügend entgegengestemmt.«


Bagatellisierung der eigenen Geschichte


»Vielleicht nicht entscheidend genug« – das ist eine höchst eigenwillige Deutung der Geschichte. Die verstorbene Wortführerin des Neoliberalismus, Margret Thatcher, formulierte das anders. Für sie war New Labour eine Verpuppung des harten Neoliberalismus, mit der die Sozialdemokratie an vorderster Front den Umbau des Rheinischen Kapitalismus vorangetrieben hat. Und Peter Mandelson, Blair-Vertrauer, Mitarchitekt von »New Labour« und späterer Wirtschaftsminister sagte 2002: »Wir sind jetzt alle Thatcheristen«. Das Blair-Schröder-Manifest von 1999 – von den Spin-doctors der Vorsitzenden entwickelt und top down durchgesetzt – setzte das programmatisch um.

Dem ging im Jahr 2001 der Crash der so genannten New Economy voraus. Gerhard Schröder bilanzierte damals, dass vom Höhepunkt des Booms bis Ende 2002 Aktienwerte von 1,7 Bio. Euro auf 647 Mrd. Euro abgeschrieben werden mussten. Zwar räumten die rot-grünen Regierungsspitzen ein, dass für das Platzen dieser großen Börsenblase nicht die Lohnabhängigen und ihre Gewerkschaften verantwortlich gewesen seien. Aber – so hieß es in Schröders Regierungserklärung – die massive Entwertung von Eigentumstiteln verlange eine neue politische Kraftanstrengung vor allem mit Blick auf »Fehlentwicklungen« im System der sozialen Sicherung. Insofern wurden Deregulierung, Privatisierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte Leitlinie auch der Politik der deutschen Sozialdemokratie.

Die Regierung Schröder sah sich in »guter« sozialdemokratischer Tradition. Seit dem Sparpaket des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Schmidt gegen den vermeintlichen Leistungsmissbrauch von Sozialtransfers im Jahr 1982 ist in der deutschen und in weiten Teilen der europäischen Sozialdemokratie immer wieder dieselbe falsche Politik praktiziert worden. »Kündigungsschutz lockern, Sozialausgaben senken, Bürokratie abbauen, Gesundheit bezahlbar machen, alles schon mal da gewesen, alles nichts gebracht« (Heiner Flassbeck).


Verlogene Botschaft


Die Sozialdemokratie verkaufte mit Überzeugung eine verlogene Botschaft: Der Sozialstaat in Deutschland überfordere die gesellschaftliche Reichtumsproduktion aufgrund der überzogenen Ansprüche der verschiedenen Klientel und käme ohne massive Sparoperation dem Bankrott immer näher. Gerhard Schröder, Franz Müntefering, Wolfgang Clement, Frank-Walter Steinmeier, Olaf Scholz, Peer Steinbrück und auch Siegmar Gabriel haben die große Mehrheit der Sozialdemokratie in diesem Jahrzehnt repräsentiert. Ihre Rhetorik war, von den mittleren und unteren sozialen Schichten der Gesellschaft Abstriche auf Ansprüche und zusätzliche Eigenleistungen zu verlangen, um die sozialen Aufwendungen einer nicht mehr beschleunigt akkumulierenden Ökonomie anzupassen. Vor allem durch Lohnkostensenkungen und verstärkte Gewinnanreize sollte die globale Konkurrenzposition des Nationalkapitals verbessert werden. Deshalb folgte eine Unternehmenssteuerreform auf die andere, deshalb wurden Unternehmen bei der Finanzierung des Sozialstaats entlastet, deshalb wurde die Staatsquote durch Privatisierung, Sozialabbau und drastische Einschränkungen öffentlicher Investitionen heruntergedrückt, deshalb wurde eine wettbewerbsorientierte Lohnpolitik eingefordert.

Der Vorwurf der sozialen Asymmetrie focht die Vertreter der modernisierten Sozialdemokratie nicht an. Ihrem Verständnis nach war die Revitalisierung »der Wirtschaft« die Voraussetzung dafür, nachfolgend das soziale Inventar der Gesellschaft wieder auf stabile Grundlagen zu stellen. Deshalb wähnten sie sich »jenseits von Links und Rechts«: Stärkung des Kapitals zur Stärkung der Lohnarbeit in einem zugleich modernisierten Sinne – nicht mehr der sozial bedürftigen, auf eine sozialstaatliche Bürokratie angewiesenen Lohnarbeit, sondern jener »empowerten« Lohnarbeit der Arbeitskraftbesitzer, die eigenständig soziale Vorsorge betreiben können. So hat die Politik, die vermeintlich wuchernden Leistungen des Sozialstaats für die ökonomisch-gesellschaftliche Krise verantwortlich zu machen, die Reihen der Sozialdemokraten gelichtet.


Aus den Fehlern gelernt?


Nun gut, das war gestern. Niemandem darf Lernfähigkeit abgesprochen werden. Mit ihrem Wahlprogramm sieht der DGB-Vorsitzende Michael Sommer die SPD wieder auf dem richtigen Weg: »Mit dieser Tonlage kann die SPD auch wieder bei ihrer Kernklientel punkten und darüber hinaus auch weit in das bürgerliche Lager hinein.« Wenn die SPD es schaffe, ihre eigenen Anhänger zu mobilisieren, werde der Funke im Wahlkampf überspringen. Doch wie die Austarierung von »florierender Wirtschaft und sozialer Gerechtigkeit«, damit die »Herrschaft der Demokratie über die Märkte«, trotz Schuldenbremse und massiver Widerstände der besitzenden Klassen umgesetzt werden kann, bleibt offen. Europapolitisch gewendet: »Beggar my neighbour« und neu entdeckte »gesellschaftliche Solidarität« passen – ökonomisch und politisch – nicht zusammen.

Werfen wir erneut einen Blick auf Europa. Eines der ehedem sozialdemokratischen Musterländer ist Dänemark – seit zwei Jahren wieder sozialdemokratisch regiert. Dort ist Südkorea zum Vorbild des »Nordic Model« der Schulreform avanciert: Ausweitung des Unterrichts um rund ein Fünftel (um wettbewerbsfähig zu bleiben), bei gleichbleibender Entlohnung der Lehrer, die zudem ihre Freiheit der Unterrichtsgestaltung einbüßen. Der dänische Schul­streik beleuchtet die Erosion des »skandinavischen Modells«.

In einem anderen »sozialdemokratischen« Land – Österreich – ist das Parteileben zuletzt unter dem SPÖ-Vorsitzenden Werner Faymann erstarrt. Rund 500.000 Mitglieder hat die Partei seit ihrem charismatischen Vorsitzenden Bruno Kreisky verloren.

Die Erneuerung, die die britische Labour Party unter Ed Miliband proklamiert, changiert zwischen »blue« und »purple« Labour. Die Parole vom »responsible capitalism« hat sich als wenig werbewirksam erwiesen. Nun ist von »pre-destribution« die Rede. Man will sich von Umverteilung (»re-destribution«) absetzen durch »Investitionen in Humankapital durch Bildung«. Dabei sind Schule und Hochschule insbesondere in Großbritannien und Frank­reich Horte der Klassengesellschaft. Monsieur Hollandes Taktik, nichts zu versprechen, weil man es eh nicht einhalten könne, mündet in Attentismus. Übertroffen wohl nur noch von der italie­nischen Sozialdemokratie, die sich gegenwärtig ein weiteres Mal an Fragen der »Reform« des politischen Feldes zerlegt.


Vom Ich zum Wir


Die Inszenierung »vom Ich zum Wir« stößt nicht nur wegen des Kandidaten auf Glaubwürdigkeitsprobleme. Eine Partei, die sich lange für die Ich-AG stark gemacht hat und heute das »Wir« zum Leitmotiv erheben will, müsste ein wenig mehr Selbstkritisches über ihren Beitrag zur Zerstörung des Rheinischen Kapitalismus sagen. Die SPD ist politisch und sozialstrukturell »steinbrückiger« als man gemeinhin annimmt. Sie hatte schon vor Steinbrück die allergrößte Mühe, in Arbeiter- und Arbeitslosenquartieren noch den richtigen Zungenschlag zu finden.

Apropos Inszenierung. Die Organisation von Parteitagen als Showevents verhindert mehr Kommunikation und Verständigung, als dass sie Medienöffentlichkeit erringt. Dabei war es der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, der nach der krachenden Niederlage 2009 eine neue innerparteiliche Diskussionskultur ankündigte – mit lebendigen Parteitagen, Mitgliederbefragungen usw. Umgesetzt wurde davon nichts. Über den Kanzlerkandidaten hatte das Parteivolks nicht zu entscheiden – das machte die Führungstroika unter sich aus.

Das Ergebnis ist ein Kandidat, der demonstriert, wie es nicht geht. Den Grund hat Parteienforscher Franz Walter schon 2010 benannt: Über 100 Jahre war die SPD eine Partei der kleinen Leute. »Eine Partei, die geboren wurde aus der Industriegesellschaft, dem Bergbau, den Werften – mit dem Selbstverständnis der produktiven Arbeitnehmerschaft. Diese Bedingungen gelten heute nicht mehr. Es gibt keine klassischen Malocher mehr. Die Voraussetzungen, unter denen unsere Volksparteien entstanden sind, haben sich aufgelöst: die großen Organisationen im Vorfeld, die homogenen Weltanschauungen. Wenn das alles nicht mehr ist, warum sollte dann dieser Parteitypus fortbestehen?« (Interview in: Zeit Online vom 7.4.2010)

Und die LINKE? Gregor Gysi hat schon mal das Urheberrecht an den arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Forderungen der SPD geltend gemacht und betont, dass das dafür eigentlich fällige Autorenhonorar den Wahlkampf der LINKEN gut finanzieren könnte. Eine offensive Auseinandersetzung mit den reformpolitischen Korrekturen der SPD und den sozialpolitischen Vorschlägen der Grünen Partei unterstellt allerdings, dass die in dem umfangreichen LINKEN-Wahlprogrammentwurf »100% sozial!« dargelegten Forderungen auf zentrale Sofortmaßnahmen zugespitzt werden und deutlich gemacht wird, welche weitergehenden gesellschaftsverändernden Perspektiven mit ihnen angestoßen werden sollen.

[1]  Siehe hierzu die Auseinandersetzung von Joachim Bischoff und Christoph Lieber mit Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit.
[2] Nachfolgende Zitate des Kanzlerkandidaten aus seiner Rede auf dem Außerordentlichen SPD-Bundesparteitag, 14. April 2013, Augsburg.

Zurück