1. März 2005 Max Brym

Kosovo versinkt im Elend

Am 18. März 1999 unterschrieb die albanische Delegation in Paris das Abkommen von Rambouillet. Mit der Unterschrift war formal der Weg geebnet für den NATO-Angriff gegen Jugoslawien. An diesem Angriff beteiligte sich auch die Bundeswehr. Dies war ein entscheidender Dammbruch für die neuen internationalen Ambitionen der Bundesrepublik. Der NATO-Luftkrieg begann am 24. März 1999 und endete im Juni 1999.

Seit Juni 1999 steht Kosovo (albanisch Kosova) unter Verwaltung der UNMIK (United Nations Interim Administration Mission im Kosovo). Im Kosovo gibt es seit 1999 mehrere militärische Zonen, in denen NATO-Truppenkontingente stationiert sind. Neben einem französischen gibt es einen amerikanischen, italienischen und britischen Sektor. Das größte Kontigent mit rund 6.000 Mann kommt aus der Bundesrepublik Deutschland. Das Hauptquartier der deutschen Armee befindet sich in der Stadt Prizeren. Das Land wird gängig als UNMIK-Protektorat bezeichnet. Von den ursprünglichen Versprechungen der internationalen Staatengemeinschaft, dem Land Frieden, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität zu bringen, ist sechs Jahre nach Kriegsbeginn nichts übrig geblieben. Kosovo versinkt immer tiefer im sozialen Elend und der Status des Gebietes bleibt ungeklärt.

Ende Dezember 2004 legte das in Prishtina beheimatete Wirtschaftsinstitut "Riinvest" eine Studie zur sozialen Lage im Kosovo vor. Die Ergebnisse der Untersuchung sind erschreckend. Das Institut diagnostizierte, dass im Kosovo "über 12% der Einwohner in extremer Armut leben". Weitere 50% der Bevölkerung leben "in trostloser Armut und befänden sich auf dem Weg in die absolute Armut". Der Bericht geht nicht von einer Verbesserung des Lebens der Kosovaren in den letzten Jahren aus, sondern von einer weiteren "Verschlechterung der Situation". Riinvest kommt zu dem Schluss: "Kosovo ist das ärmste Gebiet in Europa und der Lebensstandard lässt sich am ehesten mit einem Land wie Tadschikistan vergleichen."

Soziales Desaster

Offiziell sind im Kosovo 57% der Menschen arbeitslos. Die tatsächliche Arbeitslosigkeit dürfte allerdings bei knapp 80% liegen. Insgesamt hat Kosovo eine Gesamtbevölkerungszahl von knapp 2,5 Millionen Einwohnern. Das Durchschnittseinkommen eines Arbeiters liegt pro Monat bei 200 Euro (Angaben Riinvest, der Euro ist Landeswährung). Die meisten Arbeitsplätze des Landes gibt es in Prishtina. Hauptsächlich sind das Tätigkeiten im "Öffentlichen Dienst" und Beschäftigungsverhältnisse, die eng mit der UNMIK-Bürokratie verbunden sind. Ein Rentner erhält eine Rente von höchstens 40 Euro im Monat. Die Lebenshaltungskosten sind mit den Preisen in Deutschland zu vergleichen. Ein Rentner gilt demzufolge zu Recht als arm. In der Armutsstatistik finden auch viele regulär beschäftigte Arbeiter mit Familie ihren Platz. Aber noch viel extremer ist die Lebenssituation der Arbeitslosen mit den dazugehörigen Kindern. In der Untersuchung von "Riinvest" heißt es: "34% der Albaner und 4% der Serben leben von weniger als 1 Dollar pro Tag." Insgesamt sollen 64% der Albaner und 49% der Serben von weniger als 2 Dollar pro Tag leben.

Einige albanische Zeitungen sprachen im Herbst 2004 die Befürchtung aus, "dass es im Winter die ersten Hungertoten im Kosovo geben wird". Eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht. In der Studie wird konkret dargelegt, dass in der Stadt Prishtina im Jahr 2003 23.000 Personen eine Arbeit suchten; von diesen Arbeitsuchenden fanden bis Ende 2004 nur 383 Leute einen Arbeitsplatz. Die Zahl der Arbeitsuchenden war aber Ende 2004 in Prishtina wie im ganzen Land um einiges höher als Anfang 2003. Erschreckend sind auch Zahlen aus der Stadt Gjakova, dort gab es 1990 noch 30.000 Arbeitsplätze – heute sind es nur noch ca. 1.500. Kosovo durchlebt momentan die schlimmste Rezession, die es je erfahren hat. Seit September 2000 haben sich die Lebenshaltungskosten verdoppelt, während die Löhne gleich blieben oder sogar sanken. Rund 70% des Einkommens der kosovarischen Familien besteht aus internationalen Spenden und Diaspora-Sendungen. Beides geht jedoch immer stärker zurück.

Fast alle internationalen NGOs arbeiten nach marktwirtschaftlichen Prinzipien. Die "Hilfsstationen" ziehen in Gebiete weiter, welche im Fokus des öffentlichen Interesses stehen. Der potenzielle Spender in der Metropole wird über die Schlagzeilen aus der bürgerlichen Presse angesprochen. Kosovo ist in den Metropolenmedien kein Thema mehr, ergo zieht die kommerzialisierte "internationale Hilfe" weiter, egal wie die Situation im gewesenen Einsatzgebiet Kosovo ist. Private Firmen schrecken davor zurück, in dem Gebiet zu investieren. Zwar gibt es objektiv "ausbeutungsfähiges Menschenmaterial" in Kosovo, aber keine Rechtssicherheit. Der ungeklärte politische Status Kosovos behindert die Entwicklung "normaler" kapitalistischer Verhältnisse. Keinerlei Kompetenzen haben kosovarische Einrichtungen wie das Parlament. Jeder Beschluss der örtlichen "Regierung" muss dem Protektoratsleiter der UNMIK vorgelegt werden. Der serbische Staat regiert zusätzlich nach Kosovo hinein, indem er serbische Beamte, die mit 200 Euro von der UNMIK bezahlt werden, zusätzlich mit 500 Euro pro Monat ausstattet, um rein serbische Parallelstrukturen im Kosovo zu entwickeln. Immer deutlicher zeichnet sich die Absicht der serbischen Regierung ab, Kosovo ethnisch zu teilen.

Interessant ist für Belgrad der wirtschaftlich reiche Norden, das Gebiet um die Stadt Mitrovica. Einst war das Kombinat Trepca in Europa der zweitgrößte Betrieb in Sachen Zink-, Kupfer- und Bleiförderung. Heute liegt das ehemalige Kombinat flach, eine Förderung oder gar Verarbeitung der Rohstoffe findet nicht statt. Die UNMIK vergab eine Option für die Förderung an ein französisch-schwedisch-amerikanisches Kapitalkonsortium. Dagegen wehrt sich die serbische Regierung, sie besteht auf "ihrem" Eigentumsanspruch. Im Bündnis mit der serbischen Regierung stehen private Firmen aus Frankreich und Griechenland, die von der Regierung unter Milosevic Teile von Trepca erworben haben wollen. Überhaupt nicht zur Debatte steht die Forderung der albanischen Bergarbeitergewerkschaft, die die ehemaligen Arbeiter als Eigentümer von Trepca betrachten, da im alten Jugoslawien die Betriebe "Gruppeneigentum" der Arbeiter waren. Die Bergarbeitergewerkschaft bot den serbischen Arbeitern im Norden der geteilten Stadt Mitrovica ein Abkommen an, um gemeinsam die Produktion wiederaufzunehmen. Dieses Vorhaben stößt auf den Widerstand der UNMIK und natürlich auf den Widerstand sämtlicher Nationalisten.

Abschiebungen fördern das soziale Elend

Die bisherigen Strukturen von Bildung, sozialer Wohlfahrt, Gesundheitsvorsorge und Sicherheit können mit der großen Anzahl an rückkehrenden Flüchtlingen nicht Schritt halten. Das Land kann den Rückkehrern weder Unterkunft noch soziale Sicherheit gewähren. Ganz im Gegenteil, besonders wichtig für die Bevölkerung im Kosovo sind die Gelder von Familienmitgliedern aus westlichen Staaten. Diese Existenzgrundlage wird der Bevölkerung aufgrund der rigorosen europäischen Abschiebepolitik ins Kosovo genommen. Führend in der Abschiebung von Menschen ins Kosovo ist die BRD. Jede Nacht finden in Deutschland Jagden nach Menschen aus dem Kosovo statt, um sie umgehend abzuschieben. Kalt ignorierte vor einigen Monaten Bundesinnenminister Schily einen Appell der UNMIK. Diese forderte ihn auf, "von den Abschiebungen aufgrund der vorhandenen sozialen und ethnischen Probleme abzusehen". Besonders die Sicherheit der nicht-albanischen BürgerInnen stellt ein großes Problem dar. Insbesondere Gewalt zwischen den verschiedenen "ethnischen Gruppen" ist noch immer an der Tagesordnung. Dazu sinkt der Lebensstandard der Bevölkerung dramatisch.

Wie geht es weiter im Kosovo?

Das UNMIK-Experiment Kosovo wird von der Bevölkerung, egal welcher Nationalität, als gescheitert angesehen. Die Albaner nennen die UNMIK meist ARMIK, was zu deutsch "Feind" heißt. Der UNMIK-Bürokratie wird zu Recht Inkompetenz und Arroganz vorgeworfen. Erregung lösen die "überdimensionierten" Gehälter der UNMIK-Bürokraten aus. Der Chef der Telefongesellschaft verdient über 20.000 Euro monatlich. Ausländische Polizisten, die keine Ahnung von den Gegebenheiten im Kosovo haben, verdienen das Zehnfache ihrer einheimischen Kollegen. Diese gerechtfertigte Ablehnung der UNMIK wird durch den vorhandenen mehrheitsfähigen Nationalismus kanalisiert. Nach dem Motto: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte, nützt der Konflikt zwischen Albanern und Serben nur der UNMIK. Allerdings hat die UNMIK auch kein Interesse daran, dass es zu nationalistischen Exzessen wie im März 2004 kommt, in denen die Gefahr besteht, daß die UNMIK-Herrschaft plötzlich selbst in die Feuerlinie gerät. Die UNMIK ist an einem dosierten Nationalismus interessiert, obwohl sie ständig Phrasen über die Schaffung eines "multiethnischen" Kosovos von sich gibt.

Gegenwärtig gibt es sowohl auf albanischer wie serbischer Seite Gruppen und Einzelpersonen, die sich für eine Beendigung des nationalen Haders aussprechen. Entscheidend könnte die Arbeit der unabhängigen Berarbeitergewerkschaft in Mitrovica werden. Sie richtet den Fokus ihrer Arbeit auf die soziale Frage. Politiker wie Adem Demaci (ehem. politischer Sprecher der UCK, bis März 1999) setzen sich für den zwischennationalen Dialog und das Ende jeglicher Diskriminierung im Kosovo ein. Der ehem. Studentenführer Albin Kurti (bis Anfang 2001 in serbischer Haft) greift den "dummen Nationalismus" auf allen Seiten an. Dennoch sprechen sich sowohl Demaci wie Albin Kurti für das Selbstbestimmungsrecht Kosovas aus.

Es ist tatsächlich nötig, den Status des Kosovo endgültig zu klären. Denn ohne Lösung der Statusfrage hat eine multiethnische soziale Bewegung keine Chance. Jede Armut und soziale Diskriminierung würden weiter von nationalen Debatten überlagert werden. Jede Art von Protektorat sowie jede Art von Fremdbestimmung gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung können nur zu neuerlichen nationalistischen Exzessen führen und die soziale Frage weiter dramatisch zuspitzen.

Zurück