1. Dezember 2002 Dieter Boris

Lulas Wahlsieg in Brasilien

"Wohin Brasilien sich wendet, dorthin geht ganz Lateinamerika", befand der frühere US-Präsident Richard Nixon Anfang der 1970er Jahre, als er bei einem Staatsbesuch bewundernd die in voller Blüte stehende Militärdiktatur hofierte. Das ist angesichts der Größe und Bedeutung dieses Landes von kontinentalen Ausmaßen (170 Mio. Einwohner und Produktion annähernd der Hälfte des gesamten Sozialprodukts Südamerikas) sicher nicht ganz falsch gewesen. Jetzt könnte von der Wahl Luíz Inácio "Lula" da Silvas erneut ein Signal für Lateinamerika ausgehen und bestimmte – schon vorher angelegte – Tendenzen fördern.

Welches Signal könnte das sein? Was bedeutet dieser sogar in Deutschland ziemlich stark beachtete Wahlsieg? Kontinuität des von Cardoso begonnenen Modernisierungsprozesses und Fortsetzung der Einbindung Brasiliens in den neoliberalen Globalisierungsprozess oder Diskontinuität, das heißt mehr oder minder deutlicher Bruch mit den notorischen Übeln der brasilianischen Gesellschaft (extreme soziale Polarisierung, hohe Armutsquote, gravierende Mängel des Erziehungs- und Gesundheitswesens für größere Segmente der Bevölkerung, Anstieg der Kriminalität, allgemeine Brutalisierung des Alltags – z.B. sichtbar in der Behandlung der Millionen von Straßenkindern und der immer häufigeren und gewaltsam niedergeschlagenen Gefangenenrevolten in Häftlingsanstalten)?

In Personenalternativen ausgedrückt, könnte man auch fragen: Wird Lula eher wie ein Felipe Gonzalez im postfrankistischen Spanien seit Anfang der 80er Jahre oder wie Salvador Allende von 1970 an in Chile wirken? Allende schaffte übrigens ebenso wie Lula die Wahl zum Präsidenten seines Landes erst im vierten Anlauf. Um diese zentrale Frage etwas einzugrenzen und differenzierter anzugehen, sind zunächst Hintergründe des Wahlausgangs und einige Aspekte des Wahlsiegs der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) zu beleuchten.

Die Bilanz der Regierung Cardoso

Die achtjährige Regierungsperiode F.H. Cardosos – des einst linken Soziologen und Begründers der Dependenztheorie – kennzeichnete eine neoliberale Grundrichtung, die durch einzelne soziale Abfederungen gemildert wurde. Die Jahre von 1995 bis 2003 waren von einer starken Öffnung der brasilianischen Ökonomie (Zölle, Kapitalmarkt etc.) und von einer Welle der Privatisierungen ehemals staatlicher Unternehmen, einer starken sozioökonomischen Polarisierung und Regionalisierung, aber auch von verhältnismäßig niedrigen Inflationsraten charakterisiert, was zweifellos der Haupttrumpf Cardosos bei seiner Wiederwahl 1998 gewesen ist. Mittels Erhöhung der zentralstaatlichen Ressourcen, teilweise auch aus Privatisierungserlösen, konnte der Gesundheits- und Bildungsetat sowohl seitens der Zentral-, wie auch der Bundesstaatsregierungen so aufgestockt und effizienter verwandt werden, dass beispielsweise die Kindersterblichkeit von 41 pro Tausend (1993) auf 29 (2000) reduziert werden konnte. Die Einschulungsquote von 7- bis 14-jährigen Schülern stieg von 87% (1992) auf etwa 97% (2001) an, ebenso positiv entwickelten sich andere soziale Indikatoren (El País v. 25.10.2002). Auch die Landverteilung an Landlose und Landarme hat – vor allem auf Druck der radikalen Landlosenbewegung (MST) – zweifellos größere Fortschritte in der Amtszeit Cardosos gemacht als lange Jahrzehnte zuvor.

Dennoch bzw. vielleicht gerade weil einige Teilaspekte des gesellschaftlichen Lebens sich als veränderungsfähig und reformierbar erwiesen, haben die brasilianischen Wählerinnen und Wähler nicht der vollständigen personellen Kontinuität zu Cardoso (in Gestalt des bisherigen Gesundheitsministers und »Regierungskandidaten« José Serra) den Vorzug gegeben, sondern dem Repräsentanten einer möglichen und erhofften Beschleunigung dieses Reformkurses. Dies auch vor dem Hintergrund, dass ja keineswegs die gesamte Bilanz Cardosos positiv war. Neben den wechselnden Wachstums- und Stagnationsphasen der Ökonomie gab es 1998 und 1999 und wieder im Jahre 2002 Währungs- und Finanzkrisen, die mit steigenden Zinssätzen und anwachsenden Haushaltsdefiziten einhergingen. Die soziale Polarisierung wurde trotz der oben aufgeführten einzelnen Fortschritte infolge dieser ständigen Krisenprozesse im ökonomischen System nicht wirklich angegangen, geschweige denn eine Umkehr eingeleitet. Zwar konnten einige Reformen (bezüglich des Föderalismus, der Steuerrevision und anderer staatlich-institutioneller Verhältnisse) durchgesetzt werden, doch viele wichtige Vorhaben, wie eine weitergehende Steuerreform, die Alterssicherungs- und Pensionsreform, eine Justizreform etc. blieben ebenso auf der Strecke wie eine energische Beschäftigungspolitik, eine wirkliche Armutsreduktionsstrategie, eine Verbesserung der Lebensqualität durch entschiedene Bekämpfung der Gewalt im Alltag und der Kriminalität etc. Vor allem stieg – nicht zuletzt im Gefolge der neoliberalen "Reformen" – der Anteil der prekären Arbeitsverhältnisse stark an.

Linksverschiebung

So können vor allem drei Aspekte für den sich schon seit ca. zwei Jahren andeutenden Stimmungsumschwung zugunsten einer anderen Reformperspektive festgehalten werden: 1. Die relativen Erfolge der Cardoso-Regierung, die auch Hoffnungen und Selbstbewusstsein förderten und eine neue Ausgangsbasis schufen; 2. die negativen, defizitären Seiten der Amtsführung Cardosos, die Kritik und Veränderungswillen bestärkten, und schließlich 3. die wachsende Akzeptanz Lulas und der PT (insbesondere in den letzten Jahren bzw. noch mehr in den letzten Monaten) bis weit in die Mitte des brasilianischen Wählerspektrums hinein. Letzteres drückt sich in zahlreichen Momenten aus, wie z.B. in der Wahl eines Unternehmers und Angehörigen der Liberalen Partei (PL) zum Vizepräsidenten, der Moderierung der Kritik am IWF und an neoliberalen Konzepten, den Wahlkampfparolen von der "Liebe" und dem "Frieden", welches Brasilien am meisten benötige und vielen anderen Dingen mehr. Trotz dieser Relativierung der sich in der Wahl Lulas reflektierenden Linksbewegung muss sein Wahlsieg als Ausdruck von sich verändernden Hegemonialverhältnissen interpretiert werden. Nicht nur in Brasilien, auch in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern ist die reine Lehre und orthodoxe Umsetzung neoliberaler Theorien mit einer vertieften Massenablehnung konfrontiert: Ob man nach Argentinien oder Venezuela blickt oder beispielsweise Bolivien und Ecuador betrachtet, überall hat – parteipolitisch oder auf dem Terrain sozialer Bewegungen – die Zahl derjenigen deutlich zugenommen, die die Beachtung sozialer, kultureller und ökonomischer Grundsicherungen gegenüber den neoliberalen, radikalisierten Marktprozessen einfordern.

Wahlsieger Lula und PT

Der Sieg Lulas am 27. Oktober 2002 (im zweiten Wahlgang) war mit 63% der Stimmen sehr eindrucksvoll und in diesem Ausmaß in Brasilien bislang unbekannt. Seit September gab es kaum noch Zweifel an seinem Erfolg. Die Finanzmärkte und Börsen reagierten zwar noch überwiegend negativ, aber schon längst bekundeten maßgebliche Kreise des nationalen wie internationalen Kapitals, dass sie sich mit dem Grad und der Echtheit der »Domestizierung« des einst linksradikalen Arbeiterführers zufrieden geben könnten. Noch fünf Monate zuvor hieß es beispielsweise bei einem Autor des renommierten und für seine trefflichen wissenschaftlichen Politikberaterdienste bekannten Instituts für Iberoamerikakunde (Hamburg) folgendermaßen zu Lulas Chancen: "Vieles spricht dafür, dass der ›ewige Verlierer‹ aufgrund des schwachen Rückhalts des PT bei der großen Mehrheit der Brasilianer in einem wahrscheinlich notwendig werdenden zweiten Wahlgang gegen den Kandidaten des bürgerlichen Lagers verlieren wird." (Brennpunkt Lateinamerika, Nr. 8/02, S. 82)

Auch die PT, die Partei des neuen Präsidenten, eine der wenigen programmatisch ausgerichteten Parteien in Brasilien, die 1979/80 im Kampf verschiedener Bewegungen und politischer Strömungen gegen die Militärdiktatur entstanden war, konnte die Zahl ihrer Abgeordneten im Bundeskongress von 58 auf 91 erheblich steigern und repräsentiert mit fast einem Fünftel der Sitze die stärkste parteipolitische Kraft in Brasilien. Die PT gilt als die mit Abstand am wenigsten korrupte Partei des Landes, die relativ demokratische Binnenstrukturen und nicht wenige erfolgreiche, bürgernahe kommunale und regionale Verwaltungs- und Amtsperioden vorweisen kann (u.a. in Porto Alegre, der Hauptstadt des Bundesstaats Rio Grande do Sul). Generell haben die linken und Mitte-Links-Parteien dazu gewonnen, während die Mitte-Rechts- und rechten Parteien überwiegend Abgeordnetensitze einbüßten (vgl. The Economist v. 2. Nov. 2002, S. 52). Aber selbst für eine einfache Mehrheit im Kongress ist Lula auf Bündnisse mit mittleren oder Mitte-Rechts-Parteien (die bislang regierende sozialdemokratische Partei Cardosos PSDB bzw. die PMDB) angewiesen. Deren Macht liegt auch in den Bundesstaaten, wo sie gerade in den letzten Wahlen in bevölkerungsstarken und wirtschaftlich bedeutenden Bastionen ihre Gouverneurspositionen ausbauen konnten, während die PT sogar einen Gouverneursposten in der wichtigen Provinz Rio Grande do Sul verloren hat und nur noch in drei kleineren Bundesstaaten den Gouverneur stellt.

Perspektiven

Kurzfristig sind die Handlungsspielräume der neuen Regierung sehr eng. Die Lage der Staatsfinanzen, das Ausmaß der Verschuldung und die eher wachsende Abhängigkeit von ausländischen Kapitalströmen sowie die Zusagen Lulas an den IWF (hinsichtlich eines Haushaltsüberschusses von 3¾% des BIP vor Zinsendienst) lassen in unmittelbarer Zukunft kaum größere Sozialreformen zu. Dennoch sind die Erwartungen vieler der 53 Mio. Lula-WählerInnen groß und lassen sich nicht auf die lange Bank schieben. Konflikte mit Teilen der Partei und verschiedenen sozialen Bewegungen (z.B. der Landlosenbewegung, MST) werden von der Parteiführung schon jetzt vorausgesagt und in Rechnung gestellt. In der Diskussion um die historische Einordnung und Bedeutung des Regierungswechsels werden ganz unterschiedliche Szenarien entwickelt (vgl. z.B. Le Monde v. 30. Okt. 2002).

Das erste Szenario könnte man das der Fortsetzung des Cardoso-Kurses nennen: Dies mag Enttäuschung und vereinzelte Oppositionsbewegungen hervorrufen, doch mangels realer Alternativen und infolge eines nur zersplitterten Widerstandes könnte dieser gemäßigt sozialdemokratische Kurs weiter verfolgt werden. Die – in ökonomischer und politischer Hinsicht – relative Stabilität dieser Variante von Entwicklung setzt allerdings eine Restrukturierung der Schuldenlast, die deutliche Verbesserung der weltwirtschaftlichen Lage sowie verhältnismäßig dauerhafte politische Allianzen voraus.

Das zweite Szenario könnte – nach einer auf Konsolidierung und Beruhigung setzenden Anfangsphase – ernsthafte sozialpolitische Reformen auf verschiedenen Gebieten (Land-, Bildungs-, Gesundheits-, Steuerpolitik, Förderung besonders zurück gebliebener Regionen, der kleinen und mittleren Betriebe, die binnenmarktorientiert sind etc.) enthalten, wobei dieses möglicherweise auch eine weitergehende Mobilisierung und Politisierung der betroffenen Bevölkerungsgruppen einschließen könnte. Dies würde die internationale Unterstützung / Attraktivität – vor allem für finanzkapitalistische Gruppierungen und für multilaterale Institutionen – verringern, was keineswegs per se zur Vertiefung der ökonomischen Krise führen muss. Viel hängt bei diesem Szenario davon ab, wie die externen politischen und ökonomischen Interessen reagieren werden und ob Brasilien eine alternative regionale Integrationspolitik in Angriff zu nehmen versteht.

Ein drittes Szenario könnte darin bestehen, dass die angezielten Maßnahmen ähnlich wie im zweiten Szenario angelegt sind, aber schneller und mit mehr Druck von unten umzusetzen versucht werden. Dabei könnte die Kontrolle der Regierung geringer werden, die politischen Allianzen sich erschweren oder zerfallen und die interne wie externe Blockadepolitik gegenüber einem fortschrittlichen Kurs, der sozial ausgleichend und binnenmarktorientiert ist, härter werden. Ein Sturz bzw. Rücktritt von Lula wäre unter solchen Umständen durchaus vorstellbar.

Alle drei Varianten von Entwicklung sind denkbar und möglich. Die brasilianischen Unternehmer und sonstigen Kapitalrepräsentanten ebenso wie zuletzt auch der IWF und Wall Street setzen darauf, dass sich Lula als ähnlich wandlungsfähig im Sinne ihrer Interessen erweist wie sein Vorgänger Cardoso, der vom semi-marxistischen Linken und zum honorigen, kapitalfreundlichen Präsidenten mutierte. Allerdings haben sich sowohl die Kräfteverhältnisse in Brasilien und die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen gegenüber den 90iger Jahren deutlich verändert. Sollte allerdings der von den Kapitalvertretern herbeigewünschte Fall eintreten, wären die Linke und generell die Unterprivilegierten und Benachteiligten nicht nur in Brasilien, sondern in Lateinamerika insgesamt um eine neue Hoffnung ärmer.

Dieter Boris ist Professor am Institut für Soziologie der Philipps-Universität Marburg. Letzte Buchveröffentlichung: Metropolen und Peripherie im Zeitalter der Globalisierung, Hamburg 2002.

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