1. September 2004 Richard Detje und Otto König

"Klima der Unsicherheit"

In der Republik herrscht ein "Klima der Unsicherheit". Die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. Nur noch 10% der abhängig Beschäftigten haben eine positive Einschätzung der gegenwärtigen Wirtschaftslage und erwarten in absehbarer Zeit einen Rückgang der Arbeitslosigkeit. "Einigermaßen entspannt und optimistisch blickt nur noch ein Drittel der Arbeitnehmerschaft in die persönliche Zukunft (im Osten nur ein Fünftel)." Dagegen empfindet "eine wachsende Zahl von Arbeitnehmer/innen die Entwicklung von Wirtschafts- und Arbeitsmarkt als persönliche Bedrohung", bilanziert Polis in einer repräsentativen Arbeitnehmerbefragung vom März/April dieses Jahres.[1]

Das sind keine aufgebauschten Befunde. Während Politik in Talkshows weiterhin als Soap-Opera dargeboten wird, plagen die Bevölkerungsmehrheiten in dieser Republik existenzielle Sorgen. Für gut zwei Drittel der Lohnabhängigen sind das der Erhalt des Arbeitsplatzes und die Sicherung der Altersversorgung. Die Hälfte der Befragten sieht in der Schaffung ausreichender Ausbildungsplätze, dem Erhalt des Sozialstaates mit einem für alle zugänglichen Gesundheitssystem und der Entlastung von Steuern und Abgaben weitere gesellschaftspolitische Kernaufgaben. Ernst genommen werden diese Sorgen in der politischen Klasse allerdings nicht. Im Gegenteil: Dass 64% der Arbeitnehmer/innen die Erfahrung einer wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich machen (eine Zunahme um zehn Prozentpunkte in den letzten vier Jahren), wird als Neidkomplex abgetan – und dies in einer Zeit, in der Unternehmensvorstände sich weigern, die Höhe ihrer Bezüge offen zu legen. Die Stimmung sei schlechter als die Lage, kommentieren die Hobbyastrologen in den Parteizentralen und Redaktionsstuben. Arsch zusammenkneifen statt Jammern auf hohem Niveau, lautet deren Therapievorschlag. Das hat man schon tausendfach gehört. Das Ergebnis ist in den Beschäftigungsbilanzen der Betriebe, auf dem Lohnzettel und in den Rentenberechnungen nachzulesen. Wer Sozialdarwinismus als politisches Programm praktiziert und den Leuten das Gefühl der Bedrohung ausreden will, ist entweder ein Scharlatan oder glaubt tatsächlich, in Zeiten einer ominösen Wissensgesellschaft ließen sich soziale Ängste durch "bessere Kommunikation" aus der Welt schaffen.

Der von der großen Koalition in Berlin Mitte begonnene Marsch in einen immer unzivilisierteren Kapitalismus angelsächsischen Typs ist ein Teil der Bedrohungslage, kein Ansatz zu deren Bewältigung. Folglich nimmt im "Klima der Unsicherheit" die Legitimation der politischen Akteure ab. Polis: "Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ist mit der Bundesregierung unzufrieden, aber auch der Opposition traut nur eine Minderheit eine erfolgreichere Politik zu." Nicht-Wählen ist ein Ventil, das aber nur vorübergehend als Protest wirkt – die politische Klasse steckt das weg, ist doch für sie nur die Aufteilung der gültig abgegebenen Stimmen von Interesse. So bereitet sie selbst noch den Boden nicht für einen Linkspopulismus (den es, solange Links in der Tradition der Aufklärung steht, nicht geben kann – und wer populär meint, sollte nicht vom Populismus reden), sondern für einen autoritären Populismus der extremen Rechten.

Aber was ist mit den Kritikern der großen Koalition? Mit den Gewerkschaften? Folgt man der Polis-Umfrage, hat die Kritik auch an ihnen deutlich zugenommen. Nur noch 33% der abhängig Beschäftigten sind mit der Arbeit der Gewerkschaften zufrieden (2002: 46%), aber 53% schätzen sie als weniger gut bis schlecht ein (2002: 37%). Zwar halten immer noch 70% Gewerkschaften für unverzichtbar und 39% die Mitgliedschaft in ihnen für notwendig, aber auch hier hat in den vergangenen zwei Jahren ein rasanter Erosionsprozess eingesetzt (2002: 83% bzw. 46%).

Die Gründe für diese Entwicklung – die für Mitglieder und Nicht-Mitglieder gleichermaßen gilt – lassen sich aus der Befragung selbst nicht ableiten. In der offen ausgebrochenen Strategiedebatte zwischen IG BCE auf der einen und IG Metall und ver.di auf der anderen Seite – aber ebenso gut innerhalb der DGB-Gewerkschaften – bietet Polis eine "modernisierungspolitische" Interpretation an: Die Gewerkschaften würden heute eher als "veraltet und schwerfällig", als nicht "flexibel" genug und "die schwierige wirtschaftliche Situation" nicht hinreichend berücksichtigend angesehen. Und was die Umsetzungsperspektiven betrifft: vier Fünftel der Befragten wünschen Kooperation statt Konflikt.

Die Wirklichkeit durch diese Brille zu sehen, ist jedoch sehr einseitig. So ist die Aufforderung zur Kooperation klar konditioniert: "um Verbesserungen für die Beschäftigten zu erreichen", und sofern Unternehmer "bereit sind, klare Vereinbarungen über Leistungen und Gegenleistungen festzulegen" – das ist weder ein Freibrief für betriebliche Wettbewerbsbündnisse, noch lässt sich damit die good-will-Absprache zwischen Unternehmerverbänden und Bundesregierung zum Ausbildungsjahr 2004 rechtfertigen. Man könnte die Umfrageergebnisse ebenso gut als Aufforderung zur entschlossenen Wahrnehmung des politischen Mandats lesen: Denn eine Mehrheit von 54% will sich auf die alte Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und SPD offenkundig nicht mehr verlassen und fordert erstere auf, sich "aktiv in die Regierungspolitik ein(zu)mischen, um Verbesserungen zu erreichen". Mehr noch: 35% raten den Gewerkschaften, "öffentlichen Druck zu machen, um die Regierung zu einer Änderung ihres Reformkurses zu zwingen".

Strategiedebatten lassen sich nicht durch Meinungsumfragen entscheiden – zumal wenn diese bislang eher unterschwellig, statt mit hochgeklapptem Visier geführt werden.

Man könnte meinen: In einem Klima anwachsender Unsicherheit und Bedrohung müsste das Bedürfnis nach Interessenvertretung zunehmen – wenn Gewerkschaften weiterhin das Stärkste sind, was die Schwachen haben. Wenn aber das Gegenteil der Fall ist, Gewerkschaften sich also wachsender Kritik von Seiten ihrer sozialen Basis gegenüber sehen, dann sind Konzeption und Anlage gewerkschaftlicher Politik kritisch unter die Lupe zu nehmen. Hierzu liefert die Umfrage einige Hinweise:

  Befragt nach den Gründen für die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft, stehen seit Jahren die Durchsetzung von Lohn- und Gehaltserhöhungen sowie der Abschluss und die Kontrolle der Einhaltung von Tarifverträgen konstant im Vordergrund. Dieses gewerkschaftliche "Kerngeschäft" ist in den letzten Jahren jedoch zunehmend prekär geworden, was man nicht nur in den Verteilungsbilanzen sondern auch daran ablesen kann, dass "heute jede(r) fünfte Arbeitnehmer(in) uneingeschränkt und ein weiteres Drittel zumindest tendenziell der Aussage zustimmt: 'In unserem privaten Haushalt kommen wir finanziell nur über die Runden, wenn wir nebenher noch etwas hinzuverdienen'." Der Grundsatz gewerkschaftlicher Politik, dass Erwerbsarbeit existenz- bzw. lebensstandardsichernden Charakter haben muss, gilt in einer Zeit der treibhausmäßigen Förderung von Niedriglohnbeschäftigung vor allem für Arbeiter und Arbeitslosen immer weniger. Die Anlage der Entgelttarifpolitik steht hier ebenso zur Debatte wie die Forderung nach einer tariflichen und gesetzlichen Mindesteinkommenspolitik.

  Gleichzeitig wird die Forderung nach Einkommensverbesserungen bzw. die Verhinderung von Lohnkürzungen relativiert. Bei den aus Sicht der Beschäftigten für Gewerkschaften vorrangigen Themen dominieren der Erhalt von Arbeitsplätzen bzw. der Abbau von Arbeitslosigkeit (67% West/81% Ost) und die Schaffung von Ausbildungsplätzen (60%/55%). Die Bedrohungslage hat sich für viele weiter zugespitzt: von der Gefährdung des Lebensstandards hin zur Gefährdung der Lebensgrundlagen. Kein Wunder, wenn die sozialen Sicherheiten des Rheinischen Kapitalismus im Eiltempo demontiert werden. Kein Wunder, wenn die Arbeitslosigkeit in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und – wie mit Hartz IV gewollt – wirkt. Weil es "alte Sicherheiten" immer weniger gibt, stehen Verhandlungen über Beschäftigungsgarantien wie jetzt bei VW und Opel hoch im Kurs. Die Daimler-Vereinbarung zeigt: dafür wird auch manche Kröte geschluckt. Wie eine betriebliche Beschäftigungspolitik anzulegen ist, die nicht auf "concession bargaining" hinausläuft – sei es auf Kosten der tariflichen Entgelte und Arbeitszeiten oder bereits prekär beschäftigter Belegschaftsteile –, muss dringend Thema einer intensiven Debatte über den Stellenwert künftiger gewerkschaftlicher Betriebs- und Tarifpolitik und der Abstimmung zwischen den beiden Arbeitsfeldern sein.

  Die Möglichkeiten, mit betriebspolitischen Strategien Arbeits- und Ausbildungsplätze zu schaffen, sind sehr eingeschränkt. Entscheidend sind die wirtschafts- und verteilungspolitischen Weichenstellungen. Zu den positiven Befunden: Auf das von Unternehmern und neoliberalen Politikern propagierte Allheilmittel des Lohnverzichts setzt weniger als ein Fünftel der Beschäftigten. Zu den geeigneten Maßnahmen zum Abbau der Arbeitslosigkeit zählen knapp zwei Drittel eine aktive staatliche Investitionspolitik und gut 70% eine gerechtere Verteilung der vorhandenen Arbeit. Anders sieht das Bild aber aus, wenn danach gefragt wird, welche beschäftigungspolitischen Vorschläge man selbst akzeptieren würde: Zwar ist für Verzichtspolitik auch hier nichts zu holen, aber die Forderung nach öffentlichen Investitionsprogrammen und Einkommensverbesserungen zur Stärkung der Kaufkraft – zentrale Themen der gewerkschaftlichen Agenda – schrumpft auf weniger als ein Drittel der Befragten. Dieser paradox erscheinende Befund offenbart Probleme in der Gesamtkonzeption. Öffentliche Investitionen sind gut – aber bezahlt sie letztlich nicht der "kleine Mann" mit seinen paar Euros? Arbeitsumverteilung ja – aber wer kann sich noch Altersteilzeit oder verkürzte Wochenarbeitszeiten ohne Lohnausgleich leisten? Man kommt mit dem eigenen Geld immer weniger hin – aber sind deshalb Lohn- und Gehaltssteigerungen zumindest in Höhe der allgemeinen Preisentwicklung richtig und eine Stärkung der Massenkaufkraft in den Betrieben verkraftbar? Steuer- und Abgabenentlastungen würden möglicherweise die individuelle Kaufkraft stärken – aber öffentliche Investitionen auf den St. Nimmerleinstag verschieben. Hier zeigt sich, dass Aufklärung nicht punktuell, sondern in Zusammenhängen erfolgen muss. Der Graben zwischen allgemeiner politischer Erkenntnis und zumeist recht widersprüchlicher, auch prekärer Erfahrung muss überbrückt werden. Zusammenhangswissen hebt zwar die unterschiedlichen Ebenen von Betrieb und Gesellschaft, Mikro- und Makroökonomie nicht auf – aber es macht die unterschiedlichen Erfahrungen transparent und bearbeitbar. Es kann doch nicht die Grenze menschlicher Erkenntnisfähigkeit sein, beim Widerspruch stehen zu bleiben, dass in Krisenzeiten betriebliche Kostensenkungsprogramme gefahren werden, die – setzen sie sich konkurrenzvermittelt in allen Unternehmen durch – zum Ruin der Volkswirtschaft führen. Politik bestünde doch gerade darin, diesen Widerspruch perspektivisch aufzuheben. In diese Richtung müsste es gehen und einen wichtigen Beitrag könnte ein verteilungspolitisches Gesamtkonzept leisten.

  Wie sehr Aufklärung im Argen liegt, zeigt die Resonanz auf das politische Spitzenthema der letzten Monate. Die Zustimmung zur Agenda 2010 ist zwar gegenüber dem Vorjahr von knapp der Hälfte auf knapp ein Drittel der Beschäftigten gefallen, aber nur bei den Nichtmitgliedern, während sie unter Gewerkschaftern mit 43% stabil geblieben ist – nur für 39% weist diese Politik in die "falsche Richtung" (im Mai 2003: 41%). Der Weg des "Arbeitnehmerbegehrens für eine andere, soziale Politik" ist richtig – allein schon um die Mitgliedschaft auf die Höhe des gesellschaftlichen Erkenntnisprozesses zu bringen – aber dornenreich. In wenigen Monaten wird er nicht abzuschreiten sein. Die Politik der Aufklärung, der Diskussion und des Dialogs in den Gewerkschaften, in der Zivilgesellschaft muss längerfristig angelegt werden.

Die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Machwerke der Berliner Allparteienregierung haben das "Ansehen der Politik auf einen Tiefpunkt" gebracht. Laut Allensbach-Umfrage im August bekunden "24% in den alten und 39% in den neuen Bundesländern..., keinerlei Vertrauen mehr in die Politik zu haben. 40% der Bevölkerung können zur Zeit bei keiner Partei Verständnis für die Sorgen der Bevölkerung erkennen, 41% bei keiner Partei langfristiges Denken, 56% nirgendwo im politischen Spektrum überzeugende Konzepte." (FAZ, 18.8.04) Ansprechpartner für die Sorgen und Nöte sein, sich durch über den Tag hinausweisendes, vielleicht auch über das herrschende System hinausschießendes Denken auszeichnen und dafür überzeugende Konzepte erarbeiten – auch so könnte man Anforderungen an Gewerkschaften beschreiben, die nicht mit der politischen Klasse in den Strudel des Misstrauens und des Zynismus gerissen werden wollen.

Otto König ist 1. Bevollmächtigter der Verwaltungsstelle Gevelsberg-Hattingen und Mitglied im Vorstand der IG Metall. Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus.

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