24. Februar 2012 Richard Detje / Otto König: Armutslöhne – Leiharbeit – Werkverträge

»Modell Deutschland«

In Frankreich feiert das »Modell Deutschland« gegenwärtig eine Auferstehung. Allerdings nicht als jener »Rheinische Kapitalismus«, der für Sozialstaatlichkeit, ausbalancierte industrielle Beziehungen und ein enges Geflecht zwischen Banken und Unternehmen stand.

Mit dem Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus ist dieses Modell historisch geworden. Wenn heute vom »Modèle Allemagne« die Rede ist, hat man den Arbeitsmarkt vor Augen. Denn während die Arbeitslosigkeit in Europa auf Rekordwerte steigt, fällt sie in Deutschland. Selbst im Januar 2012 wäre das der Fall gewesen, wenn nicht auf dem Bau, in der Landwirtschaft und im Einzelhandel wie jedes Jahr die Beschäftigung saisonbedingt heruntergefahren worden wäre. Mit 3,082 Millionen registrierten Arbeitslosen ist dennoch der niedrigste Stand der Arbeitslosigkeit in den letzten 20 Jahren erreicht – spiegelbildlich ist die Beschäftigung auf den Höchstwert von 41,6 Millionen gestiegen.

Modèle Allemagne heißt übersetzt: Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit durch den Umbau des Arbeitsmarktes, d.h. massive Reduzierung der Lohnkosten durch die Ausweitung der prekären Beschäftigung und des Niedriglohnsektors – Agenda 2010. So kam auch der mittlerweile ins Vergessen geratene Gerhard Schröder für einen kurzen Moment wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, nicht um eine schnöde Öl- oder Gaspipeline in Diensten von Gazprom einzuweihen, sondern um mit dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy im Élysée-Palast zu dinieren, wofür er sich mit »Sozialisten-Bashing« bedankte: »Als Sekretär der sozialistischen Partei hat François Hollande sehr eng mit Oskar Lafontaine zusammengearbeitet. Nicht mit mir.«

In der Tat: Die Hartz-Gesetze haben tiefe Spuren auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt hinterlassen. Deutschland hält mit 7,8 Millionen Niedriglöhnern den Europarekord in der Rubrik »Armut trotz Arbeit«.

Sogar 560.000 Vollzeitbeschäftigte verdienen weniger als das Existenzminimum, sodass sie ihren Lohn mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken müssen. Zu diesen »Aufstockern« zählt jeder zehnte Leiharbeitnehmer. Dies und 7 Millionen abgabenfreie Minijobs belasten die Sozialkassen jedes Jahr mit rund 4 Mrd. Euro – Unterbietungskonkurrenz mit Lohnsubvention in großem Maßstab. So funktioniert das neue »Modell Deutschland«.

In diesem Arbeitsmarktregime ist eine Zwei-Klassen-Gesellschaft unter den Arbeitslosen entstanden. Auf der einen Seite Kurzzeitarbeitslose mit Aussicht auf neue Beschäftigung, allerdings zu wiederholt verschlechterten Bedingungen: immer weniger der Qualifikation entsprechend, immer höhere Einkommensverluste in Kauf nehmend. Was ja im Sinne erhöhter »Flexibilität« durch »erhöhte Konzessionsbereitschaft« von den Protagonisten des Modells gewollt ist.

Auf der anderen Seite jene langzeitarbeitslosen Hartz-IV-EmpfängerInnen, deren Zahl nach einer jüngst revidierten Erhebung der Bundesagentur für Arbeit bei 1.056 Millionen liegt. Sie wäre noch sehr viel höher, wenn man nicht diverse Statistikbereinigungen vorgenommen und beispielsweise 105.000 Arbeitslose zwischen 55 und 64 Jahren längst aus der Zählung herausgenommen hätte. Und oberhalb dieser Zwei-Klassen-Gesellschaft ist eine neue Drei-Klassen-Gesellschaft entstanden: Stammbeschäftigte, Leiharbeitnehmer, Werkvertragsleute.

Jahrelang stand die Ausweitung der Leiharbeit auf der Agenda des betrieblichen Personalmanagements. Die Vorzüge für die Arbeitgeber lagen auf der Hand: Das Unternehmerrisiko trägt die Verleihfirma, Einsätze können kurzfristig und relativ geräuschlos beendet werden. So war in der Krise 2009 die »flexible Reserve« schnell zu entlassen, aber auch schnell wieder hochzufahren. Im September 2011 wurden 910.000 Leiharbeitnehmer in deutschen Unternehmen gezählt, mittlerweile könnten es eine Million sein. Deshalb fordert die IG Metall nach der Einführung des Mindestlohns für Leiharbeitskräfte in der Tarifrunde 2012 der M+E-Industrie eine Ausweitung der Mitbestimmung der Betriebsräte beim Einsatz der Leiharbeitskräfte – beispielsweise bei der Festlegung der Anzahl im Verhältnis zu den Stammbeschäftigten bzw. dem Zeitpunkt für deren Festanstellung. Parallel dazu soll in Verhandlungen mit den Zeitarbeitsverbänden BAP und IGZ ein Branchenzuschlag für Leiharbeiter ausgehandelt werden, um deren Löhne an das Entgeltniveau der Stammbeschäftigten heranzuführen. Damit soll die Expansion der Leiharbeit gestoppt und perspektivisch darauf zurückgeführt werden, wozu sie einmal geschaffen worden war: zum beschäftigungspolitischen Ausgleich außergewöhnlicher Auftrags- und Produktionsspitzen. Aber nicht zum Ersatz regulärer Beschäftigung.


Werkvertrag: neues »Lohndumping«-Modell

Durch das »Damoklesschwert des Mindestlohns« sowie eine »intensive Regulierung« der Leiharbeit erfahre dieser Sektor eine »sinkende Attraktivität«, beklagte Volker Rieble, Leiter des »Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht« (ZAAR) vor Managern der deutschen Wirtschaft im September 2011 in Düsseldorf. Und er kam mit dem nächsten »Billiglohn-Modell« um die Ecke: »Freie Industriedienstleistungen als Alternative zur regulierten Zeitarbeit – der Werkvertrag«.

Diese Beschäftigungsform wächst dynamisch. Eine Umfrage der IG Metall unter 5.000 Unternehmen im Sommer 2011 ergab, dass in einem Drittel der Betriebe Mitarbeiter auf Werksvertragsbasis beschäftigt waren. So sind bei Bosch in Stuttgart unter den 12.000 Mitarbeitern nur 60 Leiharbeiter, dafür aber 2.000 Beschäftigte von Subunternehmen tätig.[1]

In der Tat ist festzustellen, dass Werkverträge in dem Maße zunehmen, wie Leiharbeit »unattraktiver« wird. »Je erfolgreicher wir gegen Leiharbeit vorgegangen sind, desto häufiger hat der Einkauf Werkverträge abgeschlossen«.[2] Bei Werkverträgen kaufen Unternehmen bestimmte Leistungen von Subunternehmen ein: vom Regaleinräumen im Supermarkt bis zu Instandhaltung und Recycling für Industrie- und Handelsunternehmen. Vor allem Discounter, Supermärkte und SB-Warenhäuser missbrauchen Werkverträge systematisch als Instument zur Kostensenkung, um die Mitbestimmung der Betriebsräte auszuhebeln und Tarifverträge zu umgehen. »Für Werksvertragsarbeitnehmer gibt es kein Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) und kein Equal-Pay-Prinzip, das gleichen Lohn für gleiche Arbeit vorschreibt, solange kein Tarifvertrag davon abweicht«, so der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler.[3]

Doch diese Ausweichstrategie breitet sich auch in den Werkshallen und Entwicklungszentren der M+E-Industrie aus. Dies belegte eine Dokumentation der ARD-Sendung Monitor im Februar 2012 am Beispiel Siemens. Seit 2009 gibt es im Siemens-Konzern eine Vereinbarung mit dem Gesamtbetriebsrat, in der festgelegt ist, dass Leiharbeiter nach 18 Monaten eine Festanstellung und damit den vollen Tariflohn erhalten. Doch seit Anfang 2011 setzt Siemens im Nürnberger Lieferzentrum auf Werkverträge. Ursprünglich lieh sich Siemens bei einer Zeitarbeitsfirma rund 150 Leiharbeiter aus.

Kurz bevor die vereinbarte Festanstellung anstand, kündigte Siemens den Vertrag mit der Leiharbeitsfirma und schloss parallel einen Werkvertrag mit dem Logistikunternehmen Simon Hegele ab. Hegele lieh sich nun vor allem die Leiharbeiter aus, die zuvor Siemens selbst ausgeliehen hatte und schickte sie zurück an ihre vorherige Arbeitsstelle. Statt der Festanstellung haben die Betroffenen weiterhin völlig unsichere Jobs und statt des Tariflohns von gut 14,- Euro die Stunde erhalten sie jetzt bis zu 40% weniger als die Festangestellten.

Insbesondere in der gegenwärtig noch von Absatzrekord zu Absatzrekord eilenden Automobilindustrie breitet sich diese Beschäftigungsform wie eine Krake aus. Zulieferer übernehmen Teil­aufgaben des Produzenten und führen diese »selbständig« aus. Besonders gravierend ist das Beispiel BMW in Leipzig. Hier kommen rund 30% der 5.000 Beschäftigten bereits von Werkvertragsfirmen. Unter anderem bauen »200 Wisag-Beschäftigte in einer Halle Achsen zusammen, keine hundert Meter vom BMW-Montageband entfernt. Antriebswelle und Getriebe hochheben. Zusammenschrauben. Alles im 67-Sekunden Takt. Sie sind im Schnitt 33 Jahre alt. Länger halten ihre Knochen nicht durch«.[4]

Der Clou: Der Wisag Produktionsservice, ursprünglich eine Gebäudereinigungsfirma, arbeitet im Auftrag der ThyssenKrupp Automotive, die mit BMW einen Achsen-Werkvertrag abgeschlossen und zu diesem Zweck die Wisag als Vertragsunternehmen ins Boot geholt hat. Denn für Werkvertrags-Beschäftigte gilt nicht der IG Metall-Tariflohn, den Leiharbeiter bei BMW beanspruchen können.

Auch bei Audi in Ingolstadt sind Werkverträge seit Jahren im IT- und Ingenieursbereich gebräuchlich – wobei sich Externe und Interne geschätzt die Waage halten. Annähernd verlässliche Zahlen gibt es nicht. Werkverträge werden nicht bei den Personalabteilungen registriert, sondern sind als »Sachkosten« beim Einkauf geführt. Da werden »working packages«, also Menschen als Arbeitspaket eingekauft und als Sachausgaben verbucht. Auch bei Audi in Ingolstadt werden aufgrund einer Vereinbarung mit der IG Metall Leiharbeitskräfte wie Stammbeschäftigte entlohnt.

WerkvertragsarbeitnehmerInnen verdienen hingegen 500-800 Euro weniger im Monat bei einer 40- statt der tariflichen 35-Stunden-Woche. Boni/Erfolgsbeteiligung gibt es für sie nicht – 2012 sind das 6.500 Euro. Auch auf die betriebliche Altersvorsorge haben sie keinen Anspruch, ebenso wenig wie auf einen Platz im Werkskindergarten. Und in der Kantine müssen sie ohne Zuschuss den doppelten Preis zahlen. In Ingolstadt gibt es bereits mehr Werkverträge als Leiharbeitsverhältnisse, sodass der 1. Bevollmächtigte der IG Metall Johann Horn zu  Recht bilanziert: »Die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt ist völlig aus den Fugen geraten.«

Siemens, BMW und Audi sind exemplarische Fälle. Aber Werkverträge sind kein spezifisches Flexi-und Dumping-Instrument der Metall- und Elektroindustrie. In Schlachtereien arbeiten nach ersten vorläufigen Schätzungen der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) bis zu 90% der Beschäftigten auf der Grundlage von Werkverträgen – mit Arbeitszeiten, die häufig von 12 bis 16 Stunden andauern. Eine Praxis, die in der Bauindustrie seit langem Gang und Gäbe ist. Dort sind kaum noch Unternehmen zu finden, die ohne Werkverträge arbeiten. »Wie schwer es ist, die eingefahrene Praxis zu bekämpfen, musste jüngst IG BAU-Chef Wiesehügel erfahren. Die Gewerkschaft war am Bau eines Wohnparks in Heidelberg beteiligt.

Eine wichtige Bedingung bei der Ausschreibung an die Baufirmen: keine Werkverträge. Nach monatelanger Suche erklärte sich schließlich ein Unternehmen dazu bereit, die Bedingung zu erfüllen. Als die Bauarbeiten begannen, recherchierte Wiesehügel ein wenig über diese Firma. Seine Erkenntnis: Tatsächlich arbeitete auf der IG BAU-Baustelle niemand unter Werkvertrag. Allerdings hatte die Firma alle festen Mitarbeiter von anderen Baustellen abgezogen und dort komplett durch Werkverträge ersetzt.«[5]

Das neue »Modell Deutschland« in der Praxis – zur Abwicklung empfohlen.

Richard Detje ist Redakteur und Otto König Mitherausgeber von Sozialismus.

[1] Frankfurter Rundschau v. 12.2.2012.
[2] So das Betriebsratsmitglied der Firma Bombardier Mannheim, Johannes Hauber, in Beilage zur Fachzeitschrift »Arbeitsrecht im Betrieb« 3/2011.
[3] W. Däubler: Regulierungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit Werkverträgen, in: Werkverträge gleich Leiharbeit hoch zwei. Dokumentation zum Hearing der Bundestagsfraktion DIE LINKE vom 6. Dezember 2011.
[4] Dirk Erb: Arbeiten am Rand. Werkverträge – die neue Masche. In IG Metall: metallzeitung, Januar 2012, S. 19.
[5] »Moderne Sklaven«, SPIEGEL 5/2012, S. 74.

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