23. Dezember 2011 Redaktion Sozialismus

Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten

Die totalitäre Verblödung in Deutschland stand im Zentrum der Gesellschaftskritik von Ulrich Sonnemann, zusammengefasst in einem Essayband »Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten«, verlegt im Rowohlt-Verlag 1963. Sonnemanns Zorn galt der deutschen »Feigheit«, dem herrschenden »Mangel an humaner Spontaneität und also an Freiheit«.

Seine Hoffnung: dass in Deutschland eine revolutionäre Idee hervortritt, »unvorhergesehen, aber auf der Stelle erkennbar, mordlos, aber tödlich für die Karrieren aller Arten von Ausrottern, propagandalos, aber sich auf Erden herumsprechend, und ganz ohne Machtdrang und Marschdrang, aber die Freiheit verbreitend«. Als Grund für das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten nannte Sonnemann: deutsche »Innerlichkeit«, die »Abwendung von der Welt«. Diese einst religiös begründete Haltung sei zu schierer »Schäbigkeit« und »Kälte« entartet, zur »Ausgeleertheit der kompletten Indifferenz«. Statt »Innerlichkeit« forderte Sonnemann von den Deutschen in West wie Ost »Öffentlichkeit«, und zwar öffentlichen Ungehorsam: »Mit der Erlernung des Ungehorsams beginnt also alles in Deutschland, und man kann dies, da es bei Nicht-Erlernen des Ungehorsams mit Deutschland selber bald aus ist, gar nicht wörtlich genug nehmen.«

Es ist eben nicht vorbei: Die Zumutungen à la Guttenberg, Wulff, Ackermann u.a. sind immer noch die Folge des Gehorsams und des Mangels an Öffentlichkeit. Nicht die politischen Repräsentanten der in eine Große Krise verstrickten Republik sind das Problem. Angefangen von Franz Josef Strauß über Helmut Kohl bis zu Wolfgang Schäuble und Christian Wulff – die Qualität ist gleichgeblieben: Selbstbedienungsmentalität und Rechtfertigungsversuche von abgrundtiefer Peinlichkeit. Ob ein zinsvergünstigter Kredit über eine halbe Million per Barscheck, ob ein Wechsel von der Economy zur Business Class unter Einschaltung des Inhabers der Fluglinie, ob preiswerte Ferien im Luxusambiente oder der zu Wahlkampfzeiten verdeckt bezahlte Werbefeldzug für ein schlechtes PR-Produkt mit dem tollen Titel »Besser die Wahrheit« – alles Normalität im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten, alles am Rande oder gar mit Überschreitung der Legalität.

Und wo bleibt die Empörung? Das Staatspersonal verliert – zumindest zeitweilig – an Beliebtheit. 31% der Bürger geben an, der Bundespräsident habe für sie an Ansehen verloren. Für eine große Mehrheit der Befragten (63%) habe sich jedoch nichts geändert, bei 2% der Deutschen habe Wulff sogar an Ansehen gewonnen. So beurteilt die Mehrheit der Deutschen die bisherige Amtszeit des Bundespräsidenten positiv. 62% sagen, sie seien damit »zufrieden« oder »sehr zufrieden«. Selbst ein Wechsel der Person ändert ja nichts an der Selbstbedienungshaltung und ihrer politisch-mentalen Bewertung, wie das »politische Talent« aus Franken es vorgelebt hat.

Doch bei aller Wiederkehr des Gleichen, es gibt auch Veränderung. Der Kapitalismus ohne Bürgerlichkeit zeigt sich in einer Weiterentwicklung des Strukturwandels der Öffentlichkeit. Angesichts des vierten Jahres nach Ausbruch der Großen Krise steht die schwarz-gelbe Regierungskoalition ohne ein gesellschaftspolitisches Projekt da, mit dem die leerlaufenden Mechanismen politischer Kultur und Öffentlichkeit korrigiert werden könnten. Auch die Opposition in ihrer Vielfältigkeit beschränkt sich auf einfältige Beiträge zur Stabilisierung des gesellschaftlichen Verblödungszusammenhangs. Denn den mehr oder minder populären Klagen gegen den Finanzkapitalismus korrespondiert das befremdliche Überleben des Neoliberalismus in all seinen Formen und Gestalten.

Die Bilanz von zehn Jahren »deutsche Zustände« bezogen auf die bürgerlichen Kreise und höheren Einkommensgruppen zeigt die rohe Unkultur eines »entsicherten Bürgertums«, das sich infolge ökonomischer wie gesellschaftlicher Krisen bedroht fühlt. »Die Entkultivierung des Bürgertums offenbart sich im Auftreten seiner Angehörigen und in der Art und Weise, wie sie versuchen, eigene Ziele mit rabiaten Mitteln durchzusetzen« (Heitmeyer 2012: 35). Zu dieser schleichenden Veränderung des sozialen und politischen Klimas gehören auch gruppenbezogene Sozialstaatsressentiments eines nach wie vor unterschwellig grassierenden »Sarrazinismus«, der seinerseits wiederum gesellschaftliche Ressentiments gegen die politische Klasse befördert.

Zu diesem Amalgam aus Vertrauensverlust, Politikverdrossenheit und gefährlich latentem Ressentiment gegen die politische Klasse schweigen ihre eigenen Repräsentanten. Geistiger Diebstahl, hohe Diäten und unterschiedliche Formen der Vorteilsnahme sind die neuen Maximen politischen Handelns. Die Nicht-Kommunikation der PolitikerInnen gewinnt durch Twittern neue Dimensionen. Wie ein Déjà-vu-Erlebnis muten die inhaltsleeren Faxe aus dem Präsidialamt und die schmallippige Bekundung »vollsten Vertrauens« in das »Enlightenment« des Bundespräsidenten seitens der Kanzlerin an.

Schon in der Causa Sarrazin verabreichte die Domina Europas, Angela Merkel, eine Kostprobe des entwickelten politischen Stils des 21. Jahrhunderts. Die Selbstgefälligkeit, mit der sie die Kenntnis der Vorabpublikation der Sarrazinschen Thesen als »vollkommen ausreichend« für die politische Auseinandersetzung hielt, war ein Indikator für die intellektuelle Qualität politischer Öffentlichkeit. Der Hohn seitens der überlieferten konzeptiven Ideologen, die die verbliebenen bürgerlichen Zeitungen als museale Kampfstätten der verblichenen ideellen Debatten verteidigen, spricht Bände: »Was wäre in den Zeiten von Peter Glotz, Richard von Weizsäcker, dem Generalsekretär Kurt Biedenkopf – was wäre geschehen? Die Redaktionen hätten sich nicht retten können vor intellektuellen Einsprüchen, Widerlegungen, Korrekturen, Protesten, Debatten – und jetzt? Nur die Kälte der Macht, die nicht liest und nicht zu lesen gedenkt.« (Frank Schirrmacher: Frau Merkel sagt, es ist alles gesagt, FAS vom 19.9.2010)

Und heute Wulff, der nichts gesellschaftspolitisch aufklären kann und will, sich der Bevölkerung gegen­über in Sachen politischer Moral und Tugend nur vage erklärt. »Wo ansonsten von ihm eine leitende Idee verlangt war, schwieg er. Das Jahr 2011 ist das Jahr eines kriselnden Europas, einer Bevölkerung, die den sozialen Abstieg fürchtet. Gibt es ein Wort dazu von Wulff, an das man sich erinnert? Anders gefragt: Kann man sich für 2012 noch einen Satz vorstellen, den der Bundespräsident Wulff zu diesem Thema glaubwürdig aussprechen könnte?«, fragt die taz. So schlecht wie das unfähige Personal, so schlecht die Lösungsansätze für drängende Gesellschaftskrisen. Keine Antworten – nirgends.

Die diversen EU-Krisengipfel des Jahres haben keines der ökonomischen und politischen Probleme der Großen Krise seit dem Zusammenbruch der Lehman Bank im September 2008 sub­stanziell gelöst. Nach einer vorübergehenden Entspannung im Jahr 2010 bleiben alle Krisenursachen virulent: globale Ungleichgewichte, überdimen­sionierte Vermögens- und Finanzmarktstrukturen, keine Stabilisierung der Wertschöpfung, Staatsschulden- und Währungskrise sowie die anhaltende Gefahr politischer Spaltungsprozesse in Europa. All dies steht 2012 erneut auf der Tagesordnung. Dem flüchtigen »Zeitgewinn« des abgelaufenen Jahres stehen die 1,2 Billionen Euro gegenüber, die im neuen Jahr in den Kredit- und Verschuldungsstrukturen der kapitalistischen Metropolen refinanziert werden müssen. Es ist also nur konsequent, wenn die Chefin der obersten Behörde der Weltwirtschaft, Christine Lagarde, die aktuelle Konstellation zu Jahresbeginn mit der Lehman-Pleite von 2008 und der »großen Depression« der 1930er Jahre vergleicht. Damit ist die Diagnose einer Großen Krise, die sich kaskadenartig »revolviert«, auch in den Chefetagen der wirtschaftspolitischen Eliten unmissverständlich angekommen.

Occupy auf deutsch?

Gegen die Entleerung politischer Kommunikation und Deformation demokratischer Strukturen regt sich auch hierzulande Widerstand. Schon 2009 machte eine Bertelsmann-Studie eine Gruppe von geschätzten 20% der Bevölkerung aus, »die ihr Vertrauen an die Möglichkeit knüpft, sich aktiv an politischen und wirtschaftlichen Prozessen zu beteiligen. Die Interviewten aus dieser Gruppe wünschen sich, bei Entscheidungen einbezogen zu werden und möchten ein Klima gegenseitiger Wertschätzung schaffen. Es ist ihnen besonders wichtig, dass Aufgaben kompetent und informiert angegangen werden; sie wollen Wort und Tat aufrichtig in Einklang bringen, langfristig denken, nachhaltig handeln und weltoffen Ausschau nach Innovationen halten. Besonders sensibel reagieren sie bei Maßnahmen, die gezielt Egoismus und Wettbewerb fördern, wenn wichtige Probleme zu kurzfristig angegangen werden sowie gegenüber Entscheidern, die abgekoppelt in ihrer eigenen Wirklichkeit leben oder Teilinteressen mit Lobbyismus durchsetzen. Die Gruppe fordert aktiv die direkte Demokratie und lehnt die repräsentative Demokratie ab.« (Bertelsmann Stiftung 2009: 6f.)

Auch politisch engagierte Intellektuelle wie Habermas oder Redakteure aus FAZ, SZ und taz erheben ihre Stimmen. Im Berliner Haus der Kulturen versammelten sich jüngst Nils Minkmar, Harald Welzer, Franziska Augstein u.a., um öffentlich zum »Quantensprung vom bloß engagierten zum ›intervenierenden‹ Intellektuellen« anzuheben. Und aus der Sicht des Zeitdiagnostikers Mathias Greffrath sind wir gar »am Ende der Aufklärungsphase; nun geht es darum, Ernst zu machen mit unseren Einsichten, mit der Wiedereroberung der kaputten Parlamente, Redaktionen, Fakultäten. Kurzum. Dass auch Intellektuelle sich dem notwendigen, langweiligen demokratischen Alltagsgeschäft stellen.« (Gegen die Finanzoligarchie hilft nur: der demokratische Gegenangriff, taz, 21.12.2011)

Aber das entscheidet sich auf dem politischen Feld selber: »Man erkennt die Präsenz oder Existenz eines Akteurs in einem Feld daran, dass dieser den Zustand des Felds verändert.« (Bourdieu 2001: 50) Wer sich damit bescheidet, Forderungen an die politischen Eliten zu stellen, verändert das Feld noch nicht. Wenn es aber nicht verändert wird, bleiben diejenigen sozialen Kräfte, die einen »Paradigmenwechsel« bewirken können, passiv. Wichtig wäre demnach, eine Politik der sozialen Überwindung der Krise und Systemveränderungen mit einer Erneuerung der Demokratie zu verbinden, die spürbare Veränderungen in den unmittelbaren Lebensverhältnissen im Sinne nachhaltiger Entprekarisierung zur Folge hat – also auf lokaler und regionaler Ebene identifizierbar ist – und ein neues Kapitel partizipativer Demokratie aufschlägt.

Ordnet man die gegenwärtige Krisenkonstellation allerdings in den geschichtlichen Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie ein, ist Skepsis angebracht. Denn eine »genauere Analyse der politischen Reaktionen auf die Krisen von 1873 und 1929 würde zeigen, dass es nicht die kapitalistische Wirtschaft per se, sondern das Zusammenspiel zwischen der Krise des Kapitalismus, starken Wellen der Kapitalismuskritik und politischer Handlungsfähigkeit auf der Basis gesellschaftlicher Mobilisierung war, welches partielle Lösungen für grundlegende Probleme ermöglichte und zu Strukturreformen führte. Die praktisch werdende Kritik des Kapitalismus gehörte dazu, denn die Reformen mussten zumeist gegen den Widerstand machtvoller Akteure im Wirtschaftsbereich erdacht, propagiert und durchgesetzt werden. Natürlich sind die kapitalismuskritischen Stimmungen und Bewegungen in den letzten Monaten stärker geworden. Dennoch: Im historischen Langzeitvergleich ist die Kapitalismuskritik heute schwach« (Kocka 2011a). Die Schwäche der Kapitalismuskritik ist nicht zu bestreiten, aber letztere breitet sich aus und darin liegt eben auch die Chance. »Nach 1873 hat man neue Formen der Regulierung des Kapitalismus im Sinne eines organisierten Kapitalismus entwickelt, und nach 1929/30 ist jedenfalls der amerikanische Kapitalismus im New Deal kräftig reformiert worden und die Theorien von Keynes wurden entwickelt, die lange eine Basis für vernünftige Wirtschaftspolitik dargestellt haben. Ob die gegenwärtige Krise auch zu solchen produktiven Folgen führt? Man versucht es, die Regulierung, die Anstrengungen zur besseren Regulierung der Finanzwirtschaft werden weltweit diskutiert, aber sind noch nicht weit vorangekommen. Man kann auch den gegenwärtigen Schritt zu mehr Integration in EU-Europa oder in Euro-Europa als einen produktiven Schritt aus der Krise heraus deuten. Aber im großen und ganzen kann man nur noch sehr unsicher sein, was die Lernerfolge aus der letzten Krise angeht ... Die Kritik am Kapitalismus hat immer zu den wichtigsten Bedingungen dafür gehört, dass er reformiert werden konnte. Alleine tut er das nicht. Es müssen Erwartungen an die Wirtschaft formuliert und auch mit öffentlichem Druck durchgesetzt werden, zum Teil gegen kurzfristige Interessen der wirtschaftlichen Akteure. Und man sieht das bei der Analyse zurückliegender Krisen: Soweit sie auch neben schrecklichen Konsequenzen zu produktiven Folgen geführt haben, hängt das auch mit dem Zusammenspiel zwischen Krise, Kapitalismuskritik und, ja, politischer Mobilisierung zusammen« (Kocka 2011b).

Im Krisenjahr 2012 wird es reichlich Chancen geben, aus diesem Zusammenspiel etwas Neues zu machen.

Literatur

Bertelsmann Stiftung (2009): Vertrauen in Deutschland. Eine qualitative Wertestudie der Bertelsmann Stiftung. Trask Force »Perspektive 2020 – Deutschland nach der Krise« vom 27.12.2009, Gütersloh.
Bourdieu, Pierre (2001): Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz.
Heitmeyer, Wilhelm (2012): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in einem entsicherten Jahrzehnt, in: Deutsche Zustände. Folge 10, hrsg. v. W. Heitmeyer, Berlin.
Kocka, Jürgen (2011a): »Diese Krise ist ein Moment der Wahrheit«, Gespräch in Berliner Republik, Heft 5.
Kocka, Jürgen (2011b): Verschuldung macht Staaten »ungeheuer verletzlich heute«, Interview im Deutschlandradio am 16. Dezember.

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