1. Januar 2001 Joachim Bischoff

Massive Korrekturen

Der neue US-Präsident Bush findet bei Amtsantritt eine vollständig veränderte Ausgangskonstellation vor. Clinton eröffnete seine Amtsperiode, als die US-Wirtschaft die Rezession von 1991 bereits deutlich hinter sich gelassen hatte. Die Stabilisierung des Wirtschaftswachstums auf einem hohen Niveau (durchschnittlich 3,5% BIP bis 2000) soll nicht gering geschätzt werden, denn immerhin wurde – in Kooperation mit der US-Notenbank – der Übergang in einen erneuten Konjunkturzyklus 1995/96 so gut abgefangen, dass die 90er Jahre als von wirtschaftlichen Schwankungen freies Jahrzehnt der Prosperität wahrgenommen werden.

Die Clinton-Administration kann es sich als Erfolg anrechnen, dass die Sanierung der öffentlichen Finanzen durchgesetzt wurde. Lag das Haushaltsdefizit bei Amtsantritt noch bei 290 Mrd. Dollar, übernimmt der Republikaner Bush einen Überschuss aus dem Haushaltsjahr 2000 von 230 Mrd. Dollar. Die Stabilisierung der Kapitalakkumulation zeigte positive Wirkungen. In den zurückliegenden Jahren sind die Unternehmensinvestitionen zweistellig gewachsen (seit 1996 jahresdurchschnittlich mit 10,6%), so dass ein beträchtlicher Abbau der Arbeitslosigkeit und eine leichte Zurückdrängung der Armutsquote erreicht wurde.

Auf der Negativseite der Übergabebilanz stehen vor allem drei Punkte: Bei Stabilisierung des Geldwertes ist das Ertragsbilanzdefizit auf die Größenordnung von 300 Mrd. Dollar angestiegen. Die Verteilungsunterschiede zwischen Reichen und Armen haben zugenommen. Und die angestrebte Verbesserung der sozialen Sicherheit (Gesundheit und Alterssicherung) konnte nicht realisiert werden. Clinton konnte sich auf eine konjunkturelle Aufwärtsbewegung stützen, während die neue Administration verhindern soll und will, dass die erschöpften Wirtschaftskräfte in einen rezessiven Abwärtsstrudel hineingezogen werden (hard landing). Fakt ist mittlerweile: Die Konjunktur in den USA hat sich deutlich abgeschwächt. Viele Unternehmen korrigieren ihre Geschäfts- und Gewinnerwartungen. Dies betrifft nicht nur das Segment der New Economy, das einige Monate als der entscheidende Treibsatz des Wirtschaftswachstums gehandelt wurde. Auch die klassischen industriellen Unternehmen wie Automobilproduktion und Chemie melden eine Abschwächung des Umsatzes und müssen ihre Gewinnprognosen deutlich korrigieren.

Im Bereich der Unternehmensanleihen müssen höhere Zinsen gezahlt werden. Die anziehenden Zinsen drücken eine Eintrübung der Konjunktur aus. Gerüchte über Schieflagen in einigen Segmenten dieser Unternehmensanleihen haben zusammen mit der Rücknahme der Gewinnerwartungen die massiven Kurskorrekturen an den US-Wertpapierbörsen ausgelöst. Seit dem Ende der 80er Jahre hatten sich die Preise für Aktien in den Vereinigten Staaten nahezu vervierfacht. Gegenüber den Höchstständen im Frühjahr 2000 ist bereits eine deutliche Korrektur eingetreten. Während die Papiere des Technologieindex Nasdaq um ca. ein Drittel im Wert reduziert wurden, liegen die Verluste beim Dow Jones Index bei rund 10%. Die Kurse sind also gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis historisch nach wie vor auf einem hohen Niveau.

Die Turbulenzen auf den Wertpapierbörsen sind Auftakt für eine Abschwächung der Konjunktur im Bereich der Realwirtschaft. Die Indizien für eine Abkühlung der US-Konjunktur sind eindeutig. Bei den privaten Haushalten führen die durch einen Preisverfall auf den Wertpapierbörsen ausgelösten Vermögenseffekte zu einer Beschränkung bei den Ausgaben. Die Rückschlag eines negativen »wealth-effects« auf gesellschaftliche Nachfrage und Einkommens- und Produktionskreisläufe fällt umso deutlicher aus, wenn – wie in den USA – die Sparneigung ausgesprochen bescheiden und die Verschuldung von Haushalten und Unternehmen beträchtlich ist.

Die neue Administration hat nur beschränkte Möglichkeiten des Gegensteuerns. Zwar böte der Zustand der öffentlichen Finanzen durchaus solide Ansatzpunkte für eine zügige Ausweitung der öffentlichen Investitionen oder eine Stützung der Masseneinkommen, aber die programmatisch-ideologische Position der neuen Präsidentschaft schließt den Einsatz solcher Mittel aus. Bush ist auf weitere Steuersenkungen festgelegt, die unter den neuen Kräfteverhältnissen im Kongress und Senat aber nicht zügig durchzusetzen sein werden. Gleichermaßen dürfte das vorgesehene Aufrüstungsprogramm auch nicht sofort gestartet werden können. Die Zins- und Geldpolitik der US-Notenbank ist daher für die nächste Zeit das wesentliche Steuerungspotenzial einer US-Wirtschaft und Weltkonjunktur am Wendepunkt.

Wendepunkt der Weltkonjunktur

Die Vereinigten Staaten hatten in dem zurückliegenden Wirtschaftszyklus die Funktion einer weltwirtschaftlichen Konjunktur-Lokomotive. Die Nachfrageimpulse aus der prosperierenden Kapitalakkumulation wurden durch den hohen Wechselkurs des Dollar verstärkt. Die gewichtigen Konkurrenten unter den kapitalistischen Metropolen – Japan und die Länder des Euro-Raumes – sind wegen einer schwachen oder depressiven Verfassung der Binnenökonomie nicht in der Lage, einen Ausfall der Impulse aus den USA zu kompensieren. Der drastische Rückgang der Sparquote und der wealth-effect der Börsenkurse sind nicht nur Bedingung eines Konsumbooms in den USA, sondern auch eines Außenhandels- und Leistungbilanzdefizits, das den europäischen Metropolen und Japan bislang beträchtliche Exportsteigerungen bescherte. Speziell für die bundesdeutsche Ökonomie gilt: Die Beschleunigung der Kapitalakkumulation steht im direkten Zusammenhang des Exportes, der durch die anhaltende Abwertung des Euro verstärkt wurde.

Zu Recht betonen die meisten Konjunkturexperten, dass die Entwicklung in den USA entscheidend für den weiteren Verlauf des Wirtschaftszyklus der Weltwirtschaft ist. Die Massenkaufkraft und damit die Binnenkonjunktur in Japan und Europa reicht nicht aus, das Übergewicht der USA für die Konjunktur der Weltökonomie zurückzudrängen. In den letzten Jahren floss viel Kapital aus Europa in die USA ab. Die US-Unternehmen arbeiten im Durchschnitt profitabler, weswegen in den USA höhere Eigenkapitalrenditen zu realisieren sind, egal ob in ein Unternehmen oder in Wertpapiere investiert wird. Zudem werden bei Übernahmen, Beteiligungen oder Portfolio-Investitionen außerhalb der USA die Transaktionen überwiegend in Dollar abgewickelt, was den Wechselkurs der US-Währung begünstigt. Der weltweite Dollarisierungs-Prozess ist auch im letzten Jahrzehnt weiter vorangekommen. Nach Schätzungen der amerikanischen Zentralbank zirkulieren gegenwärtig zwei Drittel der amerikanischen Bargeldmenge außerhalb der USA. In vielen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Osteuropas ist der Dollar bevorzugtes Zahlungsmittel. Ein wachsender Teil der Austauschakte wird in Dollar vorgenommen, weil die Unternehmen und Haushalte sich gegenüber dem vermeintlichen oder effektiven Wertverlust schützen wollen, indem sie das schlechte staatliche Geld durch gutes Geld ersetzen. Diese weiche Dollarisierung mündet manchmal in der vollständigen Übernahme der US-Währung als offizielles Zahlungsmittel wie in Argentinien oder Ecuador. Etliche unterentwickelte Länder blieben unterhalb eines offiziellen monetären Souveränitätsverlustes, indem sie die Stabilität der nationalen Währung durch Rückbindung an internationale Währungsreserven (Currency Board) absichern. Die weiche oder volle Dollarisierung von nationalen Ökonomien hat Auswirkungen auf die Entwicklungstendenz des Wechselkurses und macht diese Peripherien hoch krisenempfindlich für die konjunkturelle Bewegung in den USA.

In dem Maße, wie der Wirtschaftsmotor in den USA stottert, der Kapitalzufluss aus Euro-Land nachlässt oder gar die Präferenzen für Investitionen in Europa steigen, wird im Dollar-Euro-Wechselkurs eine Trendwende einsetzen, die freilich negative Rückwirkungen auf Export und Produktion in Euroland hat. So wie die Lokomotivfunktion der USA durch Kapitalbewegungen und Wechselkurs in den zurückliegenden Monaten unterstützt wurde, tritt bei Abschwächung der US-Konjunktur eine sich verstärkende Abwärtsbewegung für die Länder der Peripherie und die nachgeordneten kapitalistischen Metropolen ein. Schlussfolgerung: Die Wahrscheinlichkeit für einen Aufschlag der US-Konjunktur hat zugenommen, und folglich hat sich das Wirtschaftsklima in Japan, Europa und der Peripherie bereits deutlich abgekühlt.

Die Politik der »Neuen Mitte«

Das Wirtschaftswachstum hat in Deutschland zugenommen, ist aber deutlich hinter den anderen kapitalistischen Metropolen zurückgeblieben. Die realen Nettoarbeitseinkommen und die Masseneinkommen (Sozialleistungen und Löhne) sind in so geringem Maße gestiegen, dass die deutlich geringeren Zuwachsraten des BIPs verständlich werden. Die bundesdeutsche Entwicklung ist wesentlich durch den Exportmotor bedingt. Bezogen auf große Teile der Industrie kann von einer deutlichen Erhöhung der Exportabhängigkeit gesprochen werden. Die Steuerreform bringt für 2001 einige Entlastungen, aber die Steigerungen der Energiepreise, die höheren Aufwendungen für öffentliche und soziale Leistungen (Krankenkasse, Bildung) und die anhaltende Diskussion über die Alterssicherung waren nicht dazu angetan, bei den Konsumenten ein großzügigeres Ausgabenverhalten anzustoßen. Das vorgesehene Zukunftsinvestitionsprogramm (ca. 5 Mrd. DM), das Bundesfinanzminister Eichel aus der Zinsersparnis (die UMTS-Lizenzen werden zur Tilgung der öffentlichen Schulden eingesetzt) für die nächsten drei Jahre finanzieren will, stellt eine Ausweitung des öffentlichen Konsums dar, dürfte aber vom Volumen her nicht ausreichen, eine Abschwächung der Weltkonjunktur aufzufangen. Auch für die Regierung der Bundesrepublik gilt, dass sie von ihrer programmatischen Ausrichtung und den eingeleiteten Maßnahmen eher auf eine Politik der Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ausgerichtet ist und im Falle einer raschen konjunkturellen Abwärtsbewegung nicht rasch eine Kursänderung durchsetzen und auf eine Politik der Abfederung der Talfahrt umschwenken könnte.

SPD-Generalsekretär Müntefering fordert seine Partei und die rot-grüne Regierungskoalition dazu auf, auch das Jahr 2001 zu einem Erfolg für Erneuerung und Modernisierung zu machen. Allerdings könnte dieses strategische Kalkül nur aufgehen, wenn es bei einer leichten Abschwächung des Wirtschaftswachstums bleibt und zudem die Tendenz der Entspannung auf dem Arbeitsmarkt anhält. Der Sachverständigenrat erwartet bei einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts um 2,8% eine Arbeitslosenarmee (inklusive der verdeckten Formen) von 5,18 Millionen. Die angelaufene Haushaltskonsolidierung bei gleichzeitiger Steuersenkung läuft deshalb bislang weitgehend unproblematisch, weil mit der positiven Konjunkturentwicklung erhebliche Krisenlasten wegfallen. Der bisherige Rückhalt der rot-grünen Koalitionsregierung bei den Wählern basiert auf dieser Konstellation. Bei einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums auf unter 2%, geschweige denn bei einem Übergang zu einer rezessiven Entwicklung, würde die wichtige Arbeitsmarktbilanz rasch deutlich schlechter ausfallen. Die sozialen Widersprüche und demnach die politischen Differenzen in der Regierungskoalition bestimmten stärker das politische Erscheinungsbild.

Zum Jahreswechsel verkünden die politischen Wettermacher eine ruhige Fortsetzung des Modernisierungskurses unter Wahrung der sozialen Gerechtigkeit. Die Abschwächung der Frühindikatoren der konjunkturellen Bewegung (Geschäftsklima, Konsumentenvertrauen etc.) werden übergangen. Erst wenn gegen Ende des Frühjahres auch hier die rückläufige Produktion die Entlassungszahlen in die Höhe drückt, wird die Regierungskoalition sich von einer Politik des Schönredens verabschieden müssen. Bleibt der konjunkturelle Rückschlag bescheiden, könnte sich die politische Großwetterlage bis zu den Bundestagswahlen 2002 längst wieder aufgehellt haben. Allerdings bleibt das Risiko einer harten Konjunkturlandung längere Zeit aktuell.

Im Frühjahr 2000 hatte die konjunkturelle Euphorie und ihr spekulativer Ausdruck an den internationalen Wertpapierbörsen ihren Höhepunkt erreicht. Ende März wurde die Gesamtkapitalisierung aller Aktienmärkte in der Welt auf 34,9 Billionen US-$ geschätzt. Bis Mitte November führte die Korrektur der Märkte zu einer Kapitalvernichtung von 4,2 Billionen Dollar. Die herbeigesehnte Jahresend-Rallye an den Wertpapiermärkten ist ausgeblieben. Realistischerweise ist für die nächsten Monate von einer anhaltenden Kapitalvernichtung auszugehen. »Es wird nicht zuviel Reichtum produziert. Aber es wird periodisch zu viel Reichtum in seinen kapitalistischen, gegensätzlichen Formen produziert.« (Marx) Die Entwertung von fiktivem Kapital an den Wertpapierbörsen und der Rückschlag auf eine Stockung in den realwirtschaftlichen Wertschöpfungs- und Einkommenskreisläufen – der offene Ausbruch der Überakkumulation – schafft die Voraussetzungen für eine Erneuerung des konjunkturellen Zyklus. »Ein Teil des Kapitals, das durch Funktionsstockung entwertet war, würde seinen alten Wert wiedergewinnen. Im übrigen würde mit erweiterten Produktionsbedingungen, mit einem erweiterten Markt und mit erhöhter Produktivkraft derselbe fehlerhafte Kreislauf wieder durchgemacht werden.«

Joachim Bischoff ist Redakteur von Sozialismus.

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