21. Februar 2014 Gerhard Stuby

Leerstellen

Warum Christopher Clarks Buch zum Kriegsausbruch 1914 gut in die politische Landschaft passt. Seit Monaten steht das Buch von Christopher Clark, Die Schlafwandler,[1] auf den Bestsellerlisten. Man fragt sich, warum?

In der Weimarer Zeit nannte man ihn den »Schandparagrafen«, gemeint war Art. 231 des Versailler Vertrags, der die Deutschen für alle Kriegsschäden verantwortlich machte. Christopher Clark geht auf ihn im Zusammenhang mit der »Kriegsschuld«, die er in Anführungszeichen setzt, schon in der Einleitung zu seinem 895 Seiten starken Buch ein. Zwar gebe es auf allen Seiten massenhaft Akteneditionen, so die »Große Politik«, jene Edition des Deutschen Reiches, die Deutschlands Alleinschuld widerlegen sollte. Auch andere Aktenveröffentlichungen, wie die der Bolschewiki, hätten ausschließlich politischen Zielen gedient. Auch die englische Edition »British Documents on Foreign Affairs« bekommt ihr Fett weg. Alle diese Publikationen seien – apologetisch oder anklagend – subjektiv.

Schon allein durch diese Bemerkung erzeugt Clark den Anschein, sein Narrativ – er oder der Übersetzer führt diesen modischen Ausdruck selbst an – sei anders, nämlich eine präzise Darstellung des Geschehensablaufs bis zur Julikrise 1914. Seine Darstellung sei sich allerdings der Komplexität der »multilateralen Interaktionen von fünf autonomen, gleichwertigen Akteuren« (oder sechs mit Italien, S. 13) bewusst. Deshalb habe er sein Thema von vornherein eingegrenzt.

Die Zeit nach der Julikrise, vor allem die Friedensverhandlungen in Versailles, die den Deutschen den »Schandparagrafen« bescherten, den sie als Demütigung empfanden, interessieren ihn nur am Rande; auch die spätere deutsche Wahrnehmung wird von Clark nicht weiter beachtet. Zwar stellt er bisweilen unmittelbare Gegenwartsbezüge her, z.B. schon in der Einleitung zur Kubakrise (S. 13) oder zu den Anschlägen auf das World Trade Center von 2001. Dennoch gehe es in erster Linie um die detaillierte Erzählung der Vorgänge in den Köpfen der Entscheidungsträger (Könige, Kaiser etc.). Auch deren Ängste und Vorahnungen will er nicht aussparen.

Er möchte den tatsächlichen Verlauf rekonstruieren, und das im Unterschied zu allen bisherigen Darstellungen – was er nicht sagt, aber wohl so meint. »Das vorliegende Buch setzt sich zum Ziel, die Julikrise von 1914 als modernes Ereignis zu verstehen, als das komplexeste Ereignis der heutigen Geschichte, womöglich bislang aller Zeiten. Es befasst sich weniger mit der Frage, warum der Krieg ausbrach, als damit, wie es dazu kam.« (S. 17)

Clark beginnt mit der serbischen Geschichte seit dem Beginn von Eigenstaatlichkeit im frühen 19. Jahrhundert, schildert alle Facetten des politischen Systems, vor allem die latente Gewaltbereitschaft (bis S. 100). Die Verquickung von Regierung und Terrorgruppen wird zumindest vermutet, ebenso, dass bis heute solche Strukturen noch existieren. Daneben steht ein weiteres Kapitel über die Strukturprobleme und Funktionsweise Österreich-Ungarns (bis S. 169).

Im zweiten Teil folgen vier große Kapitel, welche aus unterschiedlichen Blickwinkeln den »geteilten Kontinent« seit etwa den 1880er Jahren skizzieren. Vieles kann man – vor allem innenpolitisch fundierter aufbereitet – bei Autoren wie Ernst Engelberg,[2] Konrad Canis,[3] Hans-Ulrich Wehler[4] und jüngst Luciano Canfora[5] finden. Allerdings tritt bei diesen die Multilateralität der verschiedenen personellen Strukturen der einzelnen Großmächte nicht so sehr in den Vordergrund. Das Zusammenwirken der je unterschiedlichen, im Zeitablauf wechselnden Größen von Monarchie mit ihrem bürokratischen Apparat, Diplomatie und zivil-militärischen Beziehungen schildert Clark recht eindrücklich. Auch die amorphe Größe der Öffentlichkeit (Medien) erwähnt er, wenn auch nur flüchtig.

Mit Recht verweist Jost Dülffer (H-Soz-u-Kult, 21.11.2013) darauf, dass diese knappen 300 Seiten am ehesten herkömmlicher Geschichtsanalyse entsprechen. Sie zeigen, wie sich die Krisenszenarien in den ersten Jahren des Jahrhunderts änderten, kriegsanfälliger wurden. 1907 sei ein welthistorischer Umbruch gewesen; die Bosnienkrise 1908, der osmanisch-italienische Krieg 1911/12 und vor allem die beiden Balkankriege 1912/13 verschärften das Klima weiter.[6] Auffällig ist allerdings gerade bei diesen Passagen – und es verwundert, dass gerade Jost Dülffer[7] hiervon nicht spricht –, dass nichts über das damalige Völkerrecht gesagt wird.

Auch taucht bei Clark im Sach- und Personenverzeichnis weder der Begriff Völkerrecht noch der der Neutralität auf. Der Schlieffenplan, der maßgebliche Masterplan zum Überfall auf das neutrale Belgien, wird mehrmals erwähnt, jedoch ohne jeden Bezug zur Neutralität. Es fällt kein Wort über die Haager Konferenzen 1899 und 1907. Dort wurden nämlich die völkerrechtlichen Regeln entwickelt, nach denen der Erste Weltkrieg verlief.

Wie wir wissen, war das nicht sehr erfolgreich. Denn vor allem die deutschen Vertreter weigerten sich im Haag – völlig versunken in ihren Blick auf den »Platz an der Sonne« –, wirksamere Regeln zu entwickeln. Dass den deutschen Militärs die belgische Neutralität keinen Pfifferling Wert war, sieht man nicht nur an den Teenager-Äußerungen des deutschen Kaisers – immerhin erwähnt sie Clark auf S. 245, allerdings nur im Zusammenhang mit einer angeblich gleichen Option des französischen und britischen Generalstabs. Es macht doch einen gewichtigen Unterschied, dass der Schlieffenplan später tatsächlich durchgeführt wurde, während die französischen und britischen Überlegungen Pläne blieben.[8]

Die folgenden gut 250 Seiten hätte sich der ermüdete Leser geraffter gewünscht. Schon im ersten Teil hatte er alle Einzelheiten des Attentates von 1903 auf König Alexander und Königin Draga durchlebt – »der französische Roman, den die Königin gelesen hatte, lag aufgeschlagen mit den Seiten nach unten« (S. 24) – und alle Grausamkeiten nachvollziehen müssen: »Das Paar wurde in einem Kugelhagel aus nächster Nähe niedergeschossen … Es folgte eine Orgie sinnloser Gewalt … Der Leichnam der Königin wurde zum Geländer geschleppt und so gut wie nackt und völlig blutverschmiert in den Garten geworfen« (S. 25). Jetzt wird nochmals jede Einzelheit des Attentats von 1914 auf Großherzog Franz Ferdinand ausgebreitet (S. 483). Detailreicher geht es wirklich nicht mehr: »Potiorek [Gouverneur von Bosnien, G.S.] rief dem Fahrer ärgerlich zu: Sie fahren ja falsch! Wir sollten über den Appelkai!« »Der Motor wurde ausgekoppelt und der Wagen rollte langsam zurück auf die Hauptverkehrsader. Damit war der Moment für Gavrilo Princip gekommen.« Kriminalromane gewohnte Leserinnen und Leser mögen solches schätzen, aber geschichtsinteressierte Zeitgenossen?

Mag sein, dass die Lektüre von Wehler, Engelberg oder Canis anstrengender ist, vielleicht ist sie aber auch ertragreicher. Denn diese Autoren versuchen, Strukturen wie Imperialismus und Nationalismus mit ihren gesellschaftlichen Hintergründen aufzudecken. Clark – von seinem detailis­tischen Ansatz her konsequent – klammert sie aus oder erwähnt sie nur am Rande. Das alles interessiert ihn weniger, wie er ausdrücklich bemerkt. Ja, er geht noch weiter. Er stellt ausdrücklich darauf ab, dass er sich in die Perspektive der Akteure versetzt, und behauptet sogar, wenn diese damals schon gewusst hätten, wie der weitere Verlauf des Geschehens sich gestalten würde, hätten sie Abstand genommen oder zumindest versucht, die Notbremse zu ziehen. Ist das so sicher? Jeder rechnete doch mit dem eigenen Sieg und der Niederlage des anderen. Warum sollten gerade die deutschen Militärs sich anders verhalten?

Wie erwähnt, konsequent von seinem Ansatz her verliert Clark nur am Rande einige Bemerkungen über wirtschaftliche Zusammenhänge oder Daten der Parteiengeschichte. Die nicht ganz unwichtigen, mit den Stimmen der SPD verabschiedeten Kriegskredite schmelzen ebenso zu einer Randbemerkung zusammen wie die Revolution in Russland von 1904/05. Selbst wenn man ihn als »brisanten Disponenten seines Materials und als glänzenden Stilisten« einstuft, wie Martin Ebel im Deutschlandfunk es tut (1.12.2013),[9] können all die von Clark geschilderten Details über solche Lücken nicht hinweghelfen. Ganz abgesehen davon, dass man über Disposition und Stil auch anderer Meinung sein kann. Beides ist eben Geschmackssache! Dass Clark seinen Erfolg in Deutschland ausnutzt, kann man ihm nicht vorwerfen. Er verhält sich wie die meisten, eben marktgemäß. Sein Erfolg ist allerdings ein Stimmungsbarometer für die hierzulande veröffentlichte Meinung.

Die meisten Rezensenten verbeugen sich deshalb so tief vor ihm, weil er gut in die politische Landschaft passt. Will man (auch militärische) Verantwortung in der Welt übernehmen, wie Bundespräsident Gauck vorschlägt, kommt Entlastung von Verantwortung für den Ersten Weltkrieg im richtigen Moment. Und Christopher Clark hat sicherlich nichts gegen seinen Erfolg. Ja, wer will, kann sich mit ihm freuen. Nur mit Wissenschaft oder gar geschichtlicher Wahrheit, auch wenn man sie nur als Annäherung begreift, hat dieses Buch allerdings wenig zu tun.

Gerhard Stuby war bis 2000 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und wissenschaftliche Politik des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Universität Bremen. Im VSA: Verlag erschien von ihm zuletzt, zusammen mit Norman Paech, Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen. Aktualisierte Ausgabe, Hamburg 2013.

[1] Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, 895 Seiten (Engl. Orig. London 2012). Vgl. dazu auch den ausführlichen Essay von Klaus Wernecke: Außenpolitik ohne Unterbau – Christopher Clarks Mächte auf dem Weg in den Ersten Weltkrieg, in: Sozialismus 12-2013.
[2] Ernst Engelberg: Bismarck. Das Reich in der Mitte Europas, Berlin 1990
[3] Konrad Canis: Von Bismarck zur Weltpolitik: deutsche Außenpolitik 1890 bis 1902, Berlin 1997
[4] Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3. Band, München 1995
[5] Luciano Canfora: August 1914 oder: macht man Krieg wegen eines Attentats?, Köln 2010
[6] http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-4-148
[7] Jost Dülffer: Regeln gegen den Krieg? Die Haager Friedenskonferenzen 1899 und 1907 in der internationalen Politik, Berlin 1981
[8] Zum Schlieffenplan als »kalkuliertes Risiko« und als völkerrechtliche Provokation vgl. Gerhard Stuby: Vom »Kronjuristen« zum »Kronzeugen«. Friedrich Wilhelm Gaus: Ein Leben im Auswärtigen Amt, Hamburg 2008, S. 41ff.
[9] www.deutschlandfunk.de/die-schlafwandler-wie-europa-in-den-ersten-weltkrieg-zog.700.de.html?dram:article_id=270753

Zurück