1. Juli 2009 Redaktion Sozialismus

Lügenbarone auf Stimmenfang

Die schwere Weltwirtschaftskrise ist noch lange nicht vorbei – weder weltweit noch in Deutschland. In der Berliner Republik wird die kritische Phase erst nach den Bundestagswahlen im Herbst 2009 einsetzen. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit, die Zunahme von Unternehmensinsolvenzen und wachsende Defizite der öffentlichen Haushalte und Sozialkassen werden die Stresstests sein.

In einer anderen Beschreibung und mit einer anderen Interessenlage liest sich das folgendermaßen: "Wir stehen eher am Übergang von einer konjunkturellen zu einer strukturellen Krise. Die kommenden ein, zwei Jahre werden für unsere Industrie ganz entscheidend, dann trennt sich die Spreu vom Weizen. Wer mit seinen Produkten und seinem Geschäftsmodell nicht gut aufgestellt ist und über keine solide Kapitalbasis verfügt, wird vom Markt verschwinden." Dies ist die Einschätzung des Verbandschefs der Metall- und Elektroindustrie, Kannegießer.

Die Bevölkerung selbst beurteilt die Aussichten dagegen gegenwärtig noch optimistischer. Erstmals seit Juli 2007 erwarten Ende Juni 2009 wieder mehr BürgerInnen eine positive Entwicklung der Wirtschaft als eine schlechte. Während 39% der Deutschen der Ansicht sind, es werde wirtschaftlich bergauf gehen, befürchten 37% eine Verschlechterung. Zu Jahresbeginn waren noch 48% pessimistisch eingestellt gewesen und nur 27% hatten zuversichtlich in die Zukunft geschaut.

Drei Monate vor der Bundestagswahl haben wir daher eine höchst unterschiedliche Bewertung und Einschätzung der Krisenkonstellation. Während die Stimmung in der Bevölkerung besser zu sein scheint als die Lage, ist die Mehrheit der Wirtschaftsexperten ins Lager der Skeptiker gewechselt. Ihr Tenor: Der massive Schrumpfungsprozess sei keineswegs bewältigt; Deutschland müsse sich auf eine lange Durststrecke einstellen; die deutsche Wirtschaft werde erst in etlichen Jahren zu alter Stärke zurückfinden. Das Bruttoinlandsprodukt werde frühestens Ende 2015 wieder das Vorkrisenniveau erreichen, heißt es beispielsweise im Konjunkturbericht des Bundesverbandes deutscher Banken (BdB). "Die allmählich zurückkehrende konjunkturelle Zuversicht darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Weg aus der Rezession beschwerlich sein wird."

Wie erklärt man diese Diskrepanz? Die Politik hat in der Krise mit gigantischen Unterstützungsprogrammen für den Finanzsektor einen Systemkollaps verhindert und mit Konjunkturprogrammen – deutlich geringer dimensioniert – den Absturz des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses abgebremst. So wurde zunächst auf Massenentlassungen und allgemeine Lohnkürzungen verzichtet. "Sozialabbau ist kein Rezept für die Finanz- und Wirtschaftskrise", lautete das Motto.

Der in den letzten Jahren deutlich geschwächte Sozialstaat in Deutschland federt die Folgen der scharfen Krise für die einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten zwar schlechter als in der Vergangenheit, aber immerhin noch mit der Wirkung eingebauter Stabilisatoren ab. Die massive Ausweitung der Kurzarbeit belastet zwar die Bundesagentur für Arbeit, aber der desolate Zustand ihrer Finanzen – politisch mit der Absenkung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung eingeleitet – wird erst zum Jahresende öffentlich wahrgenommen werden.

Über 20 Millionen Bundesbürger sind auf stabile Rentenzahlungen angewiesen. Das umlagefinanzierte Rentensystem erweist sich in der Wirtschafts- und Finanzkrise als robust.

Um die RentnerInnen milde zu stimmen, hat die große Koalition schon im vergangenen Jahr – das Superwahljahr 2009 im Blick – die Rentenformel verändert. Zum 1. Juli stiegen die Altersbezüge denn auch so stark wie seit 15 Jahren nicht mehr: um 2,41% im Westen und 3,38% im Osten. Da die SeniorInnen auch von der mit Steuergeldern finanzierten Senkung der Krankenkassenbeiträge zum 1. Juli profitieren, haben sie in der Krise sogar leicht erhöhte Einkommen.

In anderen Industrieländern steckt die kapitalgedeckte Alterssicherung dagegen in erheblichen Schwierigkeiten, da Wertverluste der entsprechenden Pensionsfonds von 25% und mehr verkraftet werden müssen.

In diesen Ländern – so konstatiert die OECD in ihrem jüngsten Rentenbericht – ist "das Vertrauen in private Altersvorsorge … auf einem absoluten Tiefstand angelangt." In Deutschland ist es hingegen gelungen, auch das Vertrauen in die freiwillige private Vorsorge aufrechtzuerhalten. Für die betrieblichen Renten hat sich der Pensionssicherungsverein als stabil erwiesen, auch wenn die Beiträge der Unternehmen stark steigen, wenn große Unternehmen in Konkurs gehen. Und bei den Pensionsfonds hat sich eine konservative Anlagestrategie ausgezahlt.

Weil die Hartz-IV-Regelsätze an die Rente gekoppelt sind, partizipieren auch Langzeitarbeitslose von den Stabilisierungsmaßnahmen. Außerdem werden diese kleinen Erhöhungen in diesem Jahr nicht wie sonst von der Inflation geschmälert. Denn derzeit herrscht in Deutschland absolute Preisstabilität. Überschlägt man den Umfang der von dieser Politik betroffenen BürgerInnen ist man schon bei mehr als der Hälfte der 62 Mio. Wahlberechtigten. Wir reden über 20 Mio. AltersrentnerInnen, 8 Mio. Behinderte, 7 Mio. Hartz-IV-Empfänger­Innen und 2,3 Mio. Pflegebedürftige.

Diese Politik wird nach den Bundestagswahlen nicht fortgeführt werden. Schon jetzt ist erkennbar, dass das bürgerliche Lager auf eine Konsolidierungs- und Austeritätspolitik einschwenken wird. Zentrales Argument: Deutschlands Staatsschulden erreichen 2010 knapp 80% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – 15 Punkte mehr als vor zwei Jahren. Im Wahlprogramm von CDU/CSU heißt es deshalb schon mal vorsorglich: "Wir werden Haushaltsdisziplin üben und die staatlich übernommenen Aufgaben auf ihre Notwendigkeit hin überprüfen... Die Schieflage der öffentlichen Haushalte lässt sich nur durch eine dauerhafte Reformpolitik mit langem Atem korrigieren."

Sowohl die Unionsparteien als auch ihr gewünschter neoliberaler Bündnispartner FDP setzen beim "langen Atem" auf Wachstum durch Export, wenn die Weltwirtschaft nach einer kurzen Durststrecke wieder auf Touren komme. Dann will man auch die gescheiterte Strategie der Entlastung der "Leistungsträger", sprich von Unternehmen und Vermögensbesitzern, wieder aufnehmen. Die unionsinterne Debatte um eine Erhöhung der Mehrwertsteuer zeigt schon jetzt, wohin die Reise geht: Belastung der breiten Masse der Bevölkerung durch Erhöhung der direkten Steuern auf den Konsum. Deshalb stehen weder eine sozialökologische Wachstumsstrategie und somit eine Strukturpolitik noch eine stärkeren Belastung der höheren Einkommensschichten und Vermögenden auf der Agenda des bürgerlichen Lagers.

Absehbar ist, dass der bei einer bürgerlichen Mehrheit erfolgende Übergang zu einer harten Sparpolitik alle Versprechen, die Steuern nicht zu erhöhen, die Renten nicht anzutasten, die Belastungen der BürgerInnen bei ihrer Gesundheitsversorgung zu begrenzen etc. Makulatur sein werden – mit der Gefahr des Abgleitens in eine Depressionsspirale. Aus der Krise kann man sich, das ist die Lehre aus der großen Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, nicht heraussparen.

Und für den Fall, dass es nicht zu einer Mehrheit der alten bürgerlichen Parteien reicht, hält sich die Union mit entsprechenden Angeboten in ihrem Wahlprogramm (von der grünen Gentechnik bis hin zum Klimaschutz – Atomenergie als "Brückentechnologie") auch die in Hamburg so erfolgreiche schwarz-grüne Option offen.

Selbst Innenminister Schäuble braucht keine Phantasie mehr für eine solche Konstellation. Die Grünen werden sich dem nicht verschließen – auch um den Preis, in die ehrenwerte Reihe der Lügenbarone und Wahlbetrüger (Hamburg bietet dafür reichlich Anschauungsunterricht) aufgenommen zu werden.

Was Deutschland zur Sanierung der öffentlichen Finanzen an Stelle der historisch gescheiterten "Konsolidierungspolitik" braucht, ist eine Offensivstrategie für die kommenden Jahre, einen guten wirtschaftspolitischen Mix, um bei möglichst hohem qualitativen Wachstum die Staatsdefizite zu senken.

Die Krise durch einen "Green New Deal" überwinden zu wollen, ist auch das Programm der SPD. "Das ist die richtige Antwort auf die Krise. Diesen Weg müssen wir gehen", sagte Kanzlerkandidat Steinmeier bei einem SPD-Kongress in Berlin. "In fast keinem Land kann der grüne Aufschwung so viele Arbeitsplätze schaffen wie in Deutschland." Die SPD glaubt, dass bis 2020 die Zahl der Arbeitsplätze in der Branche um eine Million auf 2,8 Mio. erhöht werden kann.

Doch was als Modernisierungsstrategie für qualitatives Wachstum offeriert wird, ist in weiten Teilen nicht mehr als alte exportorientierte Wachstumsstrategie in grünem Gewand. Deutschland soll bleiben, was es in den letzten Jahren war: Ausrüster der Welt mit effizienter Technik. Und um diese auch in Zukunft kostengünstig als Weltmarktführer anbieten zu können, kommt man um eine industrielle "Effizienzrevolution" nicht herum. Diese wettbewerbsorientierte Versöhnungsstrategie von Ökonomie und Ökologie ist eine Werbestrategie, kein politisches Gesamtkonzept, das aus der Krise hinaus weist. Dem Strukturwandel auf den Weltmärkten zwischen den großen Polen USA und China wird sie ebenso wenig gerecht wie den Erfordernissen des Umbaus des Binnenmarktes. Denn neben veränderten industriellen Strukturen, die auch nicht vorwiegend auf den Export ausgerichtet sein können, sind massive Investitionen für den Ausbau des öffentlichen Sektors u.a. in den Bereichen Bildung, Gesundheit, soziale Sicherheit und Infrastruktur von Nöten, die durch eine Steuerpolitik gegenfinanziert werden müssen, die Unternehmen und Vermögensbesitzer wieder entsprechend ihrem Leistungsvermögen belastet. Von einer so verstandenen Struktur- und Steuerpolitik als Krisenausweg ist die Sozialdemokratie bei allen Veränderungen im Detail (Millionärssteuer, Mindestlohn etc.) meilenweit entfernt.

Ein Blick in die nahe Zukunft ist nicht schwer: "Die von der Bundesregierung beseitigte Kreditklemme führt zu weiteren Arbeitsplatzverlusten. Hinzu kommt, dass die Löhne auf breiter Front einbrechen. Schon haben Abgeordnete der Koalition und – wie könnte es anders sein – der FDP angekündigt, zur Sanierung der Staatsfinanzen nach der Bundestagswahl den RentnerInnen weitere Opfer abzuverlangen. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis – nach der Bundestagswahl – unabhängig davon, ob sie uns die große Koalition oder die Ampel beschert, weitere Einschnitte ins soziale Netz folgen." (Lafontaine) Die Ankündigung der Kanzlerin, nach der Bundestagswahl die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen, ist so glaubwürdig wie ihr Versprechen vor der letzten Bundestagswahl, die Mehrwertsteuer nur um zwei Prozent zu erhöhen und das der SPD, dies mit allen Mitteln verhindern zu wollen.

In diesem Zukunftsszenario ist unterstellt, dass die Krise der politischen Repräsentation und die Verselbständigung der politischen Klasse auch tiefe gesellschaftliche Krisen überdauern und nicht aufgesprengt werden. Doch diese Unterstellung ist falsch: Das Parteiensystem ist selbst einem mehr oder weniger weitreichenden Veränderungsprozess unterworfen. Die Europawahlen haben deutlich gemacht, dass diese Veränderung weit nach rechts ausschlagen kann. Die Bundestagswahlen in Deutschland könnten deutlich machen, dass die gesellschaftliche und politische Linke eine Alternative ist.

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