1. Oktober 2007 Richard Detje und Otto König

Neuaufstellung

Wechsel an der Spitze von Großorganisationen sind ein Politikum. Für die IG Metall als größte und einflussreichste Einzelgewerkschaft gilt dies allemal. Immerhin wird damit über die Beteiligung der abhängig Beschäftigten in einer Gesellschaft entschieden, die immer noch – auch wenn dies vielleicht nicht "modern" klingt – als Arbeitsgesellschaft zu charakterisieren ist.

Ein in der breiten Öffentlichkeit als solches wahrgenommenes Politikum war im Jahr 2003 der Versuch des IG Metall-Vorsitzenden Klaus Zwickel, nicht den 2. Vorsitzenden Jürgen Peters, sondern den damaligen Bezirksleiter von Baden-Württemberg, Berthold Huber, als Nachfolger durchzudrücken. Der Kernpunkt der Kontroverse war nicht der gescheiterte Streik für die 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie, sondern der Nachhall der Zwickel-Strategie, über das "Bündnis für Arbeit" den Rheinischen Kapitalismus und damit den Einfluss der Gewerkschaften wieder herstellen zu wollen. Für die Mehrheit in der IG Metall war hingegen klar geworden, dass die "Bündnis-Strategie" kein Weg zur Stabilisierung, sondern zur Unterordnung der Gewerkschaft war. Wie spätere Untersuchungen aus dem Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, dessen Direktor zunächst einer der Verfechter der Bündnis-Strategie war, zeigten, hatten insbesondere die auf der betrieblichen Ebene vereinbarten Tausch-Bündnisse – Arbeitszeitverlängerung/Lohnabsenkungen gegen Beschäftigungszusagen – zu erheblichen Legitimationseinbußen der betrieblichen Interessenvertretung und der IG Metall als ganzes geführt.

Die IG Metall musste unter dem neuen Vorstand mit der Spitze Peters/Huber aber nicht nur aus diesem Grund neu aufgestellt werden. Hinzu kam, dass sich im neuen Jahrhundert das Verhältnis Gewerkschaft zur Sozialdemokratie grundlegend verändert hat. Die Schrödersche Agenda 2010-Politik hat die Gewerkschaften in ihren Kernfunktionen geschwächt.

In den Betrieben haben sich unter der Bedrohung durch Hartz IV Unsicherheit und soziale Ängste ausgebreitet. Wer arbeitslos wird, dem droht der Zwang der Ausübung unzumutbarer Arbeit oder er stürzt als ALG II-EmpfängerIn in die Bedürftigkeit ab. Die zunehmende Prekarisierung der Arbeit sprengt seitdem den Zusammenhang von Arbeit und Existenzsicherung auf.

Mit der im sozialdemokratischen Finanzministerium beförderten Abwicklung der Deutschland AG hielt das Regime des Shareholder value und damit die Dominanz der Finanzmarktsteuerung Einzug in die Unternehmen. Innovative Arbeitspolitik steht unter dem Druck ständigen Cost Cuttings, während die Vermarktlichung und Entgrenzung voranschreitet.

Im neusozialdemokratischen Wettbewerbsstaat sind Gewerkschaften nicht nur damit konfrontiert, dass die Politik der Verschlankung mittlerweile magersüchtige Ausmaße angenommen hat, sondern dass ihre Durchsetzungskraft und institutionelle Rolle mit jeder so genannten Reform – der Privatisierung des Gesundheitssystems und der Kapitalmarktorientierung der Alterssicherung – ausgehöhlt wird.

Die gewerkschaftspolitische Herausforderung der vergangenen Jahre bestand also nicht allein darin, Verteilungskämpfe unter dem Druck eines real auf über sieben Millionen angewachsenen Arbeitslosenheeres zu führen und Widerstand gegen die Abwicklung des Sozialstaates organisieren zu müssen. Die IG Metall musste sich politisch neu orientieren. Und sie muss sich auf die weiter wachsende Bedeutung des – wiederum finanzmarktgetriebenen, äußerst krisenhaften – europäischen Integrationsprozesses einstellen. Auf allen diesen Feldern hat sie es nicht mit einem historischen Prozess der Rückentwicklung ins 19. Jahrhundert, sondern mit einem Kapitalismus neuen Typus zu tun. Anders formuliert: Zündstoff genug für konfliktreiche Auseinandersetzungen innerhalb der Organisation und jede Menge Chancen, Zukunftspfade auszulassen und sich in Sackgassen zu verrennen. Das ist nicht passiert.

Die IG Metall hat in diesen für die ArbeitnehmerInnen schwierigen Zeiten, die mit dem Gespenst einer drohenden inneren Spaltung begannen, eine durchaus beachtliche Bilanz vorzuweisen: Tarifabschlüsse orientiert am gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum; Mobilisierung gegen die Mauer des Fatalismus und Sachzwangs, die um den Ab- und Umbau des Sozialstaats errichtet wurde; Verteidigung ihres politischen Mandats; Entwicklung ausstrahlungsfähiger Initiativen für Gute Arbeit und konzeptionelle Initiativen für ein Neues Europäisches Sozialmodell.

Gleichzeitig wurde deutlich, dass der häufig konstruierte Gegensatz von verteilungs- und gesellschaftspolitischer Mobilisierung sich als ein wechselseitiger Lernprozess erwiesen hat. Die Mobilisierung gegen die Politik der großen Koalition, die betrieblichen Aktionen gegen die Rente mit 67 und die Arbeitsniederlegungen in den Tarifrunden haben beispielhaft deutlich machen können, dass die Zukunft der Gewerkschaften genau hier, in der Wiederaneignung und Verlebendigung eines in Sachzwängen entfremdeten und erstarrten Alltags liegt. Das "Honorar" für diese konsequente Politik ist eine Zunahme der Neuaufnahmen mit der greifbaren Perspektive einer Stabilisierung der Mitgliederentwicklung der IG Metall erstmals seit 1993.

Damit ist die Krise der Gewerkschaften nicht überwunden. Die inhaltliche Auseinandersetzung über die Politisierung der Betriebspolitik und eine aktuelle Konzeption betriebsnaher Tarifpolitik steht noch am Anfang. Beteiligungsorientierte arbeits- und mitbestimmungspolitische Neuansätze gegen die Krise des Co-Managements sind rar. Einzelgewerkschaften übergreifende Anstrengungen zur Erneuerung solidarischer Lohnpolitik – und damit des Flächentarifvertrags – gehen nach wie vor in der Alltagsroutine sektoraler Tarifpolitik unter.

Auch die Debatten um den weiteren Kurs der IG Metall sind nicht eingeschlafen. Es gibt Kräfte, die eine Überpolitisierung der Organisation in Kampagnen gegen neoliberale Agenden beklagen und eine Konzentration auf das betriebs- und tarifpolitische Kerngeschäft anmahnen. Die auf eine Stärkung des Co-Managements als standortpolitische Wettbewerbsallianzen setzen. Und die im Gesprächsfaden mit der SPD ein Halteseil gegen die Abgründe neoliberaler Politik sehen.

Dennoch: Die Stabilisierung der IG Metall in den vergangenen vier Jahren hat das Politikum des Führungswechsels entschärft. Nach der Nominierung von Berthold Huber für den Vorsitz und des Bezirksleiters von Nordrhein-Westfalen, Detlef Wetzel, für den 2. Vorsitzenden mochten noch nicht einmal die journalistischen Edelfedern des neoliberalen Zeitgeistes von einem "Durchmarsch der Modernisierer" berichten. Selbst die FAZ schreibt ernüchtert: "Wer deshalb auf einen Richtungswechsel hofft, dürfte enttäuscht werden."

Aus drei guten Gründen. Der erste hat eine inhaltliche und organisationspolitische Dimension. Inhaltlich ist die Formel "Modernisierung" bis heute recht aussagelos geblieben, vor allem, wenn es nicht um eine pragmatische Anpassung an die Krise der Gewerkschaft, sondern um die Ansätze ihrer Re-Aktivierung geht. Und organisationspolitisch ist die Rolle des 2. Vorsitzenden der IG Metall oft überschätzt worden. Die Tatsache allerdings, dass der 1. und 2. Vorsitzende aus den tarifpolitisch einflussreichsten und mitgliederstärksten Bezirken der IG Metall – Baden-Württemberg und NRW – stammen, verschafft ihnen zusätzlich zum Votum des Gewerkschaftstages Einfluss und Rückhalt in der Organisation. Ob damit freilich eine Verschiebung der Machtebenen mit einer weiteren Aufwertung der Bezirke verbunden ist, bleibt abzuwarten.

Der zweite Grund: Die IG Metall ist machtpolitisch gesehen eine Organisation mit mehreren Einfluss- und Entscheidungsebenen: Da ist einerseits der 36-köpfige Vorstand – bestehend aus sieben geschäftsführenden und 29 so genannten ehrenamtlichen Vorstandsmitgliedern; die Bezirksleiter mit einer starken tarifpolitischen Position; die weitgehend "autonomen" Bevollmächtigten der Verwaltungsstellen sowie die Betriebsratsvorsitzenden insbesondere der Automobilunternehmen, die zwar kein formelles Entscheidungsgremium sind, jedoch ein erhebliches Machtpotenzial darstellen. Die Kräfteverhältnisse innerhalb der IG Metall sind nicht per se von oben nach unten strukturiert, sondern Resultat komplexer Verhandlungsergebnisse. Auf dieses Meinungsspektrum muss Rücksicht genommen werden.

Der dritte Grund: Folgt der Gewerkschaftstag dem Nominierungsvorschlag des Vorstands, wird die linke Strömung künftig durch Hans-Jürgen Urban, Leiter des Funktionsbereichs Gesellschaftspolitik/Grundsatzfragen/Strategische Planung, der konsequent für eine Politik der Revitalisierung der Gewerkschaft streitet, Helga Schwitzer, ausgewiesene Tarifpolitikerin des Bezirks Hannover/Sachsen-Anhalt und Wolfgang Rhode im Kreis der insgesamt sieben geschäftsführenden Vorstandsmitglieder repräsentiert.

Mit der Wahl der Führungsspitze, dem Hauptkassierer und den geschäftsführenden Vorstandsmitgliedern könnte damit die Willensbildung im Gesamtvorstand gestärkt werden. Der IG Metall hat es in der Vergangenheit jedenfalls ausgesprochen gut getan, neben der Doppelspitze über Vorstandsmitglieder mit ausgewiesenem politischem Standing – von Georg Benz über Hans Preiss bis Horst Schmitthenner – verfügen zu können, die die Organisation auch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit profilieren können.

Der neue IG Metall-Vorstand wird vor einer doppelten Herausforderung stehen. Zum einen muss die Stabilisierung der Organisation weiter vorangetrieben werden. Das könnte möglicherweise schwerer werden, wenn die ausgesprochene Anfälligkeit der internationalen Finanzmärkte mit zwei Krisenphasen seit 2000 – der New-Economy- und der Immobilien-Blase – zusammenfällt mit einer Abschwungphase des realwirtschaftlichen Konjunkturzyklus. In diesem Fall könnten sich sowohl die verteilungs- wie die arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen schnell verschlechtern und infolgedessen die Mitgliederentwicklung wieder nach unten ziehen. Dem kann nur mit einer integrierten gewerkschaftlichen Betriebspolitik vorgebeugt und gegengesteuert werden. Dazu bedarf es eines beteiligungsorientierten betriebs- und unternehmensübergreifenden Ansatzes, der durch eine integrierte Strategie einer nachhaltigen Wirtschafts- und Industriepolitik flankiert wird.

Zum anderen muss das politische Profil der IG Metall geschärft werden. Eine die Solidarität zersetzende Prekarisierung der Arbeitsmärkte ist kein Sachzwang fortschreitender Globalisierung, sondern Folge einer Politik, die eine Zersetzung des sozialstaatlich und arbeitspolitisch geformten Sozialstaats betreibt. Deshalb erwartet die überwältigende Mehrheit der BürgerInnen und ArbeitnehmerInnen Initiativen für eine vernünftig bezahlte Arbeit, sichere Renten und mehr soziale Gerechtigkeit, also eine Aufwertung der Sozialpolitik als gewerkschaftliches Politikfeld. Konkret heißt das: Veränderung der Hartz IV-Gesetze, längere Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I, höheres Rentenniveau und mehr öffentlich geförderte Beschäftigung, Fortsetzung der Altersteilzeit. Soziale Gerechtigkeit ist die Basis, um den ökologischen Umbau und die demografischen Veränderungen zu bewältigen. Der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit und -politik käme im Rahmen eines mitglieder-aktivierenden Ansatzes wie des Arbeitnehmerbegehrens oder der Aufklärung über den Charakter des Neoliberalismus eine flankierende zukunftsweisende Bedeutung zu.

Die Delegierten des 21. ordentlichen Gewerkschaftstages der IG Metall vom 4. bis 10. November 2007 in Leipzig stehen damit nicht nur vor einer wichtigen Personalentscheidung. Ihre Aufgabe ist es darüber hinaus, in den Debatten zu den Geschäftsberichten, dem Grundsatzreferat des neuen 1. Vorsitzenden sowie zu den Anträgen und Entschließungen die Eckpunkte für die künftige Politik der IG Metall zu beraten und zu beschließen.

Eines ist sicher: Sie werden sich in ihren Beratungen nicht dem Ratschlag bürgerlicher Zeitungskommentatoren anschließen, der da lautet, die IG Metall – die mehr Mitglieder hat als alle politischen Parteien in Deutschland zusammen – solle programmatisch in die "politische Mitte" rücken. Dieser Geisteshaltung zu folgen, hieße sich von den Interessen der Mitglieder zu lösen und sich von den Ideen einer emanzipatorischen Reformpolitik zu verabschieden.

Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus, Otto König ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall Verwaltungsstelle Gevelsberg/Hattingen und Mitglied des IG Metall Vorstands.

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