1. November 2007 Joachim Bischoff

Linksschwenk der SPD?

Auf ihrem Hamburger Parteitag hat die SPD ein neues Grundsatzprogramm beschlossen und den Kurs bis zu den Bundestagswahlen im Jahr 2009 abgesteckt. In der Öffentlichkeit wird seit Wochen darüber spekuliert, ob mit diesen Beschlüssen ein Linksschwenk eröffnet wird.

Die Parteiführung greift im geschichtlichen Rückblick die These von einem sozialdemokratisch geprägten 20. Jahrhundert auf. "Über weite Strecken der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war die Sozialdemokratie als gestaltende Kraft auf der Höhe ihrer Zeit. Westeuropas ökonomischer Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg war in beträchtlichem Maße das Ergebnis des historischen Triumphs der Idee der Sozialen Demokratie."[1] Die Erfolgsgeschichte des sozial regulierten Kapitalismus stützt sich auf einen intervenierenden Sozialstaat in nationalstaatlich begrenzten Industriegesellschaften. Die Sozialdemokratie unterstreicht, dass diese Konstellation grundlegend verändert worden ist.[2] Zeitweilig konnte man – so Platzeck, Steinbrück und Steinmeier – durchaus den Eindruck haben, dass die Gestaltungskraft der Sozialdemokratie erschöpft ist. Mit der Agenda 2010 und dem damit verbundenen größten Umbau des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes in der Geschichte der Bundesrepublik sei aber die Trendwende eingeläutet worden: "Der konsequente Erneuerungskurs der Regierung Schröder war ein guter Anfang. Er hat uns Sozialdemokraten wieder auf Augenhöhe mit der Wirklichkeit gebracht. Diesen Weg müssen wir deshalb entschlossen weitergehen."[3]

Augenhöhe Neoliberalismus

Strittig war in der innerparteilichen Debatte um das neue Grundsatzprogramm, was unter Weiterentwicklung des Erneuerungskurses verstanden werden soll. Mittlerweile ist auch in der SPD angekommen, dass die entwickelten kapitalistischen Gesellschaften durch eine beständig sich vertiefende soziale Spaltung charakterisiert sind. Wie also mit dem Problem der unsicheren, prekären Beschäftigungsverhältnisse umgehen? Wie können die Millionen ausgegrenzter BürgerInnen wieder in Arbeit gebracht werden, aber so, dass sie vom Gegenwert ihrer Arbeitsleistung auch einigermaßen würdig existieren können? Wie kann unter den veränderten Bedingungen des "Raubtierkapitalismus" (Helmut Schmidt) soziale Sicherheit gewährleistet werden?

Die zentrale Antwort auf diese Fragen lautet im neuen Grundsatzprogramm: "Und tatsächlich stehen sich auch in den heutigen Globalisierungsdebatten prinzipiell wieder dieselben Gruppen unversöhnlich gegenüber, die schon vor einem Jahrhundert über die Zukunftsperspektiven des Kapitalismus stritten: hier die liberalen Verfechter ungezügelter Märkte, dort die orthodoxen Linken alter Schule, denen Märkte per se mindestens verdächtig sind ... Und heute wie damals bieten die Prinzipien der Sozialen Demokratie ... das ... beste und verlässlichste Navigationssystem für politisches Handeln."[4] Das Bild vom Navigationssystem mag zutreffen, die entscheidende Frage lautet aber: Kommen wir mit der Politik der Agenda 2010 zu einer neuen Form von Regulation zurück, durch die dem Kapitalismus soziale Sicherheit und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten abgerungen werden können?

Im Programmentwurf wird behauptet, dass die SPD Deutschland nicht als Opfer der Globalisierung sieht. Deshalb folgt die Partei einem Gestaltungsanspruch, um auch unter den Bedingungen der Globalisierung Wohlstand und Wohlfahrt für das Land zu sichern. Sie will den wirtschaftlichen und technischen Fortschritt mit sozialer Gerechtigkeit verbinden. Dabei spielt der "vorsorgende Sozialstaat" die zentrale Rolle, mit dem mehr "Aufstiegsgerechtigkeit" erreicht werden soll. "Aufstiegsgerechtigkeit" ist ein großes Wort für einen einfachen Tatbestand: Die große Mehrheit der Lohnabhängigen möchte an dem von ihnen produzierten gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben, wohlmöglich noch einen sozialen Aufstieg verwirklichen.

Im nationalstaatlich eingehegten Industriezeitalter konnte – so die Argumentation – der Sozialstaat eingreifen und die Märkte korrigieren oder soziale Defizite nachträglich ausgleichen. Heute wollen die Sozialdemokraten diese Korrekturfunktion durch den "vorsorgenden Sozialstaat" ausüben. Die sozialdemokratische und "orthodoxe" Linke kritisiert diese Orientierung als Anpassung an ein letztlich neoliberales Gesellschaftsverständnis. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum – sei es Einkommen, Bildung, Gesundheit oder Kultur – hängt an der Verteilung von Einkommen und frei verfügbarer Zeit. Mit dem Übergang zum Vermögens- oder Raubtierkapitalismus wird der Bevölkerungsmehrheit die im sozial regulierten Kapitalismus gegebene Teilhabe entzogen. Eigenverantwortung ist eine unzureichende Antwort auf diese gesellschaftlichen Fehlentwicklungen.

Damit sind wir beim Kern der Kontroverse: Der frühere Parteivorsitzende und jetzige Vizekanzler Franz Müntefering weist die Kritik zurück, er wolle die Agenda 2010 zu einem unveränderbaren Gesetz erheben: "Natürlich ist die Agenda keine Gesetzestafel, kein Grundsatzprogramm, nicht einmal ein Ziel. Sie besteht aus Maßnahmen – geleitet von klaren Prinzipien, die weiter gelten müssen. Die drei Prinzipien lauten: Entweder wir gestalten die künftige Entwicklung sozial, oder wir werden gestaltet – von ökonomischen Interessen. Soziale Gerechtigkeit ist Verteilungsgerechtigkeit, aber auch Chancen- und Generationengerechtigkeit. Mehr Eigenverantwortung steht ganz vorne, darauf baut sich dann die organisierte Solidarität des Staates auf."[5] Die Sozialdemokratie hat im neuen Grundsatzprogramm einen Handlungsrahmen abgesteckt, bei dem der Eigenverantwortung der BürgerInnen im Kampf gegen soziale Spaltung, Prekarisierung und sozialer Unsicherheit eine grundlegende Bedeutung zugewiesen wird. Damit werden aber die gesellschaftlichen Fehlentwicklungen nicht korrigiert werden können.

Linksverschiebung?

Gleichwohl ist in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, die Sozialdemokratie hätte mit einem Initiativantrag des Parteivorstandes auf dem Parteitag eine Rolle rückwärts vorbereitet: weg vom neoliberalen Gesellschaftsverständnis hin zur organisierten Steuerung von gesellschaftlicher Reichtumsproduktion. So haben beispielsweise die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft in einem gemeinsamen Appell CDU/CSU und SPD vor Korrekturen an der "Reform"-Agenda 2010 gewarnt: "Der aktuelle wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland ist auch eine Folge der richtigen und wichtigen Reformen der Agenda 2010 ... Die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft warnen deshalb davor, einen Teil der Reformen zurückzudrehen."

Die Anhänger dieser Politik der "Neujustierung" der öffentlichen Sozialleistungen machen die gravierenden gesetzlichen Veränderungen (Verkürzung des Arbeitslosengeldes I, Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die Ausweitung von Leiharbeit und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen sowie die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und damit faktisch eine Rentenkürzung) für den Konjunkturaufschwung in den zurückliegenden Monaten verantwortlich.

Von den KritikerInnen wird diese These entschieden bestritten. Angesichts der hohen Unzufriedenheit in der Wahlbevölkerung über die aktuellen Verteilungsverhältnisse wollen sie an der Agenda 2010 in- und außerhalb der Sozialdemokratie Korrekturen durchsetzen. Diese allgemeine Unzufriedenheit zeigt sich konkret darin, dass über 70% der Bevölkerung den Eindruck haben, dass sie am aktuellen Aufschwung nicht beteiligt sind. Außerdem macht sich vor dem Hintergrund der Kredit- und Bankenkrise erneut ein Pessimismus hinsichtlich der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung breit: Laut Forsa-Umfrage glauben 42% der Befragten, dass sich die wirtschaftlichen Verhältnisse im Lande künftig verschlechtern werden. Das sind so viele wie noch nie in diesem Jahr.

Der Parteivorsitzende Beck hat sich nach längerem Zögern dazu entschlossen, kleinere Korrekturen an der Agenda 2010 auf den Weg zu bringen. Dieses politische Manöver wird in der Öffentlichkeit als "Linksschwenk" der SPD eingeordnet. Die auf dem Parteitag verabschiedeten Korrekturen an der Agenda-Politik berühren die Substanz nicht. Wie sehr die Grundkonstruktion durch das 9-Punkte-Programm ("Reformen für ein soziales Deutschland") bestätigt wird, kann an der Finanzentwicklung abgelesen werden. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) rechnet am Ende des Jahres 2007 mit einem Überschuss von 6,0 bis 6,5 Mrd. Euro. 2008-2011 soll die BA jährlich eine Mrd. Euro zusätzlich für ältere Arbeitslose einsetzen – für zusätzliche Weiterbildungsmaßnahmen und die Verlängerung der Bezugsdauer für das ALG I. Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung soll ab Januar 2008 auf 3,5% sinken. Dies entlaste Arbeitgeber und Arbeitnehmer um insgesamt fünf Mrd. Euro im Jahr, erläuterte Müntefering. Die Koalition hat bislang eine Reduzierung von aktuell 4,2% auf 3,9% beschlossen.

Zu allen anderen Aspekten der Hartz-Gesetze, die wegen grober Ungerechtigkeit gleichfalls nachgebessert werden müssten (unzureichende Regelsätze, Kinderarmut, nicht existenzsichernde Niedriglöhne, Übergang von Erwerbstätigkeit in das auf 67 verlängerte Renteneintrittsalter), werden im "9-Punkte-Programm" entweder nur "Prüfaufträge" formuliert oder wird zur Auflage gemacht, dass eine Regelung weitgehend "kostenneutral" ausfallen müsse:

  Nach Auslaufen der BA-Förderung für die Altersteilzeit soll es ab dem Jahr 2010 eine kostenneutrale Nachfolgeregelung geben.

  Es soll geprüft werden, Rentenversicherungszeiten, die im Alter von 60-Jahren-Plus erreicht werden, mit einem besonderen Punktwert rentensteigernd wirksam zu machen, um Anreize für die Erwerbsarbeit bis 67 zu schaffen.

  Die Sozialpartner und Tarifparteien können eine zusätzliche Leistung in eine Zusatzkasse der Rentenversicherung vereinbaren, die bei berufsbezogener Leistungsminderung die Abschläge in der Rentenversicherung ganz oder teilweise vermeidet oder abmildert. Steuerliche Anreize sollen möglich sein und geprüft werden.

  Die Leiharbeit soll durch einen Mindestlohn, gleiche Bezahlung wie die Stammbelegschaft nach einer zeitlichen Frist und durch Ausweitung der Kompetenzen für Betriebsräte attraktiver gestaltet werden. Fakt ist: Leiharbeit und Dumpinglöhne verhindern, dass der Abbau der Arbeitslosigkeit zu einer Ankurbelung der Binnennachfrage führt.

Der konjunkturelle Aufschwung der zurückliegenden Monate hat die Arbeitslosigkeit gesenkt. Gleichzeitig haben aber die Formen atypischer, prekärer Arbeit dramatisch zugenommen. Rund 600.000 Beschäftigte müssen aufstockende Sozialleistungen in Anspruch nehmen, weil sie von ihrem Lohn allein nicht existieren können. Die Einführung von wirksamen gesetzlichen Mindestlöhnen liegt nach wie vor in weiter Ferne. Weil die Politik falsche arbeitsmarktpolitische Weichen gestellt hat, stellen die Unternehmen zunehmend LeiharbeiterInnen ein. Sie machen über die Hälfte der neuen Jobs aus. Bis Mitte 2007 hat sich ihre Zahl gegenüber 2004 auf knapp 800.000 fast verdoppelt. Allein zwischen Juni 2006 und Juni 2007 sind rund 200.000 LeiharbeiterInnen eingestellt worden. Sie verdienen 20% bis 40% unter dem Tariflohn der jeweiligen Branche und lassen sich innerhalb kürzester Zeit wieder an die ausleihende Firma zurückgeben. Da sie dort häufig nur befristet eingestellt sind, besteht die Gefahr, dass sie nach Auslaufen des Arbeitseinsatzes wieder auf der Straße stehen.

Mehr als acht Mio. BürgerInnen sind zudem auf die staatlichen Unterstützungszahlungen (ALG II, Sozialhilfe und Grundsicherung) angewiesen. Vor allem die Grundsicherungsleistungen für RentnerInnen nehmen stark zu, was zum Ausdruck bringt, dass die Renten eben nicht armutsfest sind.

Der drastische Umbau auf dem Arbeitsmarkt und bei den sozialen Sicherungssystemen sind nicht das Fundament für den gegenwärtig auslaufenden Konjunkturaufschwung. Der Druck auf die Lohnabhängigen wurde massiv erhöht, sodass die realen Arbeitslöhne stagnierten und die Exportwirtschaft in der Konkurrenz einen Preisvorteil hatte. Aber die Lohndrückerei und die verminderten Sozialtransfers schlugen sich binnenwirtschaftlich in einer anhaltenden Nachfrageschwäche nieder. Von den stagnierenden Masseneinkommen gingen keine Impulse zur Belebung der Binnenkonjunktur aus. Die massive Umverteilungsoperation führte dazu, dass die Defizite der verschiedenen Sozialkassen verschwanden. Auch in der Arbeitslosenversicherung veränderte sich wegen der Mixtur aus gekürzten Leistungen und konjunkturell bedingtem Rückgang der Zahl der Arbeitslosen die Kassenlage. Per Saldo haben davon allein die Unternehmen profitiert.

Von einer grundlegenden Revision der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze war in der Sozialdemokratie zu keinem Zeitpunkt die Rede. Allerdings wurde die Absicht einer leichten Verbesserung der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I von den vielen Gegnern im neoliberalen Lager zu einer Frage der Korrektur der Sozialkürzungsagenda hochstilisiert.

Schröder überraschte mit der Aussage, er habe nichts dagegen, wenn der SPD-Parteitag beschließe, das ALG I zu erhöhen: "Wenn ihr Geld habt, macht es." Das Prinzip "Fördern und Fordern" dürfe aber keinesfalls aufgegeben werden. Schröder unterstrich, dass die Agenda 2010 "Wegmarken" gesetzt habe. Vor diesem Hintergrund rief er zur Solidarität mit Parteichef Kurt Beck auf. Dem, der Verantwortung trage, dürfe man keine Steine in den Rücken werfen. Alle Parteiflügel müssten beim Parteitag darauf achten, dass Beck nicht noch mehr Schwierigkeiten bekomme, "als er ohnehin schon hat". Der Vorsitzende gehöre gestärkt. "Wir haben nicht mehr so viele Leute", mahnte Schröder. "Deshalb, schießt nicht auf den Klavierspieler, es könnte sein, wir haben keinen mehr." Weil es sich aber nur um eine untergeordnete Teilverbesserung handelte, rief die Symbolfigur der Agenda 2010 zur Gelassenheit auf: "Die Agenda 2010 sind nicht die Zehn Gebote. Niemand, der daran mitgearbeitet hat, sollte sich als Moses begreifen."

Angesichts dieser für Schröder typischen Entzauberung des Mythos von einer Korrektur der Agenda 2010 konnte der SPD-Vorsitzende Kurt Beck die Auseinandersetzung über die Arbeitsmarktpolitik mit Müntefering und anderen Propheten der reinen Agenda-2010-Lehre für sich entscheiden. Die Sub­stanz der Politik der gesellschaftlichen Ausgrenzung ist damit gleichwohl bestätigt worden.

Nach dem SPD-Parteitagsbeschluss müsste Beck nun den Arbeitsminister mit der Umsetzung einer längeren Auszahlung des ALG I beauftragen. Die Koalitionsparteien CDU/CSU wollen zwar die Vorschläge zur Senkung der Arbeitskosten (Verringerung der Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung) mit Freude unterstützen, aber höhere Aufwendungen für eine Verlängerung des ALG I und mehr Qualifizierung lehnen sie ab. Eine solche Veränderung will die CSU nur kostenneutral durchführen. In gewohnter Deutlichkeit schlägt durch, dass die Sozialkassen nicht für die Betroffenen der kapitalistischen Krisen eingesetzt werden, sondern einseitig als Belastung der Unternehmen gesehen werden. Allein die Senkung des BA-Beitragssatzes von 6,5 auf demnächst 3,5% schlägt mit 21 Mrd. Euro zu Buche. Die noch vor wenigen Monaten im Zentrum stehende Frage, ob nicht für absehbare Konjunkturabschwünge Rücklagen gebildet werden sollten, ist offenkundig für die politische Klasse entschieden. Es ist vor diesem Hintergrund kaum nachvollziehbar, dass die leichte Korrektur von einer Mrd. Euro für die Arbeitslosen als "Linksschwenk" der Sozialdemokratie gewertet wird.

Gleichwohl: Parteichef Beck wird noch einige Zeit als "erster Klavierspieler" amtieren. Die meisten Beobachter bleiben jedoch zurückhaltend. Zu Recht blickt eine große Mehrheit der Bevölkerung skeptisch in die weitere ökonomische Zukunft. Wenn schon in der Hochkonjunktur die Resultate höchst einseitig verteilt wurden, dann hat die große Mehrheit der Lohnabhängigen und der sozial Ausgegrenzten von einer konjunkturellen Abschwächung nichts Gutes zu erwarten. Die Sozialdemokratie wird daher weiter unter Druck bleiben.

Sollten die auf dem Hamburger Parteitag beschlossenen Korrekturen vom Koalitionspartner mitgetragen werden und Gesetzeskraft erlangen, erhöhen sie lediglich den Druck in Richtung weitergehender Schritte. Auf der politischen Agenda der nächsten Zeit werden deshalb weiterhin die bekannten Themen stehen:

  Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns

  deutliche Anhebung der Regelsätze für die Unterstützungsleistung nach ALG II

  Aufhebung der Rente mit 67

  und Maßnahmen in Richtung armutsfester Renten.

Alle diese Schritte laufen auf einen grundlegenden Politikwechsel hinaus, der mit Steuersenkungen für Unternehmen und Vermögende, der Abschaffung der Erbschaftssteuern sowie einem Umbau der sozialen Sicherungssysteme über kapitalgedeckte Rücklagen nichts zu tun hat.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus. Letzte Buchveröffentlichungen: "Zukunft des Finanzmarkt-Kapitalismus" (Hamburg 2006) und "Allgemeines Grundeinkommen" (Hamburg 2007).
[1] Platzeck, M. u.a., Auf der Höhe der Zeit. Soziale Demokratie und Fortschritt im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 20.
[2] Die europäische Sozialdemokratie hat dabei selbst kein Bewusstsein von ihrer eigenen Rolle bei der Zerstörung des Rheinischen Kapitalismus. Geschichtsvergessenheit demonstrierten jüngst Vertreter der Parlamentarischen Linken und des rechten Seeheimer Kreises in einer gemeinsam verfassten Rechtfertigung der Agenda-Politik und ihrer Einordnung in die BRD-Geschichte auf eine intellektuell unredliche Art und Weise ("Die Agenda 2010 hat den Selbstbetrug beendet", in: SZ vom 25.10.2007), indem sie mit keinem Wort auf die Deregulierung und Öffnung der Finanzmärkte durch Rot-Grün zu sprechen kommen. Auch sie bemühen Ralf Dahrendorfs Diktum vom "sozialdemokratischen Jahrhundert", allerdings ohne seine für SPDler bittere Pointe, dass sich schon mit der sozialliberalen Koalition von 1969 eine einschneidende Zäsur, der "Anfang vom Ende" (Dahrendorf) anbahnte. Hier betreiben Michael Müller und Co. Geschichtsklitterung, indem sie die sozialdemokratische Politik dieser Jahre als durchgehend erfolgreiche Reformphase der Nachkriegsgeschichte einordnen und erst Ende der 1980er Jahre eine dritte Phase der Globalisierung mit ihren Problemen und Krisen einsetzen lassen, auf die dann Schröders Agenda die angeblich richtige Antwort der SPD als einer "Gestaltungspartei" darstellte. Auf den marxistischen Sozialhistoriker Eric Hobsbawm, den sie für ihre "geschichtsapologetische" Verortung der Agenda-Politik bemühen, können sie sich für ein solches Zurechtbiegen der Geschichte wahrlich nicht als Kronzeugen berufen. In seiner eigenen Periodisierung des "kurzen" sozialdemokratischen Jahrhunderts als einem "Zeitalter der Extreme" lässt er (wie Dahrendorf) die "Zeit des Erdrutsches" gerade mit den Jahren 1975ff. einsetzen, also mitten in der Hochphase sozialdemokratischer Hegemonie. Aber die europäische Sozialdemokratie unter Brandt, Palme und Kreisky fand damals nicht zu einer adäquaten Einordnung der sich abzeichnenden ökonomischen Krisenkonstellationen und zu einem wirklichen Gegensteuern. Nicht nur die deutsche Sozialdemokratie war Ende der 1970er Jahre nicht mehr auf der "Höhe der Zeit" und musste die Hegemonie an den aufkommenden Neoliberalismus abtreten. Die französischen Sozialisten, obwohl in Regierungsverantwortung, sollten sich kurz darauf selbst als Wegbereiter neoliberaler Politik erweisen. Eine solche Selbsttäuschung über die Folgewirkungen sozialdemokratischer Politik passierte hierzulande erst wieder unter Schröder. Sein sozialdemokratischer Vorvorgänger Schmidt erweist sich dagegen mit seinen späten Einsichten und "Zeit"-Diagnosen zum "Raubtierkapitalismus" geradezu als lernfähig. Vgl. dazu insgesamt: Joachim Bischoff, Die SPD und die Zerstörung des "Rheinischen Kapitalismus". Vom organisierten zum entfesselten Kapitalismus, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 7/2005.
[3] Platzeck u.a., a.a.O., S. 23.
[4] ebd., S. 21.
[5] Interview in der FR vom 23.10.2007.

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