1. September 2008 Redaktion Sozialismus

Keynesianisches Programm oder was?

Die SPD ist laut Meinungsumfragen in einem historischen Stimmungstief eingemauert: Die Sozialdemokraten liegen bei nur 20% Wählerzustimmung. Die Partei lag damit 17% hinter der Union, die bei 37% taxiert wird. Die LINKE liegt mit 14% vor der FDP (13%) und den Grünen (11%).

Während der SPD-Vorsitzende Kurt Beck auf seiner politischen Sommertour von nicht enden wollenden Nachfragen über Rot-Grün-Rot in Hessen geplagt wurde, machten Gerüchte um die Rückkehr des "Parteisoldaten" Franz Müntefering in die erste Reihe der sozialdemokratischen Führungselite die Runde. Der Anlass für weitreichende politische Spekulationen war profan, zeigt aber den Grad der Verzweiflung in der SPD: Müntefering will im September seine Arbeit als Bundestagsabgeordneter wieder "in vollem Umfang aufnehmen."

Angesichts der personellen und programmatischen Malaise der Partei sehen viele denselben Müntefering als neuen Hoffnungsträger, unter dessen Vorsitz und Vizekanzlerschaft die SPD einen Massenexodus an Mitgliedern hinnehmen musste. Müntefering, so der Hamburger SPD-Vorsitzende Ingo Egloff, sei für die Sozialdemokraten so etwas wie "die Seele der Partei. Er findet den richtigen Ton, seine Stimme hat Gewicht. Wenn er sich äußert, hören viele in der Partei zu." Müntefering könne in der SPD "ein Stück weit für Orientierung sorgen."

"Orientierung" hat die Partei allerdings bitter nötig – einen kommunikationsfähigen und umsichtigen Steuermann kann sie gut gebrauchen. Mit Müntefering gibt es aber ein Problem: Im Vorfeld seines Rücktritts als Vizekanzler und Arbeitsminister gab es einen heftigen Zwist mit dem Parteivorsitzenden Beck über die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für ältere Arbeitnehmer; Müntefering opponierte gegen die "Abkehr von der Agenda 2010". Auch aus der "Deckung" heraus fand der "Parteisoldat" kritische Worte für die "Hinwendung der SPD zur Linkspartei" oder beklagte schon mal: "Die politische Führung unseres Landes ist weitgehend vakant."

Die Vorstellung, dass Müntefering die SPD im Verein mit Steinmeier und Steinbrück, also den Protagonisten der Agenda 2010-Politik, aus der 20%-Grube herausholt, ist – bei aller Bedeutung des personellen Faktors in der Politik – eine heroische Annahme. Die aktuelle Finanzmarktkrise und die abschmierende Konjunktur stellen auch die sozialdemokratische Partei vor eine große Herausforderung. Soll die ökonomische Talfahrt mindestens abgefedert werden, sind umgehend Maßnahmen zur Stabilisierung der Masseneinkommen und öffentliche Investitionsprogramme einzuleiten. Angesagt wäre also ein klassisches keynesianisches Programm, für das in früheren Zeiten auch schon mal die Sozialdemokratie zu gewinnen war.

Doch die SPD wirkt in der aktuellen Krisenkonstellation gelähmt. Ihre führenden Politiker halten unverzagt an der Politik der Konsolidierung der öffentlichen Finanzen und – trotz kleinerer Korrekturen – der Beschneidung der sozialen Sicherungssysteme fest.

Aber auch das bürgerliche Lager tut sich außerordentlich schwer. "Weltpolitische Auftritte der Bundeskanzlerin, Dauerdebatte über die Wortbrüchigkeit der (hessischen) SPD – trotz vermeintlich günstiger Großwetterlage kommt die Union ... nicht vom Fleck. CDU/CSU haben im August gegenüber dem Vormonat bei der Zweitstimmen-Wahlabsicht (›Sonntagsfrage‹) sogar noch leicht verloren, von 36,3% auf jetzt 36,1%. Damit hat die Union in den Jahren seit der Bundestagswahl ... nicht einmal ein Prozent an Wählerzustimmung gewonnen" – so die Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach von Mitte August. Die FDP profitiert zwar mit ihrer unverzagt kruden neoliberalen Agenda von der Misere der Regierungsparteien, jedoch nur in bescheidenem Umfang. Eine Mehrheit der Mandate für das bürgerliche Lager bei den Bundestagswahlen 2009 kann deshalb zwar nicht ganz ausgeschlossen werden, aber eine schwarz-gelbe Koalition hätte – wenn überhaupt – nur eine dünne Mehrheit.

Teile der politischen Funktionsträger des bürgerlichen Lagers wissen sehr wohl um diese strukturelle Hegemonie­unfähigkeit und suchen deshalb über eine partielle Modernisierung der politisch-programmatischen Position neue Inklusionstrategien zu entwickeln, um die soziale Basis für eine bürgerliche Politik wieder zu verbreitern.

Zu diesem Wissen gehört auch, dass der einsetzende wirtschaftliche Abschwung das Vertrauen der Bevölkerung weiter zu beschädigen droht. Deshalb hat der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) angesichts des einsetzenden Konjunkturabschwungs ein "nationales Anti-Rezessions-Programm" gefordert. Die drohende rezessive Entwicklung erfordere aktives politisches Eingreifen. "Erfahrungen in anderen Ländern zeigen: Wer eine Rezession vermeiden will, der muss es am Anfang tun und nicht erst, wenn der Abschwung voll eingetreten ist." Das Programm umfasst die fünf Punkte Steuervereinfachung, Energiepolitik, nationales Rohstoffkonzept, Finanzmärkte und Ingenieurmangel.

Demgegenüber lehnt die Bundeskanzlerin – wie die Mehrheit der Union – staatliche Konjunkturprogramme strikt ab. CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sieht "keine Notwendigkeit, über ein solches Programm überhaupt nur zu diskutieren". Exemplarisch auch die Reaktion des Wirtschaftsflügels der Union: "Der Wirtschaftsrat erteilt staatlichen Konjunkturprogrammen eine massive Abfuhr. Das Verbrennen von Steuermilliarden in Programmstrohfeuern hat sich hinlänglich genug als Irrweg herausgestellt. Noch heute stottern wir die Kredite für die wirkungslosen Programme der 70er Jahre mühsam ab. In Zeiten der Globalisierung verpuffen staatliche Konjunkturspritzen in einer so exportabhängigen Volkswirtschaft wie Deutschland noch deutlich schneller als damals." (Kurt Lauk, Präsident des Wirtschaftsrates der CDU)

Stattdessen fordert der neoliberale Flügel der Union im Verein mit der FDP das rigorose Festhalten an der Politik der "Haushaltskonsolidierung" und weitere "strukturelle Reformen" auf dem Arbeitsmarkt. So will man die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung noch einmal drastisch senken und die (endgültige) Auflösung der Bundesagentur für Arbeit betreiben. Man müsse sich grundsätzlich die Frage stellen, "ob diese Form der Bundesagentur für Arbeit, wie sie ja heute heißt, überhaupt noch zeitgemäß und sinnvoll ist. Wir könnten langfristig auf diese Behörde auch verzichten, wenn wir einen vernünftigen Weg für die Versicherungsleistung finden können" – so der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Missfelder. Angesichts des erneuten Anstiegs der Arbeitslosigkeit kann die Idee der weiteren Beschädigung oder Zerschlagung der Bundesagentur für Arbeit nur als neoliberales Abenteurertum bewertet werden. Offen ist, wie sich der Grundsatzkonflikt im bürgerlichen Lager bei einbrechender Konjunktur mit den Folgeerscheinungen von ansteigender Massenarbeitslosigkeit und weiter wachsender Armut sowie leerer öffentlichen Kassen entwickeln wird.

Der hessische Ministerpräsident Roland Koch hat im Zusammenhang mit der Diskussion um die Wiedereinführung der Pendlerpauschale die Gegenposition zu Rüttgers markant formuliert: "Die erste Reaktion des Bürgers, wenn er in ökonomische Bedrängnis kommt, ist der Ruf nach dem Staat, nach dem schützenden Mantel. Der Staat kann diesen Mantel nicht bieten. Das ist die alte, gescheiterte Lehre des gelebten Sozialismus... Das Maß dessen, was wir uns leisten können bei Altersteilzeit; Frühverrentung und manchem mehr, dürfen wir nicht überziehen. Sonst gefährden wir alles, was wir uns in der Freizeit leisten können." (Die Welt vom 20.7.2008)

Angesichts der Schwierigkeiten des traditionellen bürgerlichen Lagers, für seine Politik politische Mehrheiten zu finden, richtet ein Teil seine Begehrlichkeiten auf die Grünen – und findet den erhofften Widerhall. Die erste schwarz-grüne Koalition auf Landesebene in Hamburg befindet sich in der Probezeit – in der politische Praxis gibt es bisher nur wenig Reibereien. Voraussetzung für diese neue politische Konstellation war einerseits eine partielle Modernisierung der (Hamburger) CDU insbesondere in der Migrationspolitik, der Schulreform und der ökologischen Modernisierung. Umgekehrt haben die Grünen, von ihrer sozialen Basis her seit längerer Zeit eine Partei der Besserverdienenden, ihre Marsch in die "grüne Marktwirtschaft" fortgesetzt und zeigen sich heute entsprechend offen für "intelligente Formen der Privatisierung" und eine Politik der "Konsolidierung der Staatsfinanzen". Dagegen spielen Fragen der sozialen Spaltung (Hartz IV, Mindestrente etc.) für ihre Politik eine eher untergeordnete Bedeutung.

Für ihren politisch-programmatischen Transformationsprozess und Stellungswechsel im politischen System haben die Grünen bei den letzten Landtagswahlen deutlich Federn lassen müssen. Ein Teil der alten WählerInnenbasis war offensichtlich nicht bereit, die Neubestimmung grüner Politik mit zu tragen. Dies zeigt sich auch darin, dass die Zustimmung zu ihrer Rolle als Oppositionspartei im Vergleich zur Bundestagswahl nur mäßig zugenommen hat. Gleichwohl bleiben Schwarz-Grün oder auch "Jamaika" ernstzunehmende politische Optionen für 2009 – und bundespolitische Spekulationen über Rot-Rot-Grün Wunschdenken, das die Veränderungen im politischen Feld und die dem zugrunde liegenden sozialen Verwerfungen nicht zur Kenntnis nehmen will.

Allerdings gerät die parteioffizielle Konzeption eines "grünen Kapitalismus" auch stärker in die Kritik. So argumentiert beispielsweise der Sprecher des Antirassismus- und Klimacamp: "Der Grüne Kapitalismus ist zweifelsohne eine neue attraktive Geschichte, die die Herrschenden zu verkaufen versuchen. Es ist jedoch eine Mogelpackung. Die ökologische Frage ist immer gleichzeitig eine soziale Frage. Ein Beispiel: Klimawandel wird historisch vor allem vom Norden, den Industriestaaten, verursacht und vor allem im Süden ausgebadet. Die G8-Politik wird diesem Zusammenhang nicht gerecht und kann ihm nicht gerecht werden. Denn: Ziel der Politik der G8 ist es ja, das bestehende, ungerechte und ungleiche System zu stabilisieren. Eine soziale Politik – für mich mithin eine antikapitalistische Politik – ist die einzige Politikausrichtung, die in Bezug auf den Klimawandel ernst zu nehmen ist. Wer die soziale Frage nicht mitdenkt, wer die Frage der globalen Gerechtigkeit nicht mitdenkt, muss beim Thema Klimawandel zwangsläufig scheitern ... Klimawandel ist von Anfang an ein soziales und ökonomisches Problem, und nicht nur ein ökologisches. Klimawandel ist ein Ausdruck der Gesellschaftskrise."

Die Partei DIE LINKE kann angesichts dieser Konstellation – Finanzkrise, Delegitimierung der sozialen Marktwirtschaft, Niedergang der neoliberal infizierten Sozialdemokratie u.a. – ihren gesellschaftlichen Rückhalt in Deutschland ausbauen. In Westdeutschland ist sie zum Zufluchtsort für vor allem enttäuschte sozialdemokratische Wähler­Innen geworden und erreicht in neueren Umfragen fast 10% an Zustimmung in den alten Bundesländern. Die beständige Anprangerung als Ost-Partei oder Nachfahren der SED überzeugt immer weniger.Gleichwohl: Die Zustimmung wächst nicht, weil die LINKE überzeugende PolitikerInnen und zukunftsträchtige, ­realisierbare politische Konzeptionen anbietet, sondern weil die politischen Konkurrenten unbändig schlecht sind.

Ein wachsender Teil der BürgerInnen hofft, dass die LINKE einen Beitrag leisten kann, die anhaltende Prekarisierung und die fortgesetzte Umverteilung von unten nach oben einzudämmen bzw. zu beenden. Obwohl die Gewinne und Vermögenseinkommen in den letzten Jahren explodierten, wurde die Steuersenkungspolitik zugunsten der Reichen fortgesetzt.

Die LINKE setzt sich deshalb zu allererst für eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen und der subalternen sozialen Schichten ein. Die Lohnquote, also der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen, ist seit dem Jahr 2000 von 72% auf nunmehr 64% gefallen. Fast jeder vierte Beschäftigte arbeitet zu einem Lohn von 15.000 Euro jährlich oder darunter. Weil Leiharbeit, befristete Arbeitsverträge, Aufstocker-, Mini- und Midijobs zunehmen, partizipierte die Mehrheit der Bevölkerung nicht an der positiven Konjunkturentwicklung der letzten Jahre. Der Konjunkturabschwung wird wiederum die Schwächsten treffen. Deshalb fordert die LINKE den gesetzlichen Mindestlohn, die Abschaffung des Hartz IV-Systems, eine armutsfeste Rente, aber auch die konsequente Ausrichtung der bundesdeutschen Außenpolitik auf Frieden und die Respektierung des Völkerrechts.

Die Erfolge der LINKEN können nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst das Sofortprogramm in Teilen der Partei umstritten ist. Die politisch-programmatische Diskussion ist eingeschlafen – obwohl der Vorsitzende Oskar Lafontaine auf dem Bundesparteitag in Cottbus mit seiner These "Nur wer eine Antwort auf den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus hat, hat ein ernst zu nehmendes, modernes Programm", wichtige Impulse gegeben hat.

Doch es reicht eben nicht, wenn wenige politische Profis in der Führung der Partei die Politik in eine begründete Zeitdiagnose einordnen können. Die Gefahr eines Rückfalls in die Bedeutungslosigkeit und in die Vielfalt des politischen Sektierertums (siehe dazu die Beiträge zur Situation der italienischen Linken – die Situation in anderen europäischen Nachbarländern ist nicht besser) ist nicht gebannt. Ohne nachhaltige Verankerung in eine kritische zivilgesellschaftliche Basis – von den Gewerkschaften bis hin zu den antirassistischen und klimakritischen Bewegungen – wird die LINKE gleich ihren europäischen PartnerInnen keine Zukunft haben.

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