27. Oktober 2010 Redaktion Sozialismus: Stuttgart 21 und der soziale Protest

Nur ein Bahnhof ?

Die Proteste gegen den Bahnhofsneubau »Stuttgart 21« haben mit der Durchsetzung der Schlichtungsverhandlung ein erstes Einlenken der politischen Klasse erzwungen.

Nachdem die Polizei eine Demonstration gegen die Fortführung des Projektes und das Fällen von Bäumen mit Gewalt zusammengeschlagen hatte (es gab viele Verletzte, darunter Kinder und Senioren), kamen einen Tag später so viele BürgerInnen wie noch nie in der Stuttgarter Innenstadt zusammen, um erneut ihren Protest gegen das Leuchtturmprojekt auszudrücken. Sie skandierten »Lügenpack«, »Schämt euch!« und forderten den Rücktritt von Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU).

Obwohl kein Gesetz, kein Urteil und keine parlamentarische Entscheidung die Allianz aus Landes- und Kommunalpolitik sowie die Bahn AG dazu verpflichtete, wurde unter Leitung des CDU-Politikers und Attac-Mitglieds Heiner Geißler eine Schlichtung einberufen, die bis Ende November eine Lösung finden soll. Massiven Widerstand gegen Großprojekte hat es häufiger gegeben – aber noch nie hat sich die Politik veranlasst gesehen, nach Abschluss von Planungs- und Gerichtsverfahren noch einmal um Kompromisse zu verhandeln. Dabei steht nicht Einsicht Pate. Vielmehr zeichnete sich deutlich ab, dass die Landtagswahl in wenigen Monaten weitgehend auf diesen Konflikt fokussiert worden wäre; und in diesem Zusammenhang war unübersehbar, dass es zu einem politischen Erdrutsch kommen könnte: ganz überwiegend wird der Widerstand gegen S 21 aus den Reihen der Mittelklassen und den Repräsentanten der von der Politik umworbenen so genannten schweigenden Mehrheit getragen.

Landes- und Bundesregierung – angestachelt durch den Großteil der Wirtschaft – hatten zunächst eine Durchsetzung des formalrechtlich beschlossenen Projektes mit der Staatsgewalt versucht. Bundeskanzlerin Merkel hatte für die CDU erklärt: »Die Landtagswahl im nächsten Jahr, die wird genau die Befragung der Bürger über die Zukunft Baden-Württembergs, über Stuttgart 21 und viele andere Projekte sein«. Dies wollen weder die politische Opposition noch das Aktionsbündnis, die sich für eine wirkliche Volksbefragung aussprechen. Der massenhafte Protest gegen Stuttgart 21 sei »auch ein Ausdruck des Misstrauens der BürgerInnen gegenüber der Politik«. Deshalb sei eine neue Politikkultur nötig, bei der die Bürger mit Elementen der direkten Demokratie mehr beteiligt werden. Nur mithilfe eines Volksentscheids über das Projekt könne es gelingen, »die Kluft zwischen Regierenden und Regierten« zu verringern.

Nach der Verständigung auf einen Schlichtungsprozess ist die Stimmungslage in der Bevölkerung nicht mehr eindeutig. Einer Umfrage zufolge sind 46% für das Riesenprojekt, 43% lehnen es ab. Immerhin: Stuttgart 21 stößt auch bundesweit auf Protest. Mehr als die Hälfte der Deutschen (53%) ist dafür, dass die Arbeiten am Stuttgarter Hauptbahnhof gestoppt werden.

Worum geht es auf den ersten Blick betrachtet? Es soll ein neuer Verkehrsknotenpunkt entstehen. Die Bahn will den Kopfbahnhof gegen einen unterirdischen Durchgangsbahnhof ersetzen. Hinzu kommt eine Schnellbahnstrecke nach Ulm. Neben den verkehrspolitischen Gesichtspunkten führen die Befürworter an: Es werden ca. 100 Hektar Fläche durch die unterirdische Verlegung des Gleiskörpers frei, also rund ein Drittel der jetzigen Stadtfläche, auf der ein neues Stadtviertel entstehen soll, aber auch Parkanlagen. Das Projekt bringe die Bauwirtschaft in Schwung und schaffe rund 4.000 neue Arbeitsplätze. Die verkehrsgünstige Lage des neuen Europaviertels am Bahnhof[1] erleichtert die Ansiedlung von Dienstleistungen mit Tausenden neuer Arbeitsplätze.

Im Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 haben sich zehn Gruppen und Verbände zusammengeschlossen. Bei allen Unterschieden in der Argumentation gilt als Basis: Bei Stuttgart 21 handelt es sich nicht um ein Projekt des Bedarfsplans für die Bundesschienenwege, sondern letztlich vorrangig um ein städtebauliches Projekt. Denn auch ein oberirdischer Kopfbahnhof kann die verkehrlichen Funktionen für den Eisenbahnknoten Stuttgart erfüllen. Es ist also in erster Linie ein riesiges Infrastrukturprojekt, das die Innenstadt von Stuttgart erheblich verändern wird. Für die Befürworter dieses Projekt stünden daher die wirtschaftlichen Aspekte im Zentrum.


Infrastruktur- und städtisches Immobilienprojekt

Die Risiken der Großinvestition wurden kleingeredet. Die Kosten werden – wie bei fast allen Projekten – aus dem Ruder laufen und die immensen öffentlichen Mittel fehlen dann bei der Bildung sowie im Gesundheits- und Sozialwesen. Zu Beginn der Planungen wurden die Kosten für S 21 auf rund 2,5 Mrd. Euro geschätzt. Die jüngste Kostenschätzung stammt aus dem Dezember 2009. Darin sind für den neuen Hauptbahnhof 4,1 Mrd. veranschlagt, für die neue Bahnstrecke nach Ulm 2,9 Mrd. – macht zusammen 7 Mrd. Euro. Gegner und Gegengutachter gehen von mindestens 11 bis 19 Mrd. Euro aus.

Neben »Klimawirkungen« und Feinstaubbelastung geht es vor allem um die Konsequenzen der vielen unterirdischen Bauten. Vier Tunnel müssen für die neue Streckenführung den Stuttgarter Talkessel queren und der unterirdische Bahnhof selbst kann auch als Tunnel gelten – nahezu hundert Meter breit und in zwölf Metern Tiefe. Die dafür durchgeführten Probebohrungen ergaben, dass ein hohes Risiko besteht, weil der Boden an vielen Stellen ein Mineral enthält, das sich bei längerer Durchfeuchtung um 50% ausdehnt und als »Salzschwellung« bersten lässt, was in seiner Umgebung steht. Da Stuttgarts Untergrund von Mineralwasserquellen durchsetzt ist, bezweifeln Sachverständige, dass das »Wassermanagement« von S 21 das bewältigen wird.

Längst geht es nicht mehr um Verträge und (zum Teil 15 Jahre alte) Entscheidungen. Es geht um die Gestaltung der Kommunen, Städte und Regionen. Der Großteil der politischen Klasse hat in Verbindung mit dem großen Geld den Sinn für die Maßstäbe von Veränderungen verloren. Aber nur ein kleinerer Teil von ihnen hält angesichts der gewalttätigen Konfrontation von zehntausenden von BürgerInnen mit einer schlecht instruierten Staatsgewalt das umstrittene Bahnprojekt für nicht mehr durchsetzbar: »Stuttgart 21 kann nicht gegen friedliche Demonstranten durchgeprügelt werden«.

Auf der anderen Seite steht die Positionsbestimmung der Bundeskanzlerin, des Großteiles der Regierungskoalitionen in Berlin und Stuttgart und des Bauherrn Deutsche Bahn AG, dass das Projekt gegen alle Widerstände durchgedrückt werden muss. Bahn-Vorstandschef Grube bringt diese Entschlossenheit auf den Punkt: »Ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau gibt es nicht!«

»Stuttgart 21« soll ein erfolgreiches Leuchtturmprojekt werden: »Wir gewinnen durch die Tiefverlegung des Bahnhofes 100 Hektar neue Stadt. Das entspricht einem Drittel der Fläche von Stuttgart. Das kann man doch wunderbar gestalten.« Das ist der Punkt. Es geht ganz im Sinne des Casino-Kapitalismus um einen gigantischen Grundstücks-Deal, der – wie schon häufiger in der Republik – unter den Vermögenden und Finanzinvestoren eine Goldgräber-Stimmung freigesetzt hat. Neuerdings besänftigen die Befürworter: Das neue Stadtviertel soll eine Art »neue Weißenhofsiedlung« werden – das berühmte Wohnviertel wurde 1927 unter der künstlerischen Leitung von Ludwig Mies van der Rohe gebaut. Hinter diesem Angebot steht auch die Überlegung nach verstärkter Mitsprache der Bevölkerung. Auch die regionale Wirtschaft würde profitieren.

Neben dem Bahnhof hat ein Konsortium rund um den Shoppingmall-Betreiber ECE Flächen erworben, auf dem ein 47.000 Quadratmeter großes Einkaufszentrum mit 400 Mietwohnungen, Parkplätzen und Hotel entstehen soll. Der Einzelhandelsverband hat sich das Unbehagen bestätigen lassen: In einer Untersuchung wird festgehalten, dass es in Stuttgart im Zeitraum 1993-2007 bereits zu einer Zunahme der Verkaufsfläche um 42% bzw. 250.750 m2 kam, der nominale Umsatz hingegen im gleichen Zeitraum nur um 35% stieg. Mit durchschnittlich 1,47 m² Verkaufsfläche pro Einwohner besitzt die Landeshauptstadt neben Frankfurt die höchste Verkaufsflächendichte und liegt noch vor weitaus größeren Städten wie Hamburg, München und Berlin. Die Annahmen und Erwartungen der Stadt Stuttgart zur Kaufkraftentwicklung bis zum Jahre 2020 werden als unrealistisch bezeichnet. Würden die bereits geplanten zusätzlichen Verkaufsflächen von max. 209.000 m² (inkl. ECE-Center) realisiert, würde ein Flächenüberangebot entstehen – mit der Folge eines Verdrängungswettbewerbs zu Lasten des kleinteiligen Einzelhandels.

Die Stadt Stuttgart hat 2001 das riesige Grundstücksgeschäft auf den Weg gebracht und der Bahn die 100 Hektar für knapp eine halbe Milliarde Euro abgekauft. Dealer in dieser Leuchtturmsache sind also Stadt, Land, Bund, Bundesbahn und viele Banken. Müsste dieses Projekt eingestellt werden, würden Rückerstattungen und Zinsen die Summe von 700 Mio. Euro umfassen – da muss man dann schon mal hart bleiben und Wasserwerfer sowie Reizgas auch gegen Kinder einsetzen.

Der Widerstand gegen S 21 symbolisiert die Ahnung, dass die BürgerInnen ihre Stadt nach Vollendung des Leuchtturmprojekts nicht mehr wiedererkennen würden. Wie bei anderen Leuchtturmprojekten auch wäre die Bilanz in Sachen Arbeitsplätze nach Endabrechnung bescheiden. Richtig ist daher: In Unkenntnis über die eigentlichen Dimensionen, die wahren Kosten und Risiken wurde über dieses Projekt in Parlamenten abgestimmt. Jetzt kommt die wirkliche Faktenlage nach und nach ans Licht. Die vielen Milliarden, die zur Errichtung eines Leuchtturms verbuddelt werden, werden beim Ausbau des Nah‑, Regional-, und Güterverkehrs oder bei vielen Schwachpunkten der öffentlichen Infrastruktur fehlen.

»Stuttgart 21« steht schon jetzt für einen symbolischen Krieg zwischen Bürgern und verselbstständigter Staatsmacht. Erstere treibt das Gefühl der Ohnmacht um, und das zu Wut sich steigernde Unbehagen über die rasanten Veränderungen der (Bau)Umwelt. Jeder stürzende Stein und jeder brechende Ast in Stuttgart steht auch für die Enttäuschungen und Ängste der Allgemeinheit. Diese wiederum ignoriert, unterschätzt oder gar mit Polizeigewalt bekämpft zu haben, markiert ein weiteres Mal das Versagen der Politik.

Schon vor dem Widerstand in Stuttgart zogen viele Planungsleute eine kritische Bilanz der institutionalisierten Bürgerbeteiligung: In der Praxis klafften Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Alltag seien »Pro-Forma-Beteiligungen« der Bürger, deren Ergebnisse in keine Beschlussfassung Eingang fänden, oder Beteiligungen, bei denen die wesentlichen Informationen den Bürgern vorenthalten würden. An Projekten wie »Stuttgart 21« sind Dutzende von Behörden, Gremien, Investoren und Interessengruppen beteiligt.

Viele Auseinandersetzungen über solche Vorhaben verlaufen sich mithin im Gestrüpp von Zuständigkeiten und unklaren Verantwortungen. Für die Zukunft der repräsentativen Demokratie gilt daher, dass die formale Beachtung bürokratischer Prozeduren noch keinen Rechtsfrieden garantiert. Das ist nur durch Beteiligungsverfahren zu erreichen, die als fair und transparent empfunden werden. Erst dann können notwendige Entscheidungen auch gegen momentane Mehrheiten durchgesetzt werden.

Wenn die Gegner von Stuttgart 21 immer rigoroser einen Baustopp fordern, stemmen sie sich gegen den bedenkenlosen Umbau ihrer Lebenswelten. Wer in Stuttgart mit dem Versprechen, alles sei unter Kontrolle, Riesengruben gräbt, Grundwasser umlenkt und gefährliche Mineralien neutralisiert, muss wissen, dass er einer Öffentlichkeit gegenübersteht, die verschiedene Desaster wie Gorleben oder Asse im kollektiven Gedächtnis hat.


Zivilgesellschaft und politisches Feld

Schlichtungsgespräche, in denen alle Beteiligten ihre Karten auf den Tisch legen, sind der Einstieg in eine Weiterentwicklung der Bürgerpartizipation. Sie sind ein Schritt zur »Aufklärung als Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«, und im Fall Stuttgart auch aus fremd verschuldeter Unmündigkeit, wie der Schlichter Heiner Geißler mit Blick auf intransparente Strukturen und ungenügenden Einbezug der BürgerInnen im bisherigen Planfeststellungsverfahren hinzufügt. Mit diesem kategorischen Imperativ Kants qualifiziert er die Schlichtungsgespräche zwischen Befürwortern und Gegnern als »demokratischen Prototyp«. Dieser besteht in einer doppelten Hinsicht:

Mit Rechtsetzung und Gesetzgebung fixieren die BürgerInnen eines Gemeinwesens die ihre Lebensverhältnisse tangierenden Angelegenheiten als allgemeine Willensverhältnisse. Vermittelt über welche (partei)politischen Repräsentationsstrukturen auch immer sind die BürgerInnen selbst die Autoren des Rechts. Zugleich sind sie durch rechtsförmige Institutionalisierung und demokratische Verfahren Adressaten desselben.

In der »Legitimation durch Verfahren«, die die Befürworter von S 21 immer wieder gegen Neuverhandlungen und/oder eine plebiszitäre Öffnung ins Feld führen, sind diese beiden Aspekte des Bürgers als Autor und Adressat rechtlicher Fixierungen zusammengeschlossen. Diese beinhalten dabei immer auch Formen der »Zeitbindung« von Gegenwart und Zukunft.[2] Nachdem das Projekt Stuttgart 21 im April 1994 auf einer Pressekonferenz von Bahnchef, Oberbürgermeister und Ministerpräsident das Licht der politischen Öffentlichkeit erblickt hatte und im Juni desselben Jahres Gemeinderatswahlen – also eine Gelegenheit zur Intervention per Stimmzettel – stattfanden, hatte sich die Stadt Stuttgart schon im November 1995 in einer Rahmenvereinbarung vertraglich und gemeinderechtlich zur Teilnahme an diesem Projekt verpflichtet. Eine lebendige (Diskurs)Öffentlichkeit über dieses Projekt von Seiten der BürgerInnen konnte es in dieser kurzen Zeitspanne nicht geben. Im nachfolgenden Planfeststellungsverfahren konnten dann zwar tausende Eingaben und Einwände eingebracht werden, aber das Projekt insgesamt betreffende Alternativkonzepte und -planungen blieben unberücksichtigt.

Diese Verknüpfungen von Grundlagenvertrag, Zeitbindung und 15-jähriger Planfeststellung werden nun in dem demokratischen Prototyp eines Schlichtungsverfahrens wieder zu öffnen versucht. Auch die Kluft zwischen der Zeitbindung in der bisherigen Legitimation durch Verfahren und den veränderten Willensverhältnissen einer Großzahl von BürgerInnen über die Ausgestaltung des Projekts Stuttgart 21 erodiert. Es zeigt sich hier eine erhöhte Sensibilität gegenüber einer Politik der Sachzwanglogik und angeblicher Alternativlosigkeit, mit der die Bürgerlnnen in vorangegangenen Zeiten einer noch ungebrochenen neoliberalen Politik überzogen wurden. Daher rührt auch das Misstrauen gegenüber den bisherigen Volksparteien CDU und SPD und den ausschließlichen Formen repräsentativer Demokratie.

Das Institut für Demoskopie Allensbach verweist in diesem Zusammenhang zu Recht auf den gesellschaftsgeschichtlichen Kontext dieser Verschiebungen politischer Präferenzen hin zu mehr an plebiszitären Elementen ausgerichteten demokratischen Strukturen: »Es wäre jedoch zu einfach, den geringen Rückhalt für die repräsentative Demokratie nur einer unzureichenden Bürgernähe der Politik anzulasten. Es gab Phasen, in denen die Mehrheit der westdeutschen Bürger den Abgeordneten attestierte, dass sie in erster Linie die Interessen der Bürger vertreten. Dies war in der Mitte der 1960er und teilweise in den 70er Jahren der Fall, als weite Teile der Bevölkerung direkt von dem wachsenden Wohlstand profitierten und gleichzeitig durch den Ausbau des Sozialstaates immer mehr staatliche Sicherheitsgarantien erhielten.«[3]

Aus dieser Zeit des »Wir wollen mehr Demokratie wagen« (Willy Brandt 1969) rühren auch die Erweiterungen gesetzlich geregelter Bürgerbeteiligung bei Infrastruktur- und Stadtplanung. »Die betroffenen Bürger müssen die Gewissheit haben, dass sich die bauliche Gemeindeentwicklung nicht über sie hinweg von Amts wegen vollzieht... Die Planung der städtebaulichen Entwicklung muss sich stärker auf den Willen des Bürgers stützen... Diese ›Demokratisierung des Planungsprozesses‹ ist eine wichtige Voraussetzung, demokratisch-staatsbürgerliches Engagement dort zu ermöglichen, wo der Lebensbereich jedes Einzelnen am unmittelbarsten berührt wird.«[4] Das heißt nun aber nicht, dass seitdem Teilhabe und Partizipation kontinuierlich zugenommen haben. In der Regel ermöglichen diese, »Anregungen und Einwände zu formulieren und so an der Meinungsbildung mitzuwirken. Eine Mitwirkung an der Entscheidungsfindung ist nur in Ausnahmefällen möglich... Lokale Governanceprozesse, die um die aktive Gestaltung der Bezüge zu Bürgerinnen und Bürgern bemüht sind und dabei elementare Anforderungen an einen fairen Umgang miteinander erfüllen, sind und bleiben (noch) rar.«[5]

Das führt uns zum zweiten zentralen Aspekt der Schlichtungsgespräche. Die Nagelprobe auf den »demokratischen Prototyp« wird sein, ob im Faktencheck und Austausch von Argumenten die Befürworter die auf Selbstbefähigung und lebensweltlicher Erfahrung vor Ort basierende Kritik nicht nur als Meinung, sondern auch als entscheidungsrelevant akzeptieren, oder aber im Gestus und Habitus der »hoheitlichen Rolle« und aus der reinen »Governance-Perspektive« zurückzudrängen suchen. Die­se Gefahr zeichnete sich schon in der ersten Schlichtungsrunde ab, wenn der Vertreter des Bahnvorstandes und die Gutachterin des neuen integrierten Streckenplans für Baden-Württemberg mit abstrakt-modernisierungstheoretischen Topoi wie Potenzialanalysen, Sättigungsgrenzen, Wachstumsprognosen, West-Ost-Achsen, Steigerung profitabler Langstrecken- und Auslandsflüge vom Stuttgarter Flughafen die empirisch und lebensweltlich gesättigten Gegenargumente zum Leistungsvergleich von S 21 vs. K 21 von Seiten der Kritiker zurückzudrängen und zu überspielen versuchen. Es sind dies die aus dem neoliberalen Ökonomisierungsdiskurs sattsam bekannten Begriffe, mit denen per se eine höhere Rationalität und Effektivität gegenüber den angeblichen Modernisierungs- und Wachstumsverweigerern beansprucht wird.[6] Mit politischem Kapital in der Sprecherposition wird versucht, im an sich »herrschaftsfreien (Schlichtungs)Diskurs« (Habermas) die Hegemonie zu gewinnen.

Hier kommt nun aus dem zivilgesellschaftlichen Bündnis der Kritiker der zentrale politische Akteur ins Spiel: die Grünen. Einst mit der alten APO entstanden, verstehen sie es, sich zum Sprecher der neuen APO zu machen. »Das macht die Grünen derzeit so stark: Sie verbinden den klassischen Politikbetrieb mit dem Protest dagegen.«[7] Mit diesem Anspruch sind sie schon unter Rot-Grün angetreten, und sind dann doch dem »postdemokratischen« Politikstil des Lobbyismus erlegen.

Dazu kommt das sozialstrukturelle Problem einer verunsicherten Mittelschicht, die nicht nur das bevorzugte Klientel der Grünen ist und einen gewichtigen Faktor im Protest gegen Stuttgart 21 ausmacht, sondern von der auch nicht feststeht, ob sie in ihrer politischen Mentalität eine wirkliche Vertiefung und Erweiterung demokratischer Gestaltungsrechte auch sozial schwächerer Bevölkerungsteile mitträgt.[8]

Im weiteren Verlauf von Stutt­gart 21 muss sich zeigen, ob der Spagat der Grünen zwischen zivilgesellschaftlichem Protest und professionalisiertem Politikfeld die Kräfte für einen sozialökologischen Politikwechsel stärken wird, oder ob die Grünen aus dem noch offenen Ausgang um Stuttgart 21, den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und den Hauptstadtwahlen zum Berliner Senat 2011 als neue Kraft der bürgerlichen Mitte herauskommen.

[1] Die Fläche für dieses größere Bauprojekt existiert heute schon und ist nicht zu verwechseln mit den neu frei werdenden Bebauungsflächen bisheriger Gleisanlagen, sollte es zum Abriss des bestehenden Kopfbahnhofes und Tieferlegung als um 90° gedrehter Durchgangsbahnhof kommen.
[2] Bezeichnenderweise reagierte auf dieses Problem der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 18.10.2010: »Ein nachträglicher Volksentscheid stellt ein ernsthaftes Problem für die Verwirklichung von Infrastrukturprojekten dar... Irgendwann muss hier ein Schlusspunkt gesetzt werden...«
[3] Renate Köcher, Der Ruf nach dem Plebiszit, FAZ 20.10.2010
[4] Aus der Begründung zum Städtebauförderungsgesetz 1971, zit. in: Klaus Selle, Gemeinschaftswerk? Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der Stadtentwicklung, Aachen 2010, S. 14f.
[5] Klaus Selle, Gemeinschaftswerk?, a.a.O., S. 11, 27.
[6] Vgl. dazu Beispiele bei Pierre Bourdieu, Die Königswissenschaft und der Fatalismus der Wahrscheinlichkeit: »Die Zukunft gehört dem ›technischen Fortschritt‹, der ›Öffnung‹, der ›Mobilität‹, der ›Kompetenz‹, dem ›Wettbewerb, der ›Kommunikation‹.« (Interventionen Bd. 2, Hamburg 2003, S. 31); Was heißt sprechen? Wien 2005.
[7] Heribert Prantl, Die neue APO vereint Oma und ihre Enkel, Süddeutsche Zeitung vom 25.10.2010.
[8] Dafür stehen die Akteure der LINKEN und von ver.di Stuttgart vor Ort. Allerdings wäre es gut, »wenn sich die Gewerkschaften beherzter in den Protest einreihen würden. Sie können daraus viel lernen.« (Sybille Stamm, ehemalige ver.di-Landesbezirksleiterin Baden-Württemberg, in: ver.di Publik, Oktober 2010, S. 15)

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