1. April 2006 Renate Rausch

Kontinuität oder Linkswende?

Mit der Amtseinführung von Michelle Bachelet als Staatspräsidentin von Chile ist eine Ära zu Ende gegangen, nämlich die sechsjährige Präsidentschaft des Sozialisten Ricardo Lagos Escobar. Natürlich ist die Tatsache, dass eine Frau das höchste Staatsamt ausgerechnet im konservativen Chile einnehmen wird, eine sensationelle Neuigkeit. Aber ob damit ein neuer Abschnitt in der chilenischen Geschichte eingeleitet worden ist – wie einige Auguren meinen –, muss sich erst noch zeigen. Es stellt sich die Frage: Welche Kontinuitäten und welche Veränderungen sind aus heutiger Sicht zu erwarten?

Kontinuitäten

Ricardo Lagos ist Mitglied der Sozialistischen Partei (PS), und die PS bildet zusammen mit der Christdemokratischen Partei (PDC) und zwei anderen Parteien, der Partido por la Democracia (PPD) und der Partido Radical (PRSD), das Parteienbündnis der so genannten Concertación. Dieses Bündnis hat seit der Wiedereinführung der Demokratie im Jahr 1990 vier Regierungen gestellt: die Regierung unter dem Christdemokraten Patricio Aylwin (1990-1993), die Regierung des Christdemokraten Eduardo Frei Ruiz-Tagle[1] (1994-2000), die Regierung des Sozialisten Ricardo Lagos Escobar (2000-2006) und ab dem 11. März 2006 die von Michelle Bachelet Jeria. Die Opposition wird von zwei Rechtsparteien gebildet, nämlich von der früher stark dem Pinochet-Regime verbundenen Unión Democrática Independiente (UDI) und von der gemäßigteren Renovación Nacional (RN). Bis 2005 waren die Oppositionsparteien relativ stark in den beiden Kammern – Abgeordnetenkammer (in der es insgesamt 120 Sitze gibt ) und Senat (mit insgesamt 38 Sitzen) – vertreten. Bei den Wahlen von 2001 war die Zahl der Sitze im Abgeordnetenhaus, die auf die Concertación entfielen, von 70 auf 62 gesunken, und im Senat gab es zuletzt eine Patt-Situation von 18 zu 18 Sitzen. Bei den Parlamentswahlen von 2005 gewann die Concertación dann in beiden Kammern die absolute Mehrheit: im Abgeordnetenhaus 65 von 120 Sitzen und im Senat 11 der 20 Sitze, die zur Neuwahl standen.

Eine gewisse Kontinuität der politischen Situation in Chile besteht darin, dass seit der Wiederherstellung der Demokratie alle Präsidenten von den beiden stärksten Parteien der Concertación gestellt wurden. Allerdings war diese Kontinuität zwischen 2001 und 2002 stark gefährdet: Für die Concertación zeichnete sich eine schwierige dritte Regierungsperiode ab, von der viele politische Beobachter glaubten, dass es wohl die letzte sein würde. So standen die Regierungsparteien 2002 unter dem Druck von mehreren Korruptionsaffären von Abgeordneten und Ministern, deren juristische Aufarbeitung noch immer nicht vollständig abgeschlossen ist. Überraschenderweise verlor aber die rechte Opposition seit 2004 an Boden, was in erster Linie auf den Machtkampf zwischen der gemäßigteren Renovación Nacional (RN) und der Pinochet treuen Unión Democrática Independiente (UDI) bzw. auf persönliche Querelen der Führungsebenen der beiden Rechtsparteien zurückzuführen ist. Die UDI schickte unbeirrt ihren "Frontmann" Joáquin Lavín als Kandidat in die Präsidentschaftswahlen, aber im Wahlkampf 2005/06 trat neben ihm der Milliardär Sebastián Piòera von der Renovación Nacional als zweiter Kandidat der Opposition in den Ring und konnte im ersten Wahlgang nach Bachelet sogar die zweitgrößte Stimmenzahl (25,4%) auf sich vereinigen. (Lavín gewann 23,2% und Tomás Hirsch Goldschmidt, Kandidat einer Linksgruppierung, der so genannten PODEMOS,[2] erhielt 5,4% der Stimmen). Die Stichwahl zwischen Piòera und Bachelet am 16. Januar 2006 konnte Bachelet mit 53,5% für sich entscheiden.

Während die rechte Opposition an Ansehen und Durchschlagskraft verlor, erholte sich Präsident Lagos und erreichte neue Popularitätsrekorde. Gemäß der chilenischen Verfassung ist eine unmittelbare zweite Amtszeit des jeweiligen Präsidenten nicht möglich. Die Concertación musste sich also auf die Kanditatensuche für die Lagos-Nachfolge begeben, wobei sie ihre Wahl gleich zwischen zwei in Frage kommenden Ministerinnen treffen konnte. Beide Frauen leiteten jeweils eines der traditionell von Männern besetzten Ministerien: Soledad Alvelar von der DC war Außenministerin und Michelle Bachelet von der PS war Verteidigungsministerin. Beide sind hoch qualifizierte Frauen, die über großes Ansehen in der internationalen Politik (Soledad Alvelar) und in der Bevölkerung (Michelle Bachelet) verfügten. Da Soledad Alvelar nicht an die Popularitätswerte von Michelle Bachelet herankam, zog sie ihre Kandidatur zurück und überließ der Konkurrentin das Feld.

Nicht erst von diesem Zeitpunkt an arbeitete Ricardo Lagos von der PS konsequent für die Kandidatin Bachelet. Denn so überraschend ihre Wahl zur ersten demokratisch gewählten Staatspräsidentin in Lateinamerika auf den ersten Blick erscheinen mag, die Bedingung dafür, eine Frau als Präsidentschaftskandidatin aufzustellen, wurde während der Amtszeit von Ricardo Lagos geschaffen.

Michelle Bachelet Jeria

Michelle Bachelet Jeria wurde am 29. September 1951 in Santiago geboren. Ihr Vater, Alberto Arturo Bachelet Martínez, war Brigadegeneral der chilenischen Luftwaffe (FACh), ihre Mutter, Angela Jeria Gómez, ist Anthropologin und Archäologin. Ihre Kindheit verbrachte Bachelet in den Ländern und an den Orten, in die ihr Vater als Luftwaffenoffizier versetzt wurde. Als er 1962 zum Militärattaché an der Chilenischen Botschaft in Washington ernannt wurde, zog er zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern Alberto und Michelle in die USA, die dort zur Schule gingen. In Bethesda im Staat Maryland besuchte Michelle eine lokale Grundschule und lernte Englisch. Die Oberschule besuchte sie in Santiago und machte 1969 Abitur. 1970, im selben Jahr, als die Unidad Popular (UP) mit Salvador Allende Gossens, dem Parteivorsitzenden der Partido Socialista de Chile (PSCh), an die Regierung kam, schrieb sie sich an der medizinischen Fakultät der Universität von Chile ein und legte ein glänzendes Zulassungsexamen ab. Die Bombardierung des Regierungsgebäudes, des Palastes der Moneda, und die Besetzung durch das von Augusto Pinochet Ugarte befehligte Heereskommando am 11. September 1973 beobachtete sie vom Dach der medizinischen Fakultät aus. Nach dem Sturz und der Ermordung von Salvador Allende und der Machtübernahme durch das autoritäre Militärregime von Augusto Pinochet wurde Bachelets Vater, der Allende bis zu dessen Tod treu geblieben war, noch am selben Tag verhaftet und ein paar Tage später in die Akademie der Luftwaffe gebracht, wo er von seinen eigenen Untergebenen brutal geschlagen und gefoltert wurde. Ein Kriegsgericht verurteilte ihn Ende 1973 zusammen mit ein paar Dutzend anderen Offizieren und Unteroffizieren wegen Hochverrats. Er starb im März 1974 51jährig an den Folgen der Folter und einer im Gefängnis nicht behandelten Herzkrankheit.

Im Januar 1975 wurden auch Michelle und ihre Mutter von den Agenten der DINA, dem Geheimdienst des Militärregimes, verhaftet, misshandelt und ständigen Verhören ausgesetzt. Durch die Intervention eines Freundes der Familie kamen sie nach einem Monat frei. Sie flogen sofort nach Sidney in Australien zu ihrem Bruder Alberto, der sich dort niedergelassen hatte. 1975 fanden Tochter und Mutter Aufnahme in der DDR, Michelle nahm Deutschunterricht im Herder-Institut in Leipzig und setzte ihr Medizinstudium an der Humboldt Universität in Berlin fort. 1977 heiratete sie den chilenischen Architekten Jorge Leopoldo Dávalos Cartes und brachte im selben Jahr ihren ersten Sohn Sebastián zu Welt. Im Februar 1979 kehrte sie nach Chile zurück, aber das in Berlin absolvierte Medizinstudium wurde nicht anerkannt, und so war sie mehrere Jahre arbeitslos. Erst 1982 erhielt sie die Anerkennung als Kinderärztin, ihre Bewerbung für eine Tätigkeit im öffentlichen Gesundheitsbereich wurde jedoch aus politischen Gründen abgelehnt. Stattdessen erhielt sie ein Stipendium des Colegio Médico, mit dem sie sich in Kinderheilkunde und öffentlicher Gesundheit spezialisieren konnte. 1984 wurde ihr zweites Kind, die Tochter Francisca, in Santiago geboren. 1985 kam es zur Trennung von Dávalos; offizielle Ehescheidungen waren zu diesem Zeitpunkt in Chile noch nicht möglich. Zunächst arbeitete Bachelet als Kinderärztin und zwar ab 1986 in einer Stiftung (PIDEE), einer schwedischen NRO, die sich der Kinder von Eltern annahm, die Opfer des Pinochet-Regimes geworden waren und als "verschwunden" galten, in Wirklichkeit aber tot waren.

Nach dem Amtsantritt der ersten Regierung der Concertación von Patricio Aylwin Azócar im März 1990 arbeitete sie als Ärztin im Gesundheitsdienst der Hauptstadt Santiago, in der CONASIDA (nationale HIV/Aids-Kommission), als Beraterin der OPS (Organización Panamericana de la Salud) und der OMS (Organización Mundial de la Salud) sowie der deutschen GTZ (Gesellschaft für technische Zusammenarbeit). Bachelets zweiter Mann war der Arzt Aníbal Hernán Henríquez Marich, der im Gegensatz zu ihren früheren Freunden ein Anhänger von Pinochet war. Er ist der Vater ihres dritten Kindes, der Tochter Sofía, die 1992 in Santiago geboren wurde.

Mit der Übernahme des Präsidentenamtes durch Eduardo Frei Ruiz-Tagle 1994 erhielt sie eine Beraterstelle im Gesundheitsministerium. In dieser Zeit begann sie sich mit der Rolle des Militärs zu beschäftigen und stellte nach ihren eigenen Aussagen fest, dass Chile zwar "mit der Konsolidierung der Demokratie vorangekommen ist, es aber noch Schwierigkeiten bei der gänzlichen Normalisierung der Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und Militär gab".[3] Sie führte dies zum Teil auf ihre besonderen familiären Erfahrungen zurück und darauf, dass in ihren politischen Vorstellungen die Verteidigungspolitik und ihre institutionelle, politische und kulturelle Verankerung keine angemessene Bedeutung erfahren hatten. Diese Überlegungen veranlassten sie, einen Kurs über Militärstrategie in der Academia Nacional de Estudios Políticos (ANEPE) zu belegen, den sie als Beste ihrer Gruppe abschloss. Daraufhin erhielt sie ein Stipendium, mit dem sie 1997 und 1998 an Kursen im Colegio Interamericano de Defensa (IADC) in Fort Lesley J. McNair, in Washington D.C. in einer Gruppe von Militärs und Zivilisten teilnehmen konnte, die sich in verschiedenen Mitgliedsländern der OEA (Organisation der Amerikanischen Staaten) ausgezeichnet hatten. Bei ihrer Rückkehr 1998 wurde sie aufgrund ihrer neu erworbenen Spezialisierung als Beraterin ins Verteidigungsministerium berufen. Im selben Jahr erfolgte ihre Wiederwahl in das Zentralkomitee der Sozialistischen Partei und die Wahl zum Mitglied der Politischen Kommission der Partei. Im Mai 1999 arbeitete sie im Wahlteam für die Vorwahlen der Concertación für den Kandidaten der PS, Ricardo Lagos Escobar, der in der Regierung von Aylwin Erziehungsminister und unter Frei Minister für Transport und Öffentliche Arbeiten gewesen war. Lagos konnte sich bei den Vorwahlen gegen den Kandidaten der Christdemokraten, Andrés Rafael Zaldivar Larraín, durchsetzen und besiegte dann bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 1999 auch den rechten Gegenkanditaten, Joaquín Lavín von der UDI. Mit der Übernahme des Präsidentenamtes im März 2000 ernannte Lagos Bachelet zur Gesundheitsministerin.

Die gesellschaftspolitischen Ausgangsbedingungen

Die erste Aufgabe, mit deren Lösung der Präsident Bachelet beauftragte, war, innerhalb von drei Monaten die langen Warteschlangen von PatientInnen vor den Sprechzimmern im öffentlichen Gesundheitswesen auf ein Minimum zu reduzieren. Dies gelang ihr allerdings in der von Lagos vorgegebenen Frist nicht hundertprozentig. Die zweite Herausforderung Bachelets während der zwei Jahre in der Leitung des Gesundheitsministeriums bestand darin, die Grundlagen für eine Strukturreform des Gesundheitssystem zu erarbeiten, die den allgemeinen und gleichen Zugang für alle Chilenen und Chileninnen zur medizinischen Behandlung im öffentlichen Gesundheitswesen schaffen sollte. Es wurde ein Plan für die Gesundheitsversorgung bis zum Jahr 2010 erarbeitet sowie neue Programme für die Behandlung von Krankheiten entwickelt, die Erweiterung der Krankenversicherung vorangetrieben und – unter Beteiligung aller betroffenen Personen und Institutionen – eine Gesetzesvorlage für die Reform der Rechte und Pflichten der im Gesundheitswesen tätigen Personen auf den Weg gebracht. Eine weitere wichtige Maßnahme des Ministeriums bestand darin, Frauen, die Opfer von sexueller Gewalt geworden waren, die "Pille danach" kostenlos zur Verfügung zu stellen. Das führte zu einer riesigen Protestwelle in konservativen politischen Kreisen und bei der katholischen Kirche, die darin eine versteckte Abtreibungsmethode sahen. In der Folge untersagte der Oberste Gerichtshof den Verkauf der Pille im August 2001.

Als Lagos im Januar 2002 sein Kabinett umbildete, erhielt Bachelet die Gelegenheit, jene Fähigkeiten in die Praxis umzusetzen, die sie sich in den 1990er Jahren angeeignet hatte, nämlich als Expertin in Militärfragen. Die Ernennung von Bachelet zur Verteidigungsministerin war eine Sensation – nicht nur, weil sie die erste Frau war, die dieses Amt in Chile und in ganz Südamerika übernahm, sondern auch, weil sie seit der Amtszeit von Allende die erste sozialistische Verteidigungsministerin wurde. Hinzu kam, dass sie, wie bereits erwähnt, die Tochter eines Folteropfers war und selbst am eigenen Körper die Grausamkeiten hatte erleiden müssen, die ihr durch die Institution zugefügt worden waren, deren oberste Befehlsgeberin sie jetzt wurde.

Das Zusammentreffen von Henkern und Opfern in der Demokratie und die Überwindung des Grolls ohne Ressentiments und Rachegefühle, vielmehr im Bestreben nach Gerechtigkeit und historischer Wiedergutmachung, war ein Akt voller symbolischer Bedeutung. Das geschah gerade in dem Augenblick, als der alte Pinochet eine angebliche senile Demenz vorschob, um zu verhindern, dass er wegen der Verbrechen, die während seiner Regierung begangen worden waren, vor Gericht gestellt wurde. Bachelet enttäuschte die in sie gesetzten Erwartungen nicht. Ihr Ziel war es, die Streitkräfte zu modernisieren und sie an die neuen strategischen Notwendigkeiten der Verteidigung und Sicherheit anzupassen, wofür sie die volle Unterstützung durch die Hierarchien der Streit- und Ordnungskräfte erhielt.

Im September 2003 war der 30. Jahrestag des Militärputsches, der zum Sturz Allendes und seiner Ermordung geführt hatte. Das Gedenken an dieses Ereignis eignete sich natürlich besonders für Gesten der Wiedergutmachung und der Rehabilitation von Verfolgten und Verurteilten des Pinochet-Regimes. So organisierten das Ministerium und der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine einen Besuch ehemaliger politischer Gefangener auf der Insel Dawson, wo sie inhaftiert gewesen waren. Dazu kam die moralische Wiedergutmachung durch das Heereskommando von General Prats und, was für Bachelet und ihre Familie noch größeren emotionalen Wert hatte, die Rehabilitation ihres Vaters, des Generals Bachelet, in einer Zeremonie zu Ehren aller durch den Kriegsrat von 1973 Verurteilten, die im Dezember 2003 stattfand. Anfang 2004 war die Verteidigungsministerin die beliebteste Politikerin nach Präsident Lagos und ihr Name war als mögliche Kandidatin der Concertación Democrática für die Vorwahlen in aller Munde. Sie galt in den Umfragen als die einzige Kandidatin der regierenden Koalition, die wirkliche Chancen hatte, den Chef der UDI, Joaquín Lavín, der zudem seit 2000 Bürgermeister von Santiago war, bei den Wahlen zu schlagen.

Nachdem die christdemokratische Präsidentschaftskandidatin Soledad Alvelar ihre Bewerbung zurückgezogen hatte und dazu aufrief, die sozialistische Kandidatin zu unterstützen, wurde Bachelet ohne Vorwahlen automatisch zur Kandidatin und im August vom Consejo General der PSCh offiziell zur Präsidentschaftskandidatin ernannt.

In der Vorrede zu ihrem Regierungsprogramm appellierte Bachelet mit großem Pathos direkt an die Gefühle und die Identifikation mit ihrer Kandidatur: "Ich bin nicht für die Macht erzogen worden, und ich habe auch nie etwas getan, um sie zu erreichen. Ich gehöre nicht zur traditionellen Elite. Mein Familienname gehört nicht zu den Namen derer, die als Gründer Chiles gelten. Die Politik trat in mein Leben und zerstörte alles, was ich am meisten liebte. Denn ich wurde Opfer des Hasses. Ich habe mein Leben der Aufgabe gewidmet, diese Umklammerung umzukehren und sie in Verständnis, Toleranz und – warum soll ich es nicht sagen – in Liebe zu verwandeln."[4]

Ironisch präsentierte sie sich als Humanistin, die "alle Todsünden in Chile" auf sich konzentrierte, "als Frau, als getrennt Lebende und Agnostikerin". Sie wollte damit alle jene einladen, sie zu wählen, die mit den Stereotypen, wonach Chile ein Land des Machismo sowie konservativ und klerikal ist, brechen wollten.

Das neoliberale Erbe der sozialistischen Regierung unter Ricardo Lagos

Nach 15 Regierungsjahren der Concertación plädiert Bachelet für die Fortsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik, um Wachstum, stabile Finanzen und die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen bei einer Arbeitslosenquote von ca. 8% zu gewährleisten. Denn die volkswirtschaftlichen Eckdaten Chiles am Ende der Ära Lagos sind beachtlich: eine Wachstumsrate von 6,1% bei einer marginalen Inflationsrate von 1,1% und ein Handelsüberschuss von 9 Mrd. Dollar. Nach Auffassung von Bachelet soll diese günstige wirtschaftliche Entwicklung weiter vorangetrieben werden, um vor allem mehr soziale Gerechtigkeit und die Verringerung der Ungleichheit und der Armut der unteren Schichten der Bevölkerung zu erreichen. Angesichts dieser positiven Einschätzungen des Wirtschaftskurses der Regierung Lagos ist nicht zu erwarten, dass die neue Regierung einen antiliberalen Kurs einschlagen wird, obwohl die sozialen Probleme des neoliberalen Wirtschaftssystems klar auf der Hand liegen. Um nur einige zu nennen: extreme Ungleichheit der Einkommensverteilung, 30% der Bevölkerung an der Armutsgrenze, ein marodes Gesundheitssystem, ungenügende Sozialleistungen, Plünderung der natürlichen Ressourcen, wie etwa die rigorose Abholzung der Wälder für den Export. Das bedeutet allerdings nicht, dass Bachelet diese Probleme nicht erkennt und sich um deren Lösung bemühen wird.

Was die Außenpolitik anbetrifft, so lautet die Botschaft: pragmatisch, multilateral, gute Beziehungen mit der ganzen Welt und immer mit Blick auf Export chilenischer Waren auf die internationalen Märkte. Im Gegensatz zu Luiz Ignácio Lula da Silvas Brasilien, zu Néstor Kirchners Argentinien und Tabaré Vázquez’ Uruguay, die zur Gruppe der links und mitte-links regierten Länder des Cono Sur gehören und das ALCA-Projekt (das Freihandelsabkommen der amerikanischen Staaten "Acuerdo de Libre Comercio de las Américas" – ALCA) heftig kritisieren, sowie Hugo Chávez’ Venezuela und bald auch Evo Morales’ Bolivien, die sich noch radikaler gegen das Projekt wenden, sieht Chile in ALCA weiterhin ein positives Instrument für seine wirtschaftliche Entwicklung, allerdings immer unter der Bedingung, dass die Unterschiedlichkeit der Mitgliedsländer beachtet wird. Bachelet ist der Meinung, dass MERCOSUR und ALCA sich ergänzen und nicht gegenseitig ausschließen. So steht zu erwarten, dass Chile kein Mitglied der "progressiven südamerikanischen Achse" werden wird. Es erfüllt die Bedingungen der Welthandelskommission und des GATT, pflegt seine Beziehungen zu den asiatischen Pazifikländern (APEC) und zur EU und setzt auf Grund seiner geografischen Lage auf seinen Status als Brücke zwischen Asien, den beiden Küsten Amerikas und Europa.

Bachelets eigener Handlungsspielraum

Nachdem bei der Gleichstellung von Frauen in der Administration von Lagos bereits gewisse Fortschritte erreicht wurden, soll in der Regierung von Bachelet nun die absolute Gleichstellung von Frauen und Männern durchgesetzt werden. Sie hat angekündigt, dass in ihrer Regierung erstens die Hälfte der 20 Ministerien von Frauen geleitet werden sollen, dass zweitens die Quoten der Regierungsbeteiligung der zur Concertación gehörenden Parteien eingehalten und drittens auch der Anteil der jüngeren und älteren Funktionäre sowohl auf der Ebene der Ministerien als auch der Staatssekretäre und Unterstaatssekretäre an der Regierung ausgewogen sein sollte.

Trotz einer gewissen Skepsis in Bezug auf diese Personalbesetzungspolitik und ihre Effizienz verfolgten die Medien in einer Mischung aus Neugier und Wohlwollen und teilweise in großer Aufmachung die erfolgten Ernennungen. So lautete eine Überschrift im Mercurio: "Zehn Chileninnen, die Geschichte machen werden".[5] Dank der von Bachelet angekündigten und auch in den Medien nachvollzogenen Transparenz lassen sich die persönlichen Daten der von ihr ernannten Ministerinnen und Minister im Internet unter www.gobiernochile.cl nachlesen. Beeindruckend an der Besetzung der Ministerposten und der ebenfalls paritätisch besetzten Posten der Unterstaatssekretärinnen und -sekretäre ist die ausnahmslos hohe Qualifikation der berufenen Frauen. Michelle Bachelet hatte offenbar keine Schwierigkeit, hoch qualifizierte Frauen für die Besetzung der Regierungsämter zu finden; ein Argument, das Männer häufig anführen,[6] wenn moniert wird, dass sie die zur Verfügung stehenden Posten nicht paritätisch bzw. unter Ausschluss von Frauen besetzt haben.

Ganz besondere Anstrengungen wird Bachelet darauf verwenden, den ständigen Kontakt zu den unteren Schichten der Bevölkerung nicht zu verlieren, denn nur mit der Unterstützung der Basis wird es gelingen, das von ihr gesetzte Ziel, die Herstellung eines "großen Bündnisses zwischen Politik und Gesellschaft" und die Versöhnung mit der jüngsten chilenischen Geschichte, zu erreichen. In den ersten hundert Tagen soll ein Plan mit 36 Maßnahmen durchgesetzt werden. Die vordringlichsten ersten Entscheidungen betreffen die Erhöhung der niedrigsten Renten, den automatischen Zugang zu den Unterstützungszahlungen für Arbeitslose und die kostenlose Behandlung von Menschen über 60 Jahren in den öffentlichen Krankenhäusern.

Große Teile des Regierungsprogramms lesen sich wie ein umfassender Sozialplan, sodass davon auszugehen ist, dass der Schwerpunkt ihrer Regierungsaktivitäten darauf liegen wird, die Lebensqualität derjenigen Gesellschaftsschichten zu verbessern, die bisher von der wirtschaftlichen Entwicklung ausgeschlossen waren. Und das wäre auf jeden Fall eine Wende in der chilenischen Politik und der Beginn einer neuen Ära.

Renate Rausch ist Professorin für Soziologie an der Philipps-Universität Marburg.

[1] Es handelt sich um den Sohn von Eduardo Frei Montalva, der von 1964 bis 1970 Präsident von Chile war.
[2] PODEMOS: "juntos podemos más", Linksgruppierung aus der kommunistischen Partei (PCCh), der Humanistischen Partei (PH) und unabhängigen Linken.
[3] Zitiert nach der Website von Michelle Bachelet: www.michellebachelet.cl
[4] Programa de Gobierno, Michelle Bachelet, Carta a los Chilenos. www.gobiernochile.cl
[5] El Mercurio vom 7.3.2006.
[6] Bekannt sind solche Ausreden wie: "Wir konnten keine geeignete oder ausreichend qualifizierte Frau finden", oder "keine Frau war bereit mitzuarbeiten" etc.

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