21. Februar 2014 Andreas Merkens: Stuart Hall (3.2.1932–10.2.2014)

Marxismus ohne Garantien

Stuart Hall wurde 1932 in Jamaika geboren. Aufgewachsen in einer aufstrebenden schwarzen Mittelklassefamilie, die sich an viktorianischer Kultur und Lebensweise orientierte, erfuhr Hall eine traditionelle englische Erziehung.

Nach dem Besuch des britischen College in seinem Geburtsort Kingston migrierte er im Jahr 1951 als Stipendiat nach England, um an der Universität von Oxford zu studieren; für Hall die Reise in ein Land, dessen Kultur ihm von Kindheit an vorgelebt wurde. Zugleich machte er aber als schwarzer Jamaikaner die paradoxe identitäre Erfahrung auf eine ihm »bekannte Fremde« zu stoßen. Eine Diaspora-Erfahrung, die ihn darin schulen sollte – wie er 1992 in einem biografischen Interview reflektiert –, sein Denken entlang von Widersprüchen, von Heterogenität, Diversität und sich wandelnden Kräfteverhältnissen auszurichten.

Die Neue Linke

Hall war ein ’56er-Linker. Die globalen politischen Krisen dieses Jahres, die Invasion der Sowjetunion in Ungarn und die Suezkrise, aber auch die Aufstände der schwarzen Bevölkerung in Notting Hill (1958) führten in Großbritannien zur Herausbildung einer neuen Linken, die sich in politischen Magazinen, in Clubs und Versammlungen zusammenfand und debattierte. Mit der Entstehung der Zeitschrift »New Left Review«, deren erster Herausgeber Stuart Hall 1960 wurde, entstand ein bis heute weit über Großbritannien hinausreichendes Forum der politisch-intellektuellen Diskussion über das Selbstverständnis eines neu zu bestimmenden westlichen Marxismus.

Gemeinsam mit Edward Palmer Thompson, Ralph Miliband, Raymond Williams, Doris Lessing und Perry Anderson gehörte Hall zu den wichtigsten Akteuren jener Zeit, die wider den falschen Alternativen einer revisionistischen Labour Party und der stalinistischen KP Großbritanniens neue Ansätze für einen offenen, analytisch eingreifenden und gegenwartsrelevanten Marxismus suchten. Der Resonanzraum dieser neuen Linken waren die politischen Kräfte und sozialen Bewegungen der 1960er Jahre, die aus den Verteidigungskämpfen der schwarzen Bevölkerung in den urbanen Zentren hervorgingen, der britischen Friedensbewegung, die sich gegen die nuklea­re Bewaffnung richtete, oder dem politischen Selbstbewusstsein einer neuen, erstmals an den Universitäten präsenten Arbeiterklassegeneration.

Kultur ist kein Überbau

Im Jahr 1964 geht Hall an das Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS), dessen Leitung er vier Jahre später übernimmt. Am Zentrum entstand, maßgeblich unter Halls intellektuellem Einfluss in den 1970er Jahren, was später als die Birmingham School of Cultural Studies international bekannt wurde. Die ersten Forschungsprojekte nahmen die Impulse der neuen Linken auf, es ging um die Anerkennung sozialer Kämpfe, die Einbeziehung abweichender Rezeptionsweisen und oppositioneller Kulturformen, die Bedeutung der Alltagskultur als widersprüchlicher Ausgangsort hegemonialer Vergesellschaftung, also grundsätzlich um die Leerstellen des traditionellen Marxismus. Kultur, Ideologie, Sprache und das Symbolische rückten in den Mittelpunkt einer materialistischen Forschung, die in den reduktionistischen Basis-Überbau-Modellen allenfalls als »falsches Bewusstsein« ihren Stellenwert hatten. Es ging um nicht weniger, als die Beziehungen zwischen Gesellschaft, Ökonomie und Kultur neu zu denken, die sich ankündigenden »neuen Zeiten« des Postfordismus und seine Produktion von Subjektivität und Identität zu verstehen sowie Handlungsmöglichkeiten und Strategien für ein gesellschaftliches Eingreifen zu entwickeln.

Marxismus ohne Garantien

Die zahlreichen Aufsätze und Forschungsarbeiten, die Hall zu Jugend- und Subkultur, Klassenformierung, Medientheorie und Rassismus anfertigte, beanspruchten keine neue »große Erzählung« in die Welt zu setzen, in der das theoretische Feld abgeschlossen und kontrolliert wird; sie sind vielmehr beeindruckende Suchbewegungen, dialogische Anordnungen von Theorie und Praxis, die auf theoretische Garantien verzichten (»Marxism without guarantees«). Ausgang seiner Arbeiten ist nicht die intellektuelle oder akademische Reputation. Geradezu erfahrbar beim Lesen wird das Ringen um die Erfassung der historischen Welt und ihrer Prozesse, um Aufschlüsse für die eigene Praxis und einen politischen Standpunkt der Veränderung und der Kritik entwickeln zu können. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Hall nie eine klassische Monografie verfasst hat, sein Opus Magnum sind die immer wieder neu ansetzenden Analysen sich verschiebender Kräfteverhältnisse im hegemonialen Stellungskampf. Es ging ihm um das Verstehen der Krisen, der Konjunkturen und Verstetigungen von Herrschaft und der widerständigen wie affirmativen kulturellen Praxen der Subjekte in diesen Herrschaftsverhältnissen.

Viele von Halls Beiträgen entstanden als Schulungs- und Bildungsmaterialien für seine Veranstaltungen an der Open University, an der er von 1979 bis 1997 als Soziologie-Professor lehrte; eine Fernhochschule, die als erste Universität in Großbritannien keine Aufnahmebeschränkung vorsah und so Studierenden ohne klassische Bildungsbiografie erst ein Studium ermöglichte. Hall experimentierte in seinen Kursen mit neuen didaktischen Methoden, arbeitete mit Künstlern, Musikern, Film- und Theaterregisseuren zusammen. Seine multimedialen Unterrichtsmaterialien wurden schnell zu begehrten Sammlerobjekten, aber auch zu praktischen Beispielen für eine kritische Theorievermittlung, die ihre zahlreichen Leserinnen und Leser auch außerhalb der Hochschulen fand.

Ein Gramscianisches Forschungsprogramm

Theoretisch orientierte sich Hall am europäischen (Post-)Strukturalismus und strukturalen Marxismus, sowie ab den 1990er Jahren den Postcolonial-Studies. Zu nennen sind hier im Wesentlichen die Schriften von Claude Lévi-Strauss, Louis Althusser, Nico Poulantzas, Michel Foucault und Homi Bhabha. Die wohl bedeutsamste Referenz für Hall sind jedoch die Gefängnishefte von Antonio Gramsci; ein Einfluss, der in der jüngeren (post-strukturalistischen) Rezeptionsgeschichte seiner Texte häufig vernachlässigt wird. Doch erst die Schriften des italienischen Marxisten erlaubten es ihm, auf dem marxistischen Terrain zu bleiben und dieses mit seinen kulturtheoretischen, ideologiekritischen und semiotischen Fragestellungen zu bearbeiten und zu erweitern.

Gramscis für den Marxismus neuartige Diskussion des Basis-Überbau-Verhältnisses, etwa in seiner Bestimmung des Ideologischen als gelebte Alltagspraxis oder seiner Lesart von Kultur als ganzheitlicher, sinnstiftender Tätigkeit, machten ihn zu einer Schlüsselfigur für Stuart Hall und das politische Forschungsprojekt der Cultural Studies. Die Fähigkeit des modernen Kapitalismus, sich trotz der wiederkehrenden Krisen kapitalistischer Akkumulation immer wieder ideologisch zu erneuern und seine hegemoniale Stellung zu revitalisieren, erforderte ein Gramscianisches Forschungsprogramm: »Von einem bestimmten Moment an«, erinnert sich Hall 1990 an das theoretische Werden der Cultural Studies, »waren die Fragen, denen ich mich zuwenden wollte, für mich nur noch über einen Umweg über Gramsci zugänglich« (Stuart Hall, Ausgewählte Schriften Bd. 3, S. 40).

Gramsci diente Hall entlang unterschiedlicher Themen als Referenz, dabei beeindruckt, dass es ihm nicht darum ging, den italienischen Marxisten, der in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts politisch wirkte, bloß wiederzugeben, sondern tatsächlich entlang der brennenden Gegenwartsfragen anzuwenden, das heißt sich seine Denkweise anzueignen und in neue analytische Begriffe und Fragestellungen zu überführen.

Die Hegemonie des Thatcherismus

Exemplarisch hierfür steht Halls hegemonietheoretische Analyse des Thatcherismus. Noch bevor Thatcher im Jahr 1979 die Wahl gewinnen sollte, prägte Hall bereits den Begriff des »Thatcherismus« und benannte damit ein wirkmächtiges ökonomisches wie ideologisches Projekt, das eine neoliberale Zeitenwende in der Formierung des modernen Kapitalismus einleiten sollte. Der politische Siegeszug Thatchers, der vordergründig vom Bild der »eisernen Lady« geprägt war, welche die Gewerkschaften in die Knie gezwungen und das sozialdemokratisch korporatistische Modell der britischen Nachkriegszeit zerschlagen hat, wurde durch Hall einer Kritik unterzogen, bei der er die Fragestellung neu anordnet: Statt nur nach dem Zwangscharakter zu fragen, die Lügen und Unwahrheiten zu skandalisieren, lenkte er sein Augenmerk auf die Fähigkeit des Thatcherismus, wirklichkeitsnahe, einleuchtende und »wahre« Standpunkte diskursiv herzustellen. Unter Rückgriff auf Gramsci betonte Hall, dass erst die Fähigkeit der kulturellen und ideologischen Bearbeitung der Zivilgesellschaft, insbesondere die Herstellung von Subjektpositionen, aus deren Sicht die neoliberalen Diskurse einen Sinn ergeben, den Siegeszug des Thatcherismus ermöglichten. Hall skizzierte, wie ein neuer hegemonialer Block entstand, gerade weil der Thatcherismus nicht nur auf ökonomischer Ebene agierte, sondern geschickt die moralisch-ethischen Anrufungen an das freie Individuum und den freien Markt mit traditionellen, subjektive Sicherheiten vermittelnden Werten wie Englischtum, Patriarchalismus, Familie und Nation zusammenführte. Dieser »autoritäre Populismus« verschaffte dem neoliberalen Projekt auch in jenen Gesellschaftsgruppen Zustimmung, deren Interessen zu vertreten eigentlich niemand ernsthaft behaupten konnte (Halls Thatcherismus-Studien sind in Bd. 1 und 5 seiner Ausgewählten Schriften nachzulesen).

Die von Hall vorgelegten Arbeiten zum Neoliberalismus, die er in den 1990er Jahren auch auf Tony Blairs »Dritten Weg« ausweitet, waren für eine ganze Generation linker Sozialwissenschaftler_innen und Aktivist_innen unverzichtbare analytische Instrumente der Kritik. Weitere Themen, insbesondere seine Forschung zu Rassismus und kultureller Identität, zu Repräsentation und Hybridität wurden international breit rezipiert und diskutiert. Hall avancierte so vor allem in Großbritannien zu einem öffentlichen Intellektuellen, dem es gelang, über die akademische Gemeinde hinaus wahrgenommen und gehört zu werden. Einen bildmächtigen und musikalischen Eindruck von Stuart Halls Leben vermittelt das im September vergangenen Jahres in den britischen Kinos gezeigte Film-Portrait: »The Stuart Hall Project«. Der Film ist Anfang des Jahres auch auf DVD erschienen. Einen hervorragenden Überblick über das 40-jährige Gesamtwerk Stuart Halls bieten seine im Argument Verlag Hamburg in fünf Bänden auf Deutsch erschienenen Ausgewählten Schriften.

Andreas Merkens ist Referent für politische Bildung bei der Rosa Luxemburg Stiftung Hamburg und hat gemeinsam mit Juha Koivisto den vierten Band der Ausgewählten Schriften von Stuart Hall im Argument Verlag herausgegeben.

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