1. Mai 2010 Günter Kasch

Kontroverse um den "DGB-Index Gute Arbeit"

Nur selten hat ein Methodenstreit zu Fortschritten einer sozialen Bewegung oder einer Wissenschaftsdisziplin geführt. Ausgerechnet eine zurzeit stattfindende Kontroverse um die wissenschaftliche Fundierung des "DGB-Index Gute Arbeit" könnte jetzt dazu beitragen, die Arbeitswissenschaft aus dem Schattendasein, in dem sie seit Beginn der 1990er Jahre steckt, herauszuholen. Geführt wird die Debatte in der sonst eher hochspeziellen Ergonomiefragestellungen gewidmeten "Zeitschrift für Arbeitswissenschaft".

Der Index und die Kritik

Seit 2007 stellt der DGB jährlich die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung zur Arbeitsqualität vor. Zunächst entwickelt in einer DGB-Projektgruppe zusammen mit dem Institut INIFES, wird der Index heute von der "DGB-Index Gute Arbeit GmbH" herausgegeben. Die erhobenen 31 Fragen werden in 15 Dimensionen der Arbeitsqualität (z.B. Qualifizierung, Arbeitszeit) gegliedert und diese in den drei Teilindizes Ressourcen, Belastungen sowie Einkommen und Sicherheit zusammengefasst. Daraus wird über ein Zuordnungsverfahren eine Aussage destilliert, wie viele der Befragten gute, mittlere oder schlechte Arbeit haben (2009: 12% gute, 33% schlechte und 55% mittelmäßige Arbeit).

Inzwischen gibt es auch spezielle Auswertungen für besondere Beschäftigtengruppen und einzelbetriebliche Erhebungen. Der Index soll über die Verhältnisse in der Arbeitswelt Öffentlichkeit herstellen, Handlungsbedarfe und Entwicklungspotenziale guter Arbeitsgestaltung ausloten helfen. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer bezeichnete 2007 den Index als wichtigste arbeitspolitische Initiative der letzten Jahrzehnte, die Frage der Qualität der Arbeitsgestaltung werde wieder auf die politische Agenda gehoben.

Die nun vorgebrachte Kritik am "DGB-Index Gute Arbeit" fächert sich in drei Stränge auf:
a) das eher einfach strukturierte Generalveto von Seiten der Arbeitgeberverbände,
b) die Methodenkritik: gefragt wird nach empirischer Zuverlässigkeit und Beachtung wissenschaftlicher Gütekriterien der Index-Konstruktion,
c) in Verbindung damit erkenntnistheoretische Problemstellungen über die Beziehung zwischen beobachtendem Wissenschaftler und beobachtetem Feld. Im Kern geht es darum, ob Befindlichkeitsäußerungen von Betroffenen überhaupt Rückschlüsse auf die "Wirklichkeit" zulassen.

Die Arbeitgeberverbände halten den Begründungsaufwand ihrer Ablehnung überschaubar. Die Index-Erhebung folge instrumentellen Zwecken der Gewerkschaften, stelle allein Arbeitnehmerinteressen in den Mittelpunkt der Befragung, wolle tarifpolitische Absichten der Gewerkschaften argumentativ unterfüttern und ähnliche aus der Leichtgewichtsklasse des politischen Vereinslebens stammende Anwürfe sind dort vorfindbar, eher pflichtschuldig referiert und zum vertieften Diskurs ungeeignet.

Die Methodenkritik am empirischen Handwerkzeug des Index hingegen ist in Teilen ernst zu nehmen, die wissenschaftlichen Betreuer des Index haben Berücksichtigung und solide Befassung mit den Einwänden zugesagt. Für Interessenten quantitativ-empirischer Methoden lesen sich die kontroversen Beiträge höchst spannend und lehrreich und könnten zu einer neuerlichen Verständigung über den Methodenkanon der Arbeitswissenschaft führen.

Eher überraschend sind Erörterungen über die Frage, ob individuell geäußerte Befindlichkeiten von Befragten und die darin enthaltenen Werturteile wissenschaftliche Aussagekraft besitzen, oder ob es nicht ausschließlich "objektivierbare" Untersuchungsgegenstände und deren systematische Erfassung geben sollte, um Aussagen über die Qualität von Arbeitsbedingungen zu treffen. Hier schließt sich ein ganzer Pfad wichtiger forschungstheoretischer Fragen an, etwa über die Rolle des Wissenschaftlers im Forschungsfeld, über Selbstanalyse der Betroffenen, die Bedeutung von Expertenwissen usw.

Zurückgegriffen wird in den Zeitschriftenaufsätzen auf erkenntnistheoretische Grundlegungen über die Erkennbarkeit der Welt bei Hegel, Rorty, Adorno oder Sennett. Was auf den ersten Blick wie eine überdehnte Aufladung schlichter Probleme der Datenaufbereitung anmutet, gehört, wenn die Disziplin Arbeitswissenschaft sich zukünftig behaupten soll, zur notwendigen Selbstverständigung der Zunft. Wenn Ingenieurwissenschaft, Arbeitsmedizin, Arbeitssoziologie, Arbeitspsychologie und andere integriert zusammenwirken sollen, und dies ist der Anspruch der Arbeitswissenschaft, sind ihre wissenschaftstheoretischen Grundlagen darzustellen. Wenn ein der Aktionsforschung verpflichteter Forscher, der die Selbstanalyse der Betroffen ins Zentrum seines Interesses stellt, und ein mehr den Verfahren der Materialprüfung verbundener Ergonom gemeinsam Beiträge zur betrieblichen Arbeitsgestaltung leisten wollen, müssen sie die jeweiligen Reichweiten und Grenzen ihrer Ansätze ausweisen. Es wird sich herausstellen, ob dieser Debattenstrang seine Fortsetzung findet und die aufgeworfenen gegenseitigen Vorbehalte produktiv gewendet werden können.

Subtexte: Deutungsmacht und Humanisierungspotenziale

Neben diesem eng auf den "DGB-Index Gute Arbeit" bezogenen Argumentenaustausch transportieren die vorliegenden Texte aber noch zwei weitere, tiefergehende Anliegen. Zum einen geht es um die Deutungsmacht über den Zustand der Arbeitswelt und vermittelt darüber über die Sinnhaftigkeit neuer arbeitspolitischer Initiativen im betrieblichen, im parlamentarisch-politischen und im forschungspolitischen Raum. Und es geht um den Eingriff in die betrieblichen Produktionsregime unter der Maxime Guter Arbeit.

Die Arbeitsberichterstattung des "DGB-Index Gute Arbeit" ist nicht lediglich eine unter inzwischen Dutzenden von Kennziffern, mit denen die Öffentlichkeit traktiert wird. Die kritischen Aussagen dieser Maßzahl korrespondieren mit realen betrieblichen Missständen. Burnout und Dauerstress als Folge überbordender psychischer Fehlbelastungen, körperliche Verschleißkrankheiten durch unzureichend gestaltete Arbeitsmittel entsprechen der Erfahrung von hunderttausenden Beschäftigten. Gleichzeitig bewirkt die zunehmende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen nicht nur eine Bedrohung von errungenen Arbeits- und Sozialstandards, sondern unterbindet die bisher mindestens im Generationenverlauf einkalkulierte Gratifikation für Quälerei und Verzicht: den Kindern wird es nicht besser gehen, prekäre Umstände werden tradiert. Die eigene Lebensqualität der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens unterzuordnen, zahlt sich unter der Ägide der Shareholder-Value-Steuerung für die Beschäftigten zunehmend weniger aus. Arbeitsplatzsicherheit resultiert daraus fast gar nicht mehr. Immer häufiger platzen so die "psychologischen Arbeitsverträge", die als heimliche Abmachung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer Motivation und Arbeitsleistung bestimmen. Für die Beschäftigungsfähigkeit wird im Zuge unsteter Arbeitsverhältnisse die Gesundheit in viel größerem Maße eine unabdingbare Voraussetzung, um durchs Leben zu kommen, als es in Zeiten mit höher regulierten Arbeitsbeziehungen der Fall war. Die Notwendigkeit guter Arbeitsbedingungen wächst also. Gleichzeitig dämpfen oder verhindern Selbstzuschreibung eigentlich arbeitsbedingter Beeinträchtigungen oder Ohnmachtsgefühle angesichts existenzieller Drohungen mit Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg die kollektiven Bewältigungsmöglichkeiten für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Eine Kommunikation im Betrieb oder in der Öffentlichkeit darüber könnte diese Hemmnisse aufbrechen und wirksamen Widerstand ermöglichen. Diese Verständigungschance macht denn auch die eigentliche Brisanz einer arbeitnehmerorientierten Arbeitsberichterstattung aus.

Zum anderen steht die Frage einer Re-Aktivierung der Arbeitswissenschaft an, in einem Sinne, wie es Schweres formuliert: "... für die Weiterentwicklung einer interdisziplinär organisierten Arbeitswissenschaft als wesentliches Element einer Arbeitsforschung, deren Erkenntnisse zur menschengerechten Gestaltung der Arbeit beitragen (§ 90 BetrVG) und damit für gute Arbeitsplätze und 'Gute Arbeit' sorgen." (Z.Arb.Wiss 2/2009, S. 89)

Die Arbeitswissenschaft ist inhaltlich und in ihrer Forschungs-Infrastruktur seit den 1990er Jahren auf einem absteigenden Ast. Lehrstühle sind gestrichen worden, das Einwerben von Forschungsmitteln ist schwierig. Interdisziplinarität ist vor allem in der anwendungsorientierten Forschung oft nur noch Erinnerung. Das Versprechen der Arbeitswissenschaft an die Unternehmen, eine dauerhafte win-win-Situation zu formieren, d.h. zugleich Produktivität, Effizienz, menschengerechte und persönlichkeitsförderliche Gestaltung der Arbeit gewährleisten zu können, verfängt nicht mehr in Zeiten finanzgesteuerter Unternehmensmodelle. Die Arbeitswissenschaft steht vor der Aufgabe, sich in dieser neuformierten Arbeitswelt zu bewähren, oder aber ihren Geltungsanspruch zu verlieren. Übrig bleiben würde ein spezialisierter Anhang der Betriebswirtschaftslehre. Auch diese "Weichenstellung" schwingt in der gegenwärtigen Index-Debatte mit.

Referenzpunkt "Humanisierung des Arbeitslebens"

Referenzpunkt der aktuellen Überlegungen ist die "Blütezeit" der neueren deutschen Arbeitswissenschaft in den 1970er Jahren. Das gut ausgestattete Aktions- und Forschungsprogramm "Humanisierung des Arbeitslebens" (HdA) der Bundesregierung startete 1974. Der bahnbrechende Arbeitskampf für humanere Arbeitsbedingungen für die Fabrikarbeiter (Lohnrahmentarifvertrag II) fand im Herbst 1973 in der Metallindustrie Baden-Württembergs statt. Eingebettet in eine gesellschaftliche Kritikbewegung gegen bevormundende Institutionen gab es eine große Teile der Arbeitswelt beeinflussende Auseinandersetzung über Mitbestimmung, Demokratisierung der Arbeitswelt, gegen entfremdete und krankmachende Arbeitsstrukturen. Unter Anleihe bei der italienischen "Arbeitermedizin" "entdeckten Arbeiter ihre Arbeitsbedingungen selbst" und erhoben Anspruch auf Gestaltung von Produktionsprozessen. Die Arbeitswissenschaft konstituierte sich als integratives Fach, ingenieurwissenschaftliche, medizinische und sozialwissenschaftliche Professionen wirkten zusammen. Soziale Bewegungen, insbesondere die Frauenbewegung, thematisierten neue Fragestellungen und Ansprüche. Gewerkschaften, vornehmlich die IG Metall, richteten eigene Humanisierungsabteilungen ein, legten Aktionsprogramme auf und sorgten für den betrieblichen Transfer. Dass es daneben immer auch von diesen Entwicklungen unberührte gesellschaftliche und betriebliche Bereiche gab, braucht nicht extra erwähnt zu werden.

Die Änderung der Produktionssysteme (Stichwort Automation und Mikroprozessoren), die Anspruchsbildung vor allem der jungen Generation an ihre Arbeit sowie die Expansion neuer Berufe, etwa im Gesundheits- und Sozialwesen, fordert in den Betrieben neue Fokussierungen: Psychologische und soziologische Ansätze bieten Erklärungen für betriebliche Probleme. Das Stressmodell erweitert die Vorstellung vom Menschen als nicht mehr nur physiologisches Maschinenwesen im getakteten Arbeitssystem. Anspruch auf gesellschaftliche Tätigkeit ("Zeit zum Leben") wird reklamiert. Die Arbeitszeitverkürzung als wesentlicher Beitrag, der entfremdeten Arbeit zu entkommen, spielt von nun an eine Dauerrolle. Die Arbeitswissenschaft versteht sich in weiten Teilen als Förderer emanzipatorischer Bestrebungen und der Modernisierung von Verwaltungs- und Produktionsprozessen.

Es kommt auch zu institutionellen Absicherungen: Im Betriebsverfassungsgesetz finden sich die "gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse" (§§ 90/91 BetrVG) als Drehscheibe zwischen Wissenschaft und Praxis. Lehrstühle und Weiterbildungsmöglichkeiten werden eingerichtet. Beratungsmöglichkeiten und große Anstrengungen für innergewerkschaftliche Qualifizierung finden statt.

Bestände aus dieser Zeit sind nach wie vor vorhanden und wirksam, z.B. die Ausrichtung des Arbeitschutzes auf Prävention und ein umfassender Begriff von Arbeits- und Gesundheitsschutz im Arbeitsschutzgesetz, Mitbestimmungsrechte ("Gruppenarbeit", §87 BetrVG), die Erweiterung des betrieblichen Gesundheitssystems ("Gesundheitszirkel").

Verlorene Zeiten für die Arbeitspolitik

Spätestens in den 1990er Jahren kommt es zu "humanisierungspolitischen Erosionen" (Schweres). Die technisch möglichen Standardisierungen von Informations- und Produktionsschnittstellen und die politische Neuformierung des Weltmarktes erlauben eine erweiterte Arbeitsteilung ("Globalisierung"). Die Gewerkschaften müssen eine geschwächte Verhandlungsmacht hinnehmen. Die Innovation von Produktionssystemen ("lean production", "systemische Rationalisierung") sollte, so die durchaus auch in den Gewerkschaften verbreitete Vorstellung, die Arbeitsqualität quasi "naturwüchsig" verbessern und aktive Humanisierungspolitik überflüssig machen.

Die teilautonome Gruppenarbeit verschwindet weitgehend oder unterliegt einem Formwandel zur toyotistischen, streng geführten Team-Arbeit, die Re-Taylorisierung mit kurzen Takten und wenigen Arbeitsinhalten am voll rehabilitierten Fließband wird offizielles Konzept in den großen Montagehallen der Automobilindustrie. Die Arbeitszeit wird tendenziell wieder verlängert, in den anwachsenden Bürobereichen kommt der Begriff "Arbeiten ohne Ende" auf. Eine humanisierungspolitische Antwort auf die Flexibilisierung der Arbeitswelt wird von den Gewerkschaften nicht gefunden. Statt selbstläuferischer kontinuierlicher Humanisierung der Arbeitsprozesse und deren wissenschaftlicher Unterfütterung werden die 1990er Jahren das "verlorene Jahrzehnt der Arbeitspolitik".

Die gegenwärtige Konstellation stellt sich zwiespältig dar. Einerseits findet die Re-Taylorisierung von Industriearbeit ihre spezifische Fortsetzung im Rationalisierungstyp der ganzheitlichen Produktionssysteme. Durch indirekte Steuerung wird vor allem in wissensbasierten Bereichen ein Mix zwischen Autonomie und Kontrolle organisiert. Die Prekarisierung, z.B. in Form des massenhaften Einsatzes von Leiharbeit, unterminiert betriebliche Sozialstandards in drastischer Weise. Andererseits kommt es zur Expansion hochqualifizierter Arbeit in Entwicklungsbereichen, gibt es nach wie vor den Maschinenbau mit der unverzichtbaren Facharbeit oder werden Consultingfähigkeiten bei Monteuren erwartet. Die Arbeitswelt ist hoch zerklüftet und nicht mehr einheitlich zu beschreiben.

Das unerträgliche Arbeitstempo und der Stumpfsinn der Verrichtungen in manchen Montagehallen erfordern eher klassische Begrenzungen durch entschiedenes Eingreifen. Für bislang unbekannte Problemkonstellationen liegen dagegen keine ausreichenden wissenschaftlichen Untersuchungen vor. Für Situationen wie in der Projektarbeit, in der oft selbstbestimmte und kreative Arbeit – also "gute Arbeit" – mit drastischen psychischen Fehlbelastungen einhergeht, fehlen hinreichende Gestaltungsvorstellungen.

In wichtigen Industriebranchen stehen technologische Umbrüche an (Stichwort Elektromobilität). In solchen Phasen sind die daraus folgenden Produktionsprozesse nicht vollständig planbar, die Chancen auf Gestaltungsoptionen für die Verbesserung von Arbeitsbedingungen steigen. Schlichte Kostensenkung und Kommandoregime sind untauglich, Neues zu entwickeln, sowohl was Produkte wie Fertigungsprozesse angeht. Die gegenwärtigen Rückrufaktionen nicht nur von Toyota können auch als Hinweis auf die Grenzen eines kleingetakteten, hochgradig arbeitsteiligen Produktionsregimes gedeutet werden. Und die breit geteilte Bereitschaft der Metallunternehmen in der Krise, durch Kurzarbeit qualifizierte und eingeübte Belegschaften zu halten, lässt, unabhängig von der Krisenkonstellation, Chancen betrieblicher Durchsetzungsmacht erahnen.

Die Gewerkschaften besinnen sich wieder darauf, ihr "Kerngeschäft", die Verbesserung der unmittelbaren Arbeitsbedingungen, wahrzunehmen. Zu nennen wäre hier die "Initiative Gute Arbeit" der IG Metall. Aber auch in den Bewegungen der Erzieherinnen und des Krankenhauspersonals spielten die Arbeitsbedingungen eine zentrale Rolle, bei Ärzten und Lokführern ebenfalls.

Wissenschaftlich-praktische Suchbewegungen

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Re-Vitalisierungshoffnungen auf eine Arbeitswissenschaft in emanzipatorischer Absicht in Verbindung mit einer gewerkschaftlichen Arbeitsgestaltungspolitik nicht als nostalgischer Rückbezug auf die Humanisierungsszenerie der 1970er Jahre, sondern als tatsächliche Möglichkeit und Aufgabe. Diese Erwartung dem "DGB-Index Gute Arbeit" oder der kritischen Debatte zuzuweisen, würde diesen allerdings hoffnungslos überladen. Erweiterte Überlegungen sind dazu anzustellen.

Es ist nicht ausgemacht, wie die Methodendebatte um den "DGB-Index Gute Arbeit" weitergeht. Sie kann als Strohfeuer enden oder auch Impulse setzen für einen Neuanlauf im Ringen um Gute Arbeit. Ganz unmittelbar durchbricht der Index den Ausschluss täglichen Leidens in der Arbeitswelt aus der öffentlichen Wahrnehmung. Dies kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Für die begonnene Erörterung kämen vorderhand wohl drei Dinge zur Weiterentwicklung in Frage:
a) Bezüglich der Gütekriterien der empirischen Erhebung des "DGB-Index Gute Arbeit" würde es sich lohnen, eine größere Expertise aus der Fachwelt einzuholen und ggf. Korrekturen nicht zu scheuen. Das könnte den Index-Wirkungsgrad erheblich erhöhen und Raum öffnen für die mit den Indexergebnissen aufgeworfenen wichtigen Fragestellungen zur zukünftigen Gestalt der Arbeitswelt.
b) Die Arbeitswissenschaft müsste einen ernsthaften Diskurs führen über die Wiederherstellung ihres interdisziplinären Ansatzes, um die Profession zukunftsfähig zu machen. Eine konzertierte Bemühung wäre nötig, um die ausgezehrte Forschungsinfrastruktur wieder auszubauen. Ein einschlägiges und gut dotiertes Forschungsprogramm könnte hier wirken. Die Figur "Humanität und Produktivität" wäre auf ihren Praxisertrag unter den heutigen Produktionsbedingungen abzuprüfen, die Arbeitenden als Subjekt des Erkenntnisinteresses ernst zu nehmen.
c) Die auf Unternehmensseite vorliegende weitgehende Monopolisierung der Gestaltung von betrieblicher Arbeitsorganisation wäre zu durchbrechen. Eine gewerkschaftliche Politik "Autonome Arbeitsgestaltung", also die Herstellung menschengerechter Arbeitsbedingungen als Selbstzweck und nicht als abhängige Variable etwa der Entgeltpolitik, müsste dazu entfaltet werden. Dies wäre ein eigenständiges Aufgabenfeld, basierend auf gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen und den formulierten Ansprüchen der Beschäftigten, den Transfermöglichkeiten in die Praxis durch einschlägige Rechtsansprüche und die Bereitstellung gewerkschaftlicher und betrieblicher Strukturen dafür. Mindestens ebenso wichtig wäre die unmittelbare Organisierung von betrieblichen humanisierungspolitischen "Erfolgen" in wichtigen Gestaltungsfragen. Dafür hieße es, ein arbeitspolitisches Aktionsprogramm zu formulieren.

Günter Kasch arbeitet im Funktionsbereich Gesundheitsschutz und Arbeitsgestaltung beim Vorstand der IG Metall. Zum DGB-Index "Gute Arbeit" siehe: www.dgb-index-gute-arbeit.de; "Zeitschrift für Arbeitswissenschaft", 02/2009 und 01/2010 siehe: www.zfa-online.de; zum Kontext der Diskussion siehe: Schröder/Urban (Hrsg.): Gute Arbeit (Ausgabe 2010) – Handlungsfelder für Betriebe, Politik und Gewerkschaften, Frankfurt am Main 2010

Zurück