1. Dezember 2005 Redaktion Sozialismus

Misstrauens-Koalition

Angela Merkel ist mit deutlicher Mehrheit zur Bundeskanzlerin gewählt worden – die neue Koalition hat eine breite parlamentarische Mehrheit. Aber in der Zivilgesellschaft überwiegen die skeptischen Stimmen. Der Kompass für das Regierungshandeln zeigt in Richtung einer Radikalisierung der Agenda 2010. Und diese politische Option überzeugt immer weniger BürgerInnen.

Die Demoskopen haben für die Brüchigkeit der neoliberalen Hegemonie ein Erklärungsraster. "Hinter der Skepsis gegenüber der neuen Koalition steckt mehr als die gewachsene Grundhaltung gegenüber Politik und Politikern. Zum einen glaubt die Mehrheit der Bevölkerung nicht, dass die große Koalition in der Lage sein wird, die Probleme des Landes zu lösen... Vor allem rechnet eine Mehrheit der Bevölkerung damit, dass ihr die Politik der neuen Bundesregierung finanzielle Nachteile bringen wird."[1]

SPD und CDU / CSU haben sich angenähert: programmatisch, realpolitisch wie hinsichtlich des Parteientypus. Am historischen Bezugspunkt lassen sich die substanziellen Veränderungen deutscher Parteiendemokratie ablesen: Anfang der 1970er Jahre wählten noch über 80% der Wahlberechtigten die beiden großen Volksparteien – am 18. September 2005 waren es gerade noch 53%. Dass die "große" Koalition ziemlich klein geworden ist, markiert einen massiven Erosionsprozess. Nicht nur, was die numerische Größe betrifft, sondern vor allem auch, was ihre soziale Repräsentation ausmacht: Arbeitslose, Arbeiter, Alleinerziehende, RentnerInnen – die so genannten kleinen Leute haben von diesen Parteien außer weiteren Kürzungen nichts zu erwarten.

Eine politische Bewertung des Regierungsprogramms kann nicht mit dem Koalitionsvertrag vom 11.11.2005 beginnen, sondern muss die Ergebnisse der Agenda 2010 einbeziehen. Denn in der Kontinuität wird ein gesellschaftspolitischer Systemwechsel deutlich.

Arbeitsmarktpolitik

Es ist nicht schlichte "Sparpolitik" oder Sozialabbau, was auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik erfolgt. Zunächst einmal musste die große Koalition nicht mehr tun, als den Beschluss der Schröder / Fischer-Regierung zu bekräftigen, wonach der Bezug von Arbeitslosengeld ab dem 1. Februar 2006 auf zwölf Monate (18 Monate für über 55-jährige) befristet ist. Langjährig Versicherte müssen nunmehr erheblich mehr in die Kassen der Bundesagentur für Arbeit einzahlen, als sie als Arbeitslose jemals an Transfers erwarten können. Selbst eine annähernde Äquivalenz von Ein- und Auszahlungen ist nicht mehr gegeben. Damit findet der erste Schritt der Delegitimierung einer der Säulen des Sozialstaates statt. Der zweite Schritt besteht darin, dass Langzeitarbeitslosigkeit mit Armut identisch ist und damit in einen Fürsorgetatbestand umgebogen ist, der staatlicher Bedürfnisprüfung unterliegt. Was das heißt, hat die große Koalition umgehend mit der Verschärfung der Richtlinien für Bedarfsgemeinschaften und der Heranziehung der Eltern für den Unterhalt ihrer erwachsenen arbeitslosen Kinder (bis zum Alter von 25 Jahren) deutlich gemacht.

Gemäß der Maßgabe, dass Arbeitslosigkeit vor allem billig zu sein habe, wird ein auf Rechtsansprüchen gründender Sozialstaat durch einen Schnüffelstaat verdrängt, der selbst bürgerliche Freiheitsversprechen – die autonome Entscheidung für individuelle Lebensformen – unter staatliche Bewilligungskontrolle stellt. Mehr noch: Durch die weitere Kürzung der Schonvermögen und der Rentenversicherungsbeiträge von ALG II-Beziehern werden die Opfer des Systemumbaus auf dem Arbeitsmarkt tiefer in die aktuelle und künftige Armut hineingetrieben. Geplantes Einsparvolumen der Radikalisierung von Hartz IV: 3,8 Mrd. Euro – vorbereitet durch eine "Parasiten"propaganda des alten und auch des neuen sozialdemokratischen Arbeitsministers mit dem Ziel der sozialen Spaltung durch die populistische Mobilisierung niedrigster Instinkte und Vorurteile.

Dass ausgerechnet in einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit auf einen historischen Höchststand gebracht wurde, der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung um zwei Prozentpunkte[2] gesenkt werden soll, zeigt, wohin die Reise geht. Obwohl auch im kommenden Jahr die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um knapp eine halbe Million zurückgefahren werden, streicht die Bundesagentur die Instrumente aktiver Arbeitsmarktpolitik – vor allem im Bereich von Umschulung und Weiterbildung – kräftig zusammen. Die Abschaffung der Ich-AGs (ab 1.7.2006) und die Rückführung der Personalserviceagenturen sind konsequent: Erstere laufen bereits seit einigen Monaten mit dem Ende der dreijährigen Förderperiode aus und die Leiharbeit wird wieder stärker in den Bereich privater Arbeitsvermittlung überführt.[3] Die Prekarisierung der Arbeit wird hingegen verstärkt.

Dafür sorgt die Abschaffung des Kündigungsschutzes für die Dauer von zwei Jahren bei Neueinstellungen. Um sich die Folgen zu vergegenwärtigen, muss man wissen, dass jährlich zwischen sieben und acht Millionen Beschäftigte ihren Arbeitsplatz wechseln – im Umfang dieser Rotation wird der Kündigungsschutz weiter ausgehebelt. Unbefristete Neueinstellungen von Berufseinsteigern waren bereits in den vergangenen Jahren die Ausnahme – nunmehr brauchen selbst Befristungen nicht mehr extra vereinbart zu werden. Mit der Kürze der Arbeitsverhältnisse und der – geforderten bis erzwungenen – Mobilität der Arbeitskräfte wird der Kündigungsschutz für wachsende Teile der arbeitenden Bevölkerung zu einem Auslaufmodell.

Auch hier hatte Rot-Grün effektiv vorgearbeitet: Mit der Erhöhung des Schwellenwerts auf Betriebe mit mindestens zehn Beschäftigten hatten seit dem 1. Januar 2004 6,5 Millionen ArbeitnehmerInnen das demokratische Recht auf arbeitsrechtliche Klagen gegen unbegründete Entlassungen verloren. Nimmt man beides zusammen, befindet sich Deutschland auf dem Weg zum Hire-and-fire-Standort.

Alterssicherung

Das zweite Feld, auf dem ein Systemwechsel sichtbar wird, ist die Alterssicherung. Auch hier hat Rot-Grün langfristig vorgearbeitet: Die Konstruktion eines so genannten Nachhaltigkeitsfaktors sorgt dafür, dass das Nettorentenniveau bis zum Jahr 2030 kontinuierlich von knapp 70% auf gut 52% sinkt. Doch wer zählt in Zeiten des Strukturwandels einer unter massiver Nachfrageschwäche darbenden "Dienstleistungsgesellschaft" noch zum Standardrentner: 45 Jahre kontinuierliche Beschäftigung mit einem Durchschnittseinkommen?

Die programmierte massenhafte Altersarmut toppt nun die große Koalition. Zum einen dadurch, dass es auf absehbare Zeit keine nominalen Rentenerhöhungen, also reale Rentenkürzungen geben wird. Dafür sorgt die Verrechnung der Jahre potenzieller Rentenkürzungen mit potenziellen Rentenerhöhungen – mit dem so genannten Nachholfaktor wird die dynamische Rente (eine der maßgeblichen Sozialreformen des Rheinischen Kapitalismus) zu Grabe getragen. Zum zweiten durch die monatliche Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre ab 2012 bis 2035, was auf Rentenkürzungen in Höhe von 7,2% hinausläuft. Das Vorhaben, die Beschäftigungsquote Älterer durch entsprechende Subventionen zu erhöhen, wird nicht greifen – es wäre auch blanker Zynismus in Zeiten wachsender Jugendarbeitslosigkeit. Hinzu kommt aller Voraussicht nach drittens eine Anhebung des Krankenkassenbeitrags für RentnerInnen von 50% auf voraussichtlich 80% – allein das macht eine Rentenkürzung von rund 6% aus.

Addiert man die Wirkung dieser Maßnahmen, dürfte das Rentenniveau selbst eines Standardrentners auf unter 50% des Nettolohns gedrückt werden. Von dem ursprünglich sozialstaatlichen Ziel der Lebensstandardsicherung im Alter gelangt man zur Armutsverwaltung – und zum Systemwechsel. Selbst wer heute in der Mitte seines Erwerbslebens steht, wird mehr in die gesetzliche Alterssicherung einzahlen, als er / sie an Rentenleistungen erwarten kann. Selbst wer nur annähernd so schnöde rechnet wie die Sozialpolitiker der regierenden Parteien, fragt sich, welchen "Wert" ein Sozialsystem hat, das auf Zahlungsverlusten basiert.

Bislang gibt es die Regelung einer Mindestrente, die armutsresistent sein soll. Diese Hürde wird als nächste abgebaut werden. Und für all das ist künftig ein erhöhter Beitragssatz von 19,9% fällig. Systemwechsel heißt: Hier wird die nächste Runde der Privatisierung der Alters(verun)sicherung eröffnet.

Gesundheitssystem

Offen geblieben ist der Umbau des Gesundheitssystems, wo im Wahlkampf die gegensätzlichen Modelle der Gesundheitsprämie und der Bürgerversicherung gegeneinander standen. Da die Einsparungseffekte des de facto großkoalitionären Gesundheitsmodernisierungsgesetztes (Schmidt / Seehofer) 2007 auslaufen, in zwei Jahren also neue Defizite ins Haus stehen, besteht bereits im kommenden Jahr Einigungszwang. Dabei zeichnet sich als drittes Feld des Systemumbaus das Ende der paritätischen Sozialstaatsfinanzierung ab, indem die Arbeitgeberbeiträge bei 6,63% eingefroren und alle künftigen Kostensteigerungen auf die abhängig Beschäftigten überwälzt werden. Um diese wiederum zu begrenzen, ist mit Kürzungen des Leistungskatalogs zu rechnen, also mit weiteren Privatisierungsmaßnahmen wie beispielsweise zuletzt beim Zahnersatz und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Das Gesundheitssystem wird so schrittweise zu einem Grundversorgungssystem umgebaut, das keinen umfassenden kollektiven Gesundheitsschutz mehr bietet. Klassenmedizin wird zum Systemmerkmal.

Auf diesem Weg ist die Pflegeversicherung der Prototyp: Dort war die Aushebelung der paritätischen Finanzierung das Zugeständnis an die Unternehmerverbände, damit diese sich überhaupt mit einer kollektiven Versicherungsleistung für gesellschaftliche Zukunftsvorsorge arrangieren konnten. Die Pflegeversicherung wird 2007 ihre Rücklagen aufgezehrt haben. Hier haben die Koalitionsparteien bereits angekündigt, den Beitragssatz anzuheben sowie analog zur Rentenversicherung den Weg der schrittweisen Privatisierung zu beschreiten.

Mehrwert- und "Reichen"steuer

In keinem der gegenwärtig vorliegenden Konjunkturgutachten wird ein Ende der Stagnation auf dem Binnenmarkt prognostiziert.[4] In einer solchen wirtschaftspolitischen Lage ist die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19% ab 2007 Unfug. Die jährlichen Zusatzbelastungen belaufen sich bei vollständiger Überwälzung auf die Preise bei den 13,9 Mio. Rentner- und Nichterwerbstätigenhaushalten auf 270 Euro, bei den 2,3 Mio. Arbeitslosenhaushalten im Durchschnitt auf 225 Euro und für die 1,6 Mio. Beamtenhaushalte – denen zusätzlich Arbeitszeitverlängerung[5] verordnet und Weihnachtsgeld und Gehaltsanhebungen zusammengestrichen werden – auf 495 Euro. Allerdings sind die preislichen Überwälzungsmöglichkeiten bei stagnierender oder rückläufiger Binnennachfrage begrenzt. Deshalb ging das Bundesfinanzministerium im Sommer diesen Jahres davon aus, dass die Anhebung der Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt statt der erwarteten 8 Mrd. nur 6,2 Mrd. Euro in die Kassen spülen wird – ab 2007 also nur 18,6 Mrd. statt 24 Mrd. Euro. Da die Mehreinnahmen nicht ausreichen werden, dürfte die nächste konjunkturelle Giftliste bereits in Vorbereitung sein.

Dies umso mehr, als für 2008 eine umfassende Unternehmensteuer"reform" angekündigt ist. Im Vorgriff darauf werden die Abschreibungsmöglichkeiten für Unternehmen befristet auf zwei Jahre erweitert – Kostenpunkt rund 4,3 Mrd. Euro. Ferner wird die Erbschaftsteuer bei Betriebsübernahmen faktisch gestrichen. Nur zur Erinnerung: Deutschland war bereits vor der Absenkung der Steuersätze durch Rot-Grün ein Land, das Steuerdumping im Standortwettbewerb der Metropolen betrieben hat: mit einem Anteil der Körperschaftsteuer am BIP (1,8%), die nur noch die Hälfte der Ergiebigkeit im Vergleich zur EU-15 aufwies, einer Einkommensteuer (9,5%), die sowohl die USA wie die EU-15 unterbot und einer Vermögensbesteuerung (0,9%), die dieses Land im internationalen Vergleich (USA 3,1%, EU-15 2%) zu einer Steueroase macht.

Die so genannte Reichensteuer (1,2 Mrd. Euro) ist ein schlechter Witz, den man schnell vergessen kann: Die Ergiebigkeit liegt unter der der Einsparungen bei der Pendlerpauschale. Handlungsbedarf ist also offensichtlich. Die fortgesetzte Begünstigung der Unternehmens- und Vermögenseinkommen zeigt Wirkung. Richtig wäre, die überschüssige Geldkapitalakkumulation zügig zurückzudrängen.

Es fehlt an gesellschaftlicher Nachfrage

Auch fünf Jahre Binnenmarktstagnation markieren einen Systemwechsel: die Abkehr von der Akkumulation als Motor der bürgerlichen Produktionsweise. Der Umschlag von Produktivkräften in Destruktivkräfte wird in leeren Geschäften in den Innenstädten, im Verfall von Infrastruktur und öffentlichen Einrichtungen augenfällig.

Tatsache ist: Die Polarisierung der Einkommen wird politisch befördert, die Massenkaufkraft weiter gesenkt. Zusätzlich zu den Belastungen durch die erhöhte Mehrwertsteuer, die weiteren Kürzungen beim ALG II und massive Rentenkürzungen kommen zahlreiche Einzelmaßnahmen: Halbierung des Weihnachtsgeldes der Bundesbeamten und Pensionäre, Komplettstreichung bei den Wehr- und Zivildienstleistenden (Kürzungsvorgabe: 1 Mrd. Euro), Streichung der Pendlerpauschale für die ersten 20 km (Einsparungen bei voller Wirksamkeit gut 1,6 Mrd. Euro), die Kürzung des Sparerfreibetrages (750 Mio. Euro), Verteuerung des öffentlichen Nahverkehrs (Kürzungen von 3,15 Mrd. Euro in den nächsten vier Jahren), Streichung der Eigenheimzulage, Eingriffe in Leistungsgesetze, usw. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) beziffert die Wachstumsverluste infolge der Mehrwertsteuererhöhung auf 0,4%, und die der Sparpakete (16 Mrd. Euro) auf zusätzliche 0,8%.

Die öffentliche Investitionsquote bleibt auf dem niedrigsten Stand der deutschen Nachkriegsgeschichte, es gibt keine Beschäftigungsimpulse.[6] Der Binnenmarkt droht 2007 – wenn die großkoalitionären Maßnahmen greifen – aus einer Stagnation in eine Rezession abzukippen. Da scheint nichts naheliegender zu sein, als im Rahmen der Föderalismusreform nicht nur zur Fürstentümerpolitik in Bildungsfragen zurückzukehren, sondern auch den Ländern die Freigabe des Ladenschlusses zu überlassen.[7]

Die Herstellung von mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt und besseren Investitions- und Verwertungsbedingungen für die Unternehmen sind seit Jahrzehnten Leitlinien der Politik. Nun will die große Koalition "Deutschland wieder nach oben führen". In zehn Jahren soll das Land unter den "ersten drei Staaten Europas" sein. Die Exportindustrie ist längst Weltmeister. Doch die Schwächung des Binnenmarktes lässt weder einen Abbau der Massenarbeitslosigkeit noch eine Sanierung der öffentlichen Haushalte zu. Es wird dabei bleiben, dass das Wachstum hierzulande hinter dem der anderen kapitalistischen Metropolen zurückbleibt. Es fehlt nicht an Investitionskapital, es fehlt an gesellschaftlicher Nachfrage.

Über die grandiose Fehlentwicklung und zugleich beeindruckende ideologische Desinformationskampagne ist schon vor den Zeiten der Agenda 2010 geurteilt worden: "Es sei noch nicht genug reformiert worden, sagen die Verfechter der seit zwanzig Jahren tonangebenden Richtung. Deutschland sei erstarrt und verkrustet, es gäbe ein hartnäckiges Strukturproblem... Weiter reformieren und entstaatlichen, den Arbeitsmarkt flexibler machen, die sozialen Sicherungssysteme weiter privatisieren, die gesamte Reformagenda konsequent abarbeiten." (Flassbeck/Müller)

Diese Politik wird – wie alle vorangegangenen Ansätze – scheitern. Mit der Sparpolitik nimmt die soziale Ungerechtigkeit weiter zu, die soziale Spaltung wird verschärft und – wegen wachsender sozio-ökonomischer Fehlentwicklung – neuer Spar- und Konsolidierungsdruck erzeugt. Im Ergebnis der schleichenden Zerstörung des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus hat sich auch in der Bundesrepublik ein System des entfesselten Kapitalismus durchgesetzt. Zu Recht wird in vielen Bewertungen unterstrichen, dass die Gefahr besteht, durch das Spar- und Konsolidierungsprogramm in eine sozio-ökonomische Abwärtsspirale hinein zu geraten. Für die Zukunft dürfte mehr noch als die Instabilität der ökonomischen Entwicklung der verstärkte Vertrauensverlust in die gesellschaftlichen Institutionen und die Politik Folgen haben.

Zu der unverantwortlichen Fortsetzung neoliberaler Politik kommt die Instabilität: Die große Koalition ist eine fragile politische Konstellation. Wichtige Bereiche wie die Neuregelung des Gesundheitsbereiches bleiben ausgeklammert, weil die Sozialdemokratie einen Systemwechsel zur Gesundheits- oder Kopfprämie wohl weder innerparteilich noch unter ihren WählerInnen durchsetzen könnte. Wir sollten uns von den Beteuerungen, die Koalition sei auf vier Jahre angelegt, nicht einlullen lassen. Wenn der Vorrat an Gemeinsamkeiten aufgebraucht oder wenn es politisch opportun erscheint, werden wir erneut zu vorgezogenen Neuwahlen aufgerufen.

Die Linke ist mit einer starken Fraktion in den Bundestag eingezogen. Sie kann politische Alternativen verdeutlichen und für die Herausbildung breiter gesellschaftlicher Bündnisse gegen den Neoliberalismus streiten.

[1] Noelle, E.: Große Koalition in Politikverdrossenheit, in: FAZ vom 23.11.2005, S. 5.
[2] Ein Prozentpunkt (= 7,4 Mrd. Euro) soll über die Mehrwertsteuererhöhung finanziert werden, ein weiterer von der Bundesagentur für Arbeit durch "Einsparungen". Bislang war dort aber nur von 0,5% bis Mitte 2006 und einem weiteren Viertelprozent Anfang 2007 die Rede (rund 5 Mrd. Euro) – zumal in Gänze der Bundeszuschuss "eingespart" werden soll. Auch auf diesem Weg sind weitere Eingriffe in Leistungsgesetze vorprogrammiert.
[3] Nur der Vollständigkeit halber sei die Einführung eines Kombilohns für 100.000 deutsche (statt vor allem osteuropäische) Erntehelfer und eines Mindestlohns für das Gebäudereinigerhandwerk erwähnt.
[4] Die Wirtschaftsforschungsinstitute gehen im Herbstgutachten von einem Rückgang der privaten Konsumausgaben im laufenden Jahr um 0,5% und für 2006 um 0,2% aus – das wird nun mit den Belastungen der großen Koalition unterboten werden.
[5] Auch hier zur Erinnerung: Erst vor einem Jahr hatte Rot-Grün den rund 300.000 Bundesbeamten die Wochenarbeitszeit von 38,5 auf 40 Stunden heraufgesetzt.
[6] Das so genannte Konjunkturprogramm in Höhe von 25 Mrd. Euro ist ein Witz. Jährlich sind es nicht mehr als 6 Mrd., die für so unterschiedliche – zum überwiegenden Teil längst geplante, nunmehr öffentlichkeitswirksam als vermeintlicher Konjunkturimpuls zusammengeschnürte – Maßnahmen wie verbesserte Abschreibungsregelungen, steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen, Elterngeld und zusätzliche Investitionen in Verkehr, Bildung und Forschung. "Es handelt sich vermutlich um das kleinste Konjunkturprogramm in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik" (Dierk Hirschel in: FAZ vom 22.11.05).
[7] Sozialabbau bringt die Neuordnung der föderalen Zuständigkeiten im Pflegebereich. Die Aufhebung der einheitliche Standards definierenden Bundeszuständigkeit wird unter den nun federführenden Ländern zu einem Wettbewerb nach unten führen – je nach Finanzkraft und Sparvorgaben der Länder. So hat das vergleichsweise "reiche" Baden-Württemberg bereits angekündigt, die Quote der Fachkräfte in Pflegeheimen von 50 auf 33% herabzusenken.

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