23. Dezember 2010 Jürgen Stamm: Lernen beim »Oben bleiben!«

Neuartiger Bürgerprotest

Der Stuttgarter Protestsommer 2010 hat vielerorts viele Fragen aufgeworfen. Dabei hat der »Schwabenaufstand« auch Irritationen ausgelöst. Zunächst belächelt als bürgerliche Rentnerbewegung, der jahrelange Baumaßnahmen schlicht lästig seien, die sich generell gegen unbequeme Neuerungen stelle und am liebsten alles beim gewohnten und daher bequemen Alten belassen wolle, überraschte die zähe Dauer und ständig wachsende Zahl der Beteiligten die politischen Beobachter.

Inzwischen wächst vielfältig die Einsicht in die Beweggründe und den Charakter dieser überraschend starken, wohl auf lange Dauer deutende Bewegung, deren Ende jedenfalls noch nicht abzusehen ist. Daran hat grundsätzlich auch die so genannte Schlichtung nichts geändert. Der schlichte Spruch des Herrn Geißler hat zwar manche Beteiligte beeinflusst, eine Lösung des Konflikts hat er nicht gebracht. Grund genug, sich die Proteste in der als bieder, fleißig aber brav geltenden Schwabenmetropole näher anzusehen.

Bei der näheren Betrachtung von Formen, Breite und Inhalten des Widerstandes fällt zunächst auf, was er nicht ist:

  • Es stehen nicht lokale Partikularinteressen gegen das Allgemeinwohl,
  • keine romantische, fortschrittsfeindliche Rückbesinnung,
  • keine egoistische Bequemlichkeit aus dem »Bionadebiedermeier« gegen Zukunftsfähigkeit und Moderne.

Die anfänglich auch von linken politischen Beobachtern geäußerte Skepsis, sogar Ablehnung, dass es sich um einen zutiefst bürgerlichen, an egoistischen lokalen Einzelinteressen orientierten Potest handle, stellte sich nicht nur als Vorurteil, sondern krasse Fehleinschätzung heraus. Wer Losungen und Sprechchöre gehört, die vielfältigen, selbst gefertigten, fantasievollen Transparente und Schilder der Demonstranten gesehen hat, wer sich am Bauzaun – der großen Wandzeitung – mit den witzigen, satirischen, ironischen bis wütenden und entlarvenden Karikaturen, literarischen und philosophischen Zitaten und Montagen, mit der Intellektualität der Protestierer konfrontiert sah, begreift den politischen Charakter dieses Widerstandes und seine bewusstseinsmäßige Reife.

Ohne vorherige Aufdeckung der geheimen Machenschaften um das Immobilienprojekt S 21, das weder ein verkehrspolitisches, noch ein Stadtentwicklungsprojekt ist, ohne die Finanzkrise und deren Abwälzung auf die Allgemeinheit, den Sozialabbau, die Verarmung der öffentlichen Haushalte, den Privatisierungswahn in der öffentlichen Daseinsvorsorge bei Energie, Gesundheit und Bildung wäre dieser Grad der Politisierung nicht möglich. Ohne die offene Klientelpolitik, den Gehorsam gegenüber der Atomlobby und der Pharmaindustrie, die kaum verdeckte Verknüpfung von Investoren und Politik auf Landes- und kommunaler Ebene in Stuttgart wäre diese Kapitalismuskritik nicht in so viele Köpfe gekommen. Die aufgrund der Globalisierung alternativlos erscheinende Ökonomisierung aller Lebensbereiche verstellt den Menschen alternative Lebens- und Gesellschaftsentwürfe. Es entwickelt sich die Sehnsucht, aus allumfassenden Zwängen der kapitalistischen Ökonomie auszubrechen. Zumindest sich zu widersetzen. Gerade weil die allgemeine Unterwerfung aller Lebensbereiche unter das Diktat der Verwertungsinteressen in Stuttgart so deutlich wird, erhebt sich Unmut und verdichtet sich Widerwillen zum Widerstand:
»Ihr werdet uns nicht los, wir euch schon!«

Die Frischluftzufuhr in die Stadt, die lebenswerte Stadtentwicklung, womöglich das Mineralwasser, die Lebensqualität der Stadt sollen den Profitinteressen geopfert werden. Dagegen steht:
»Unser Bahnhof, unsere Stadt, unser Park, unser Geld!«

Die Mitglieder dieser Protestbewegung wehren sich nicht gegen eine vernünftige, lebenswerte Moderne, für die sie auch – vorübergehend, wenn auch für eine längere Zeit – Infrastrukturbaumaßnahmen wie z.B. beim Alternativprojekt K 21 in Kauf nehmen würden. Sie stemmen sich gegen den Abriss, die Zerstörung, die Besetzung freigebaggerter Flächen durch profitable Dutzendarchitektur. Daher hat sich im Stuttgarter Sommer im Unterschied zur sonst im angekündigt »heißen Herbst« angesichts der Zumutungen erstaunlich ruhigen Republik der Widerstand geballt.

Wenn es denn kein »bürgerlicher« Protest im herkömmlichen Sinne zur Verteidigung von Privilegien ist (siehe den Hamburger Volksentscheid gegen die Schulreform), so ist es auch kein proletarischer (aber auch kein romantisch-reaktionärer, wie ihn die Zeitschrift »konkret« einzuordnen versucht, die sogar Antisemitismus und den Tanz um die deutsche Eiche zu entdecken glaubte). Wenngleich es schon interessant zu beobachten ist, wie unbeeindruckt von Fahnen der kommunistischen Sekte MLPD und zugehörigen nostalgischen Schalmeien- und Bläserzügen des Proletariats der 1920er Jahre das Bildungsbürgertum auf Stuttgarts Straßen und Plätzen mitzieht gegen Investoren, Banken und Spekulanten, Park- und Stadtzerstörer und das »Lügenpack« in der politischen und medialen Klasse. Die Vielfältigkeit und Breite der Herkunft der Demonstranten aus nahezu allen Bereichen der Gesellschaft ist in der Geschichte der Bundesrepublik wohl in diesem Ausmaß tatsächlich neu. Auch eine aktuelle Losung der ver.di-Jugend wurde aufgenommen:
»Wir sind hier – wir sind laut – weil man uns den Bahnhof klaut!«
(bei der Gewerkschaftsjugend heißt es »… die Zukunft klaut!«)

Über die Breite und Vielschichtigkeit des Widerstandes in Stuttgart hinaus sind die in ihm entwickelten Organisationsformen bemerkenswert und in dieser Intensität und Effektivität qualitativ neu. Es handelt sich um eine weitgehend sich selbst organisierende und tragende Bewegung ohne Steuerung durch Parteien und Verbände. Diese haben allenfalls eine unterstützende Funktion. Die digitale Vernetzung von Information und Transparenz (digitale Life­beobachtung der Schauplätze Bahnhof und Park) führten zu einer bisher ungeahnten Schnelligkeit in den Reaktionen der am Widerstand bewusst und aufmerksam Beteiligten. Bei mehreren Gegebenheiten sah sich die Polizei innerhalb kürzester Zeit – etwa einer knappen halben Stunde – mit einer derart rasch wachsenden Menge protestierender Menschen konfrontiert, dass sie schnell an die Grenzen der polizeilichen Mittel der »einfachen körperlichen Gewalt« stieß. Diese hat sie dann am 30. September 2010 auf Geheiß der Politik überschritten, indem sie »unmittelbaren Zwang« mit Wasserwerfern, Pfefferspray und CS-Gas ausübte und dabei die Gefährdung von Menschenleben in Kauf nahm. Die Ereignisse an diesem »Schwarzen Donnerstag« im Stuttgarter Schlosspark zeigten nicht nur die Brutalität des befohlenen Polizeieinsatzes, sondern auch die Spontaneität, Flexibilität und Schnelligkeit des Widerstandes sowie dessen entwickeltes hohes Maß an Disziplin und Friedfertigkeit auf der Basis solidarischer, gemeinsamer Entschlossenheit:
»Wir sind friedlich, was seid ihr?«

Diese kollektive Haltung fußt auch auf Erfahrungen vieler Beteiligter aus der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung. Gerade diese kollektive Haltung vieler Tausender zeigt der Polizei ihre Grenzen. Wenn die Anzahl der Demonstranten so groß ist, dass selbst der »Einsatz unmittelbaren Zwangs« nicht mehr ausreicht, wie sehen dann in einer demokratisch verfassten Gesellschaft die Eskalationsmöglichkeiten der Staatsgewalt aus?
Baurecht gegen Menschenrecht?
Am Tag danach wurde der Weg zu vorübergehendem Baustopp und so genannter Schlichtung frei.

Die Befürworter des Projekts S 21 werden mobilisiert mit »Stuttgart 21 macht Sinn«. Zunächst mit Joggen vom Park zum Rathaus, später mit Bussen aus der Region und dem ganzen Land zu »Großkundgebungen« mit regierender Politprominenz. Die CDU bringt viel auf: zwischen einigen Hundert, mehreren Tausend, einmal um die acht Tausend »Pro’ler« zur Unterstützung des »Jahrhundertprojekts« auf dem Schlossplatz mit amtierendem und ehemaligen Ministerpräsidenten (derer gleich drei), empfangen mit Sekt und ausgestattet mit »Winkelementen«, weißen Fähnchen mit Herz für S 21, von zuschauenden Gegnern »Jubelperser« bespöttelt. Es ertönten Jubelrufe wie »Erwin, Erwin« (Teufel) und »Weiterbauen – Weiterbauen!« Läppisch bis peinlich die T-Shirts wie »Oben ohne« – oder »Steck ihn unten rein«! Im Schneefall spendete ein interessierter Bauunternehmer den ca. 400 Teilnehmer/innen 2.000 Schaufeln als Symbol zum Weiterbauen. Sie werden zumindest beim aktuellen Schneeräumen geeignete Verwendung finden.

Die bisher 56 regelmäßigen wöchentlichen »Montagsdemos« entwickelten sich zu themenbezogenen »Volkshochschulen« unter freiem Himmel mit immer mehreren tausend Teilnehmern: Bahntechnik, Verkehrspolitik, Politökonomie, Ästhetik der Stadt, literarisches, literaturgeschichtliches zum Baum, zum Park, zur Stadt, Bahnhof für Behinderte, Zeit und Reisen. Viele schulten sich auf diese Weise zu Fachleuten. Argumentativ sind die Kopfbahnhof-Befürworter den S 21-Liebhabern weit überlegen. Nicht nur beim »Faktencheck«, auch im Wohnviertel, auf der Straße, in der Kneipe. Die Stadt wird bewohnbar! Sie entdeckt sich selbst und entwickelt ein neues Bürgerbewusstsein. Nachbarn lernen sich kennen, im Bus, im Lokal, auf den Straßen und Wegen ein freundliches Wiedererkennen:
»Oben bleiben!«

Das »alternativlose« Denken der politischen Klasse wurde in Stuttgart durchbrochen, der Citoyen will nicht mehr von der Politik »mitgenommen« oder »abgeholt« oder besser »kommuniziert« werden, sie wollen nicht mehr dahin geführt werden, wo sie nicht hin wollen. Der Weg für Alternativen in den Köpfen wird frei, ob er frei wird für »revolutionäre Realpolitik« (Rosa Luxemburg), ist nicht entschieden. Aber immerhin!

Jürgen Stamm ist ehemaliger Bevollmächtigter der IG Metall Verwaltungsstelle Stuttgart und Mitglied der Protestbewegung gegen S 21.

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