1. Mai 2004 Helmut Peters

Neuer Kurs der KP Chinas

Wenn die Kommunistische Partei Chinas den Menschen zum Maß aller Dinge erklärt, dann ist das zunächst eine Kulisse, hinter der Auseinandersetzungen stattfinden. Desweiteren handelt es sich um den Versuch, die durch das beschleunigte Wachstum eingegangenen Verwerfungen zu korrigieren. China ist eine Übergangsgesellschaft. Ob sich ein neuer Kurs in Gesellschaft und Partei durchsetzen lässt, bleibt, wie der Autor schreibt, abzuwarten.

Es hat weit mehr als einhundert Tage bedurft, bis sich die neue Partei- und Staatsführung in Grundfragen der weiteren Entwicklung der Volksrepublik China öffentlich positioniert hatte. Ich sehe dafür zwei wesentliche Gründe. Es ging zum einen nicht um eine einfache Fortschreibung des Kurses, wie er auf dem 16. Parteitag beschlossen worden war. Sollte der Weg für die Entwicklung einer sozialistischen Gesellschaft weiter offen gehalten werden, war ein völlig neuer Ansatz des gesellschaftspolitischen Kurses notwendig. Ihn zu erarbeiten, brauchten Generalsekretär Hu Jintao, Ministerpräsident Wen Jianbao und andere Führungskräfte sicherlich Zeit. Zum anderen vollzog sich dieser Prozess in Auseinandersetzung mit Kräften in der neuen Führung wie Zeng Qinghong, Jia Qingli, Huang Ju u.a., die entgegen objektiven Erfordernissen Positionen und einen Führungsstil vertreten, wie sie unter dem früheren Generalsekretär Jiang Zemin üblich waren. So setzten die öffentliche Darstellung und aktive Propagierung des neuen Kurses im Grunde erst im Januar dieses Jahres ein.[1]

In dem neuen Kurs werden die auf dem 16. Parteitag beschlossenen Ziele, der allseitige Aufbau einer Xiaokang-Gesellschaft[2] und die "sozialistische Modernisierung" im Rahmen der weiter zu führenden Reform- und Öffnungspolitik, beibehalten. Verändert sind bisher die Kriterien, die Art und Weise und der Weg für die Verwirklichung dieser Ziele. So lautet die zentrale Aussage des neuen Kursansatzes, "am Menschen als Maß aller Dinge[3] festzuhalten, die Auffassung von der allseitigen, abgestimmten und anhaltenden Entwicklung durchzusetzen[4] und die allseitige Entwicklung der Wirtschaft, der Gesellschaft und des Menschen zu fördern".[5] Das gilt als Ausdruck einer neuen, einer "wissenschaftlichen Auffassung über die Entwicklung" auf der Grundlage des dialektischen und historischen Materialismus. Ministerpräsident Wen Jiabao sieht damit die Fragen nach dem Entwicklungsweg, dem Entwicklungsmodell und der Entwicklungsstrategie Chinas in der neuen Etappe dieses Jahrhunderts beantwortet.[6] Logisch folgt daraus, dass die vormalige Auffassung der Partei über die Entwicklung des Landes aus der Sicht der Vertreter des neuen Kurses keine wissenschaftliche war. In der Öffentlichkeit klingt das freilich etwas moderater: Die neue Auffassung über die Entwicklung sei ein Fortschritt, der eine Korrektur der bisherigen Entwicklungsstrategie der Partei erforderlich gemacht hätte.[7] Überhaupt ist die Auseinandersetzung, die in dieser Grundfrage in China geführt wird, gar nicht so leicht als solche zu erkennen; denn alle Seiten nutzen in ihrer Argumentation oftmals die gleichen Formulierungen wie "Geist des 16. Parteitages" und "dreifache Vertretung",[8] interpretieren sie jedoch nach Bedarf unterschiedlich.[9]

Vom ersten Tage an hatte sich die neue Führung betont den Problemen und Interessen der Werktätigen, vor allem der sozial Schwachen, zugewandt, einen sachlich-ökonomischen Arbeitsstil entwickelt und unbestechliche moralische Qualitäten bewiesen. Sie erwarb damit bald Vertrauen und Sympathie des Volkes. Auf dieser Grundlage hat sich eine bislang nicht gekannte breite Unterstützung für den neuen Kurs entwickelt. Das wurde vor allem in Vorbereitung und Durchführung der diesjährigen Tagungen des Nationalen Volkskongresses (NVK) und der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes (PKKCV)[10] deutlich. Ausgehend von kritischen Einschätzungen wurden zahlreiche konstruktive Vorschläge unterbreitet und publiziert. Bemerkenswert aktiv daran beteiligt waren Vertreter der so genannten demokratischen Parteien in der PKKCV. Entwickelt sich in der Volksrepublik ein qualitativ neues Miteinander zwischen Bürger und Staat?

Hintergründe für den neuen Kurs

In China spricht man von einem Prozess des Wandels im Sinne eines Wechsels (zhuanbian), in dem sich die Wirtschaft, die Gesellschaft und die KPCh derzeit befinden würden. Die Ursachen für diesen Wandel werden in der Debatte unterschiedlich gesehen. Die einen stellen veränderte innere und äußere Bedingungen in den Vordergrund. Die anderen verweisen zugleich auf ernste Widersprüche und Krisenerscheinungen, deren Ursachen zu wesentlichen Teilen in der Politik der Vergangenheit zu suchen seien. Vereinfacht ausgedrückt: Die ihre Interessen in der früheren Politik verwirklichen konnten bzw. verwirklicht sahen, vertreten zumeist die erstere Einschätzung. Dazu gehören offenbar ein großer Teil der Führungskader auf den verschiedenen Ebenen, in den Regionen und Einheiten und die Neureichen. Die anderen, und das ist die absolute Mehrheit, vertreten die letztere Einschätzung, oftmals vehement, weil ihre Probleme nicht gelöst und ihre Interessen ignoriert oder gar geschädigt wurden. Das sind vor allem die 800-850 Millionen Bauern als Bürger 2. Klasse und große Teile der Arbeiterklasse, die ihren gesellschaftlichen Status mit der Reform einbüßten und teilweise sogar arbeitslos wurden. Diese Tatsachen widerlegen die Behauptung des damaligen Generalsekretärs Jiang Zemin, dass seinerzeit im Rahmen der "dreifachen Vertretung" die Interessen der überwiegenden Mehrheit des Volkes wahrgenommen wurden.

Die Notwendigkeit, einen neuen Kurs einzuschlagen, ergab sich grundsätzlich aus der Tatsache, dass der Kurs der damaligen Parteiführung unter dem maßgeblichen Einfluss von Jiang Zemin zunehmend in Widerspruch zu der sozialistischen Orientierung des Landes geraten war.[11] Seine Befürworter hatten sich, wie es ein chinesischer Autor formulierte, "von der objektiven Realität des Anfangsstadiums des Sozialismus, von den nationalen Gegebenheiten gelöst".[12] Der Kurswechsel war notwendig geworden, um eine gesellschaftliche Krise abzuwenden, die Lage im Lande zu stabilisieren und die Triebkräfte für den historischen Fortschritt neu mobilisieren zu können. Führungskader wie Wang Mengkui, Leiter des Zentrums für Entwicklungsforschung beim Staatsrat (Ministerrat) der VR China, bringen diese Veränderungen auf den Punkt: "Der 16. Parteitag und die Wahl der neuen Regierung stellen einen Wendepunkt dar."[13]

Die entscheidenden Korrekturen

Der Kurs der heutigen Parteiführung weist aus der gegenwärtigen Sicht zumindest zwei prägende Momente auf:

1. Den ersten und entscheidenden Unterschied zwischen dem früheren und dem heutigen Kurs der KPCh sehe ich im Wechsel von einem einseitigen Streben nach ökonomischem Wachstum, einer Art Ökonomismus, zur Orientierung auf eine allseitige Entwicklung der Gesellschaft mit dem Menschen als Maß aller Dinge.

Die KPCh hatte bereits in den 80er Jahren vom Kapitalismus das Bruttoinlandsprodukt als entscheidenden Maßstab für die Entwicklung des eigenen Landes übernommen. Dieses Kriterium wurde zur Messlatte für die bis Mitte dieses Jahrhunderts angestrebte Verwirklichung der "sozialistischen Modernisierung" in drei strategischen Schritten. Frühzeitig entstanden daraus größere Probleme in der gesellschaftlichen Entwicklung (Arbeitslosigkeit, neue städtische Armut, komplexe Problematik Landwirtschaft-Dorf-Bauer u.a.). In der Amtszeit Jiang Zemins als Generalsekretär des ZK der Partei wurde dann diese Modernisierungsstrategie mit einer detaillierten Strategie des Einholens und Überholens der ökonomisch führenden kapitalistischen Länder verknüpft. Nun wurde das BIP zur Messlatte, an der abgelesen wurde, bis wann China welches dieser Länder hinter sich gelassen hatte bzw. lassen würde.[14] Damit war die Praxis programmiert, alle Mittel auf ein maximales (extensives) Wachstum des BIP zu konzentrieren. Politiker und Ökonomen, die dieser Linie folgen, überschätzten einerseits häufig maßlos künftig mögliche Zuwachsraten und unterbewerteten andererseits sich abzeichnende Gefahren und Krisenerscheinungen (z.B. einsetzende Überhitzung der Wirtschaft, Gefahr einer Inflation). Im Ergebnis dieser Politik blieb auch die soziale Gerechtigkeit auf der Strecke.

Die neue chinesische Führung hingegen stellt die allseitige Entwicklung des Menschen als das eigentliche Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung heraus, dem auch die Wirtschaft zu dienen habe. Den Hauptbezugspunkt ihrer Entwicklungsstrategie sieht sie deshalb in den Interessen und Bedürfnissen des Menschen. Deutlicher kann der sozialistische Ansatz dieser Strategie gegenüber der profitorientierten kapitalistischen Gesellschaft nicht herausgestellt werden. "Am Menschen als Maß aller Dinge festhalten heißt, auf der Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung das materielle und kulturelle Leben und das gesundheitliche Niveau des Menschen ständig zu verbessern, die politischen, ökonomischen und kulturellen Rechte des Volkes zu achten und zu schützen, die ideologisch-moralische und die wissenschaftlich-kulturelle Qualität des Volkes ständig zu heben und ein gesellschaftliches Umfeld zu schaffen, in dem sich die Menschen gleichberechtigt entwickeln und ihre Klugheit voll entfalten können."[15] Auf diesem Wege könne erreicht werden, dass "die breite Masse der Arbeiter, der Bauern, der Intellektuellen und der anderen immer vollständiger in den Genuss der Ergebnisse der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung kommen".[16] Aus diesem Ansatz der Politik ergab sich logisch die Aufnahme der Menschenrechte in die Landesverfassung auf der jüngsten Tagung des NVK.

Mit dem neuen Kurs ist ein verstärktes Zurückgreifen auf Überlegungen von Karl Marx und Friedrich Engels zu beobachten. So wird in Kommentaren zur These vom Menschen als Maß aller Dinge an den Gedanken von Marx erinnert, künftig werde an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft von Klassen und Klassengegensätzen eine Assoziation treten, in der die freie Entwicklung des Einzelnen die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.[17]

2. Eine zweite wesentliche Korrektur sehe ich in dem Übergang zu einer Entwicklungspolitik, für die der zivilisatorische Fortschritt der Menschheit die Gesamtsumme der Entwicklung der materiellen und geistigen Zivilisation und der Verbesserung der natürlichen Umwelt ist.

Die chinesische Führung sieht sich bei der Verwirklichung dieser Politik jedoch erheblichen Problemen gegenüber. Greifen wir die ökonomische Problematik heraus. Mit den beachtlichen ökonomischen Zuwachsraten Chinas nahmen auch die Disparitäten zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu. Das stellte die stabile und anhaltende Entwicklung der Volkswirtschaft zunehmend in Frage. Der Rückstand der Landwirtschaft gegenüber der Industrie wuchs rapide an. Im Widerspruch zu der ständigen Betonung der Bedeutung der Landwirtschaft für die Gesamtentwicklung der Volkswirtschaft waren die staatlichen Investitionen in diesem Zweig über Jahre hinaus geringer als die Gesamtsumme dessen, was der Staat hier abschöpfte.[18] In der noch weitgehend traditionellen Agrarwirtschaft schaffen heute 50% aller Arbeitskräfte des Landes einen Anteil von 15% des BIP. Die Getreideproduktion liegt mit knapp 450 Millionen t wieder auf dem Niveau der frühen 80er Jahre. Einige andere Disparitäten seien angedeutet: Das Wachstumstempo der Einkommen der Bevölkerung liegt bisher erheblich unter dem der Wirtschaft. Was die verhältnismäßige Entwicklung des BIP betrifft, erreicht Ostchina mehr als das Doppelte des Landesdurchschnitts, hingegen liegen Mittelchina mit 12% und Westchina mit 30% unter diesem Durchschnitt. Während der Stromverbrauch im Lande jährlich um etwa zehn Prozent ansteigt, sind die Investitionen in diesem Zweig seit Anfang der 90er Jahre ständig zurückgefahren worden. Der Schaden der Umweltverschmutzung, der bisher nicht in die Selbstkosten der Verursacher eingeht, schwankt zwischen drei bis sieben Prozent des BIP.

Der neue Kurs steht nun im Zeichen einer "fünffachen umfassenden Planung" – von Stadt und Land, aller Regionen, von Wirtschaft und sozialem Bereich, von Mensch und Natur sowie von innerer Entwicklung und Öffnung nach außen.

In den Beziehungen zwischen Wirtschaft und sozialem Bereich will sich die Regierung jetzt darauf konzentrieren, den in seiner Entwicklung zurückgebliebenen sozialen Bereich voranzubringen (u.a. Ausbau der sozialen Sicherungssysteme, Verbesserung der sozialen Lage der Bauern wie überhaupt der sozial Schwachen der Gesellschaft). In der Gestaltung der Beziehungen zwischen Stadt und Land gehe es darum, das Dorf in seiner Entwicklung durch die Abschaffung der dualistischen Wirtschafts- und Sozialstruktur, mit Hilfe der Industrie und der Stadt voranzubringen. Schwerpunkt sind die Entlastung der Bauern und die Erhöhung ihrer Einkünfte. Für bemerkenswert halte ich, dass nun von der entscheidenden Bedeutung des technischen Fortschritts bei der Entwicklung der Landwirtschaft gesprochen und der Genossenschaftsgedanke wieder diskutiert wird. Durch eine abgestimmte Entwicklung der verschiedenen Landesteile soll erreicht werden, dass sich alle Regionen in ihren Vorzügen gegenseitig ergänzen und fördern. Es wird eine Gesellschaft angestrebt, die sparsam mit ihren Ressourcen umgeht und ihre Umwelt schützt.[19] Chinesische Ökonomen schätzen jedoch ein, dass die Lösung dieser und anderer Probleme im günstigsten Fall immer noch 15-20 Jahre erfordern würde.

Chancen für die Umsetzung des neuen Kurses

Die Welle der aktiven und passiven Unterstützung im Lande für die Position der Kräfte um Hu Jintao und Wen Jiabao in den letzten Monaten sollte unseren Blick für die Realitäten nicht verstellen. Der neue Kurs dürfte weiter auf erhebliche Hemmnisse und Widerstände stoßen.

Wir haben es in China heute und noch lange Zeit mit einer Übergangsgesellschaft "chinesischer Prägung" zu tun. Abgesehen davon, dass die Perspektive dieses Übergangs immer noch offen ist, wird das die historischen Möglichkeiten und Begrenztheiten für die Realisierung des neuen Kurses prägen. Umsetzung des Prinzips "Der Mensch als Maß aller Dinge" einerseits, Marktwirtschaft und Ausnutzung des Kapitalismus für die Modernisierung des Landes andererseits werden in eine Balance zu bringen sein.

Für die unmittelbare Gegenwart erfordert der Kurs nicht weniger als eine Neujustierung der Gesellschaft. Ich muss mich hier darauf beschränken, das für mich entscheidende Problem zu benennen. Es ist die tatsächliche Verfasstheit der KPCh mit ihrer stark patriarchalisch strukturierten Nomenklatura und der nahezu unbegrenzten, unkontrollierten Macht der "Ersten" in den Regionen und Einheiten. Einer der ersten Schritte der Kräfte um Hu Jintao in der Parteireform war deshalb die Verabschiedung der Statuten für die innerparteiliche Kontrolle Anfang des Jahres. Auf der Grundlage der Entwicklung der innerparteilichen Demokratie soll die derzeitige Machtfülle der führenden Funktionäre begrenzt und ihre Tätigkeit unter Kontrolle gebracht werden. Wie schwierig das werden wird, zeigt die Missachtung des Beschlusses der 3. Tagung des ZK der KPCh von Oktober 2003 in den Regionen, zur Vorbeugung einer Wirtschaftskrise vor allem die stark überhöhte Investitionsrate zu senken. Statt dem nachzukommen, stieg diese Rate in den Regionen und Einheiten in den ersten beiden Monaten des Jahres nochmals um 64,9% an.[20]

China hat eine neue Chance, mit dem Kurs der Kräfte um Generalsekretär Hu Jintao den Weg des gesellschaftlichen Fortschritts fortzusetzen, der auch für die sozialistische Weltbewegung erkenntnisreich sein kann. Ob sich dieser Weg in seiner letzten Konsequenz gegen die inneren und äußeren Hindernisse durchsetzen und gangbar sein wird, bleibt abzuwarten.

Helmut Peters ist ehemaliger Hochschullehrer, lebt in Berlin.

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