1. April 2009 Redaktion Sozialismus

Ökonomischer Absturz – massiver Anstieg der Erwerbslosen – politische Alternativen

Eigentlich sollte der G20-Gipfel in London den öffentlichkeitswirksamen Nachweis politischer Handlungsfähigkeit demonstrieren. Die Delegation der USA hatte im Handgepäck ein Konzept zur Mobilisierung von einer Billion Dollar, um den Giftmüll ihrer Banken und Versicherungen zu entsorgen. China reiste mit dem größten Konjunkturprogramm der neueren Geschichte an und dem Plan, das Regime von Dollar und Wall Street zu beenden. Und Indien brachte eine robust wachsende Binnenwirtschaft und ein bis dato stabiles Bankensystem als Stabilitätsanker ein. Dass Brasilien da nicht mithalten konnte, war börsentechnisch gesprochen bereits in die Gipfelmeldungen "eingespeist".

Doch aus den beruhigenden Botschaften vom Weltgipfel wird nichts. Zum einen, weil die Gipfelplanung von der Realentwicklung überrollt wird. Erstmals seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre bricht der Welthandel in den Industrieländern im zweistelligen Bereich ein. In Südostasien degenerieren die Tigerstaaten Singapur, Taiwan, Hongkong, Korea und Thailand zu halbbankrotten Nationen. Und in Lateinamerika wird Argentinien demnächst erneut die Zahlungsunfähigkeit erklären müssen, weil es seine Schulden nicht mehr bedienen kann. Angesichts dieses Flächenbrands mutet die Aufstockung der Mittel des Internationalen Währungsfonds für eine Antikrisenpolitik wie das Löschen mit einer Gießkanne an. Was die Zukunft für die Metropolen der kapitalistischen Welt verheißt, deutet die Entwicklung in Großbritannien an; dort konnte der Zusammenbruch des Finanzsystems zwar aufgehalten werden, doch ist das Land jetzt mit der Gefahr einer deflationären Entwicklung – einem gesamtwirtschaftlich sinkenden Preisniveau – konfrontiert. Konsequenz: Nur mit einem Strukturprogramm in der Größenordnung von 6-10% des Bruttoinlandsprodukts könnte in Großbritannien der Weg in eine langjährige wirtschaftliche Depression aufgehalten werden.

Es sind vor allem die politischen und wirtschaftlichen Eliten in Europa, die den Ernst der Lage nicht begreifen. Die Repräsentanten der europäischen Währungsunion, die vor den USA den größten Teil des Welt-BIP erzeugt, haben sich darauf verständigt, jede Forderung nach weiteren Konjunkturprogrammen abzuschmettern – auf Druck der deutschen Bundesregierung. Obgleich die Wirtschaftsentwicklung gerade in diesem Land im freien Fall ist und das BIP mit einer Rate von zuletzt prognostizierten minus fünf Prozent doppelt so stark abstürzt wie in den USA, besitzen die deutsche Bundeskanzlerin und ihr Finanzminister die Chuzpe, der Gipfelwelt zu erklären, dass sie mit keynesianischen Programmen auf dem falschen Dampfer säße. Dabei sind es in Deutschland montierte Autos, die an den Terminals in Bremerhaven demnächst gestapelt werden müssen, weil die Abstellplätze überfüllt sind. Nahezu jedem vierten Beschäftigten des Gesamthafenbetriebsvereins der Stadt ist mitgeteilt worden, dass er bis Ende des Jahres keinen Job mehr hat. Da die Bundesregierung nach zwei schwachbrüstigen und inkonsistenten Programmen konjunkturpolitischen Attentismus verordnet, wird sich das, was sich an der Nordseeküste gegenwärtig abspielt, in den nächsten Wochen und Monaten in anderen Städten und Regionen wiederholen.

Auf den wirtschaftlichen Einbruch reagierte der Arbeitsmarkt mit einer Verzögerung von einem knappen halben Jahr. Das ist kurz. Aufgrund der Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse sind so genannte eingebaute Stabilisatoren geschleift. Leiharbeiter und befristet Beschäftigte mussten das als erste erfahren.

Mit der Anpassung der Wirtschafts­prognosen an die Realität einer Jahrhundertkrise verschlechtern sich die Perspektiven für den Arbeitsmarkt weiter. Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hält eine Schrumpfung des realen BIP um 3,5% für realistisch.[1] Es bewahrt sich damit einen gewissen Optimismus im Vergleich zu den Kollegen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, die einen Rückgang der Wertschöpfung um 4,3 bis 5% prognostizieren. Nach den Berechnungen des IAB sinkt die Beschäftigung bei der minus 3,5%-Prognose im Jahresdurchschnitt um 550.000 auf 39,78 Mio.

Der Jahresdurchschnitt verschleiert jedoch mehr als er erhellt. Die Dynamik des Arbeitsplatzabbaus wird damit nicht eingefangen. Um die beschäftigungspolitischen Folgen der neuen Weltwirtschaftskrise einschätzen zu können, muss man die monatliche Entwicklung betrachten. Danach wird die Beschäftigung bis Ende Dezember auf unter 39,3 Mio. sinken. Das heißt, innerhalb von 14 Monaten (Höhepunkt der Beschäftigung im Oktober 2008: 40,4 Mio.) werden über eine Million Arbeitsplätze vernichtet werden).

Gleichzeitig rechnen die Arbeitsmarktforscher im Jahresmittel mit über einer halben Million Kurzarbeitern (+510.000). Wie wir an anderer Stelle dargelegt haben,[2] kommt es in den kommenden Monaten nicht zu einem kontinuierlichen Aufbau der Kurzarbeit. Zur Jahresmitte wird in den Unternehmen bilanziert, welche Belegschaftsteile an Bord bleiben. Wenn bis dahin bei den Auftragseingängen kein Licht am Horizont sichtbar ist, werden die Unternehmen den Beschäftigungsabbau beschleunigen, um ihre Produktivität zu sichern. Das IAB hat versucht, dies einzuschätzen und kommt bei einer geringeren Inanspruchnahme der Kurzarbeit auf einen zusätzlichen Arbeitsplatzabbau im Jahresdurchschnitt um 200.000. Im Ergebnis hieße das, dass zum Jahresende 2009 mit über 4,5 Millionen Arbeitslosen zu rechnen ist.

Dabei ist zweierlei berücksichtigt. Erstens, dass das Arbeitskräfteangebot gegenwärtig pro Jahr um 150.000 Personen – demografisch bedingt – sinkt. Zweitens, dass ein Teil der Arbeitslosen ohne Ansprüche auf ALG I und II in der "stillen Reserve" verschwindet und nicht mehr registriert wird. Hinzu kommt drittens, dass sich in diesem Jahr "erstmals zeigen (wird), wie viele Arbeitslose des Rechtskreises SGB II aus der Erfassung genommen werden, weil ihnen binnen eines Jahres keine sozialversicherungspflichtige Stelle angeboten werden kann."[3] Mit dieser Regelung ist eine neue Möglichkeit der "Bereinigung" – besser: der Manipulation – der Arbeitslosenstatistik gegeben. Die offiziellen Erwerbslosenzahlen der Bundes­agentur für Arbeit bilden die tatsächliche Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt immer unzureichender ab.

Aber selbst die Zahl von über 4,5 Millionen Arbeitslosen Ende 2009 ist nur die halbe Wahrheit. Die aktualisierten Konjunkturprognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute unterstellen, dass die wirtschaftliche Entwicklung in den Wintermonaten in eine Stagnation übergeht. Nur unter dieser Voraussetzung bleibt es bei einem Einbruch des BIP von -3,5 bis -4,5% im Jahresdurchschnitt 2009. Aus heutiger Sicht spricht jedoch wenig für diese und mehr für die pessimistische Annahme, dass der untere Wendepunkt des Konjunkturzyklus erst erreicht ist, wenn der Fall der Immobilienpreise in den USA gestoppt, die Liquiditätskrise auf den globalen Finanzmärkten überwunden und eine Umorientierung auf Binnenmarktwachstum eingeleitet ist. Aber selbst für den Fall, dass die Wirtschaftskrise im kommenden Jahr in eine Stagnation übergeht, steigt die Arbeitslosigkeit 2010 weiter an – nach der Prognose des Kieler Instituts für Weltwirtschaft um 610.000.[4] Das würde bedeuten, dass die Zahl der registrierten Arbeitslosen erneut auf bis zu 5 Millionen ansteigt – auf den Wert, der im Zuge der Hartz-Gesetze und der Agenda 2010 bereits einmal erreicht worden war. Die beschäftigungspolitischen Effekte des konjunkturellen Aufschwungs der Jahre 2005-2008 wären damit wieder zunichte und ein neuer Höchststand der Arbeitslosigkeit in Deutschland erreicht.

In diesem Szenario wird der Arbeitsmarkt zur entscheidenden politischen Arena. Insbesondere die Gewerkschaften werden daran gemessen, mit welchem Nachdruck sie auf eine Politik der Sicherung der Beschäftigung – einen Schutzschirm für Arbeitsplätze – drängen.[5] Das Zeitfenster für einen solchen Politikwechsel ist nicht dauerhaft offen. Spätestens nach den Bundestagswahlen im September 2009 dürfte es aller Voraussicht nach – sei es unter einer schwarz-gelben Mehrheit oder unter einer neuen großen Koalition – wieder geschlossen werden.

Schutzschirm für Arbeitsplätze heißt: eine durch aktive Industrie- und Strukturpolitik untersetzte Konjunktursteuerung; öffentliche Einflussnahme auf Unternehmenspolitik durch direkte Kapitalbeteiligung, Branchenfonds und eine an gesellschaftlichen Bedarfen orientierte Zins- und Kreditpolitik; aktive Arbeitsmarktpolitik durch umfassende betriebliche und überbetriebliche Weiterbildung und öffentliche Beschäftigung, die Entlassungen in Arbeitslosigkeit zumindest temporär verhindert; vorübergehende Arbeitszeitverkürzung bei Zahlung des Lohnausgleichs aus Steuermitteln und Mitteln der Bundesagentur für Arbeit; Wiedereinführung der geförderten Altersteilzeit und Abschaffung der Rente mit 67. Es ist höchste Zeit, eine derartige Aktualisierung eines wirtschaftsdemokratischen Programms voranzutreiben und ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen der nächsten Monate zu rücken.

Die Aufgabenbeschreibung ist eindeutig: Gewerkschaften, Sozialverbände, globalisierungskritische Organisationen müssen sich zu einem breiten gesellschaftlichen Bündnis zusammenfinden, um einen Politikwechsel auf den Weg zu bringen. Dafür tut Aufklärung not: Große Teile der Bevölkerung sind sich über den Ernst der wirtschaftlich-sozialen Lage noch nicht bewusst, wie die widersprüchliche Verfassung des Alltagsbewusstseins und die große Unsicherheit über den einzuschlagenden politischen Ausweg zeigen.

Kernproblem: In der gegenwärtig unübersichtlichen Krisensituation gruppiert sich das bürgerliche Lager um und vor allem die Partei des ungeschminkten Neo­liberalismus gewinnt an Zustimmung – jener Neoliberalismus, dessen komplettes Scheitern wir gegenwärtig ausbaden müssen. Die Zustimmung zur FDP ist auch deswegen erstaunlich, weil die Krise in weiten Teilen der Öffentlichkeit als ein Versagen der Wirtschaft wahrgenommen wird, für die sich diese Partei besonders einsetzt. Ob die FDP bei der Bundestagswahl im September tatsächlich so stark abschneidet, wie es zurzeit den Anschein hat, hängt auch davon ab, ob es gelingt, die Position der Linken in der Systemkrise des Finanzmarktkapitalismus deutlich zu machen.

Der US-Nobelpreisträger Krugman trifft den Nagel auf den Kopf: "Von einer Depression ist die Weltwirtschaft derzeit gewiss noch ein gutes Stück entfernt …Doch Depressionssymptome – Probleme jenes Typs, wie sie in den dreißiger Jahren einen Großteil der Weltwirtschaft prägten, seitdem aber nie mehr auftauchten – sind in beängstigender Weise wieder Aktualität." Was wir erleben, ist kein normaler zyklischer Rückgang, sondern ein rasanter Einbruch der globalen Investitionstätigkeit. Über Tiefe und Verlauf der Wirtschaftskrise entscheiden die Antikrisenprogramme, die bislang allerdings hinter den Anforderungen zurückbleiben.

Was sind die wichtigsten Aufgaben?

1. Wir sind mit einem insolventen Finanzsystem konfrontiert, das saniert werden muss. Bislang herrscht die Vorstellung vor, man könne durch öffentliche Gelder oder Garantien die wertlos gewordenen Eigentumstitel wieder mit ihren alten Marktpreisen ausstatten. Schon Marx verspottete diese Illusion: Das auf den Einsatz des Kredits gestützte System einer umfassenden Ausdehnung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses könne natürlich nicht dadurch saniert werden, dass etwa eine Bank, z.B. die Bank von England, mit ihrem Zentralbankgeld allen Verlierern ihr wertlos gewordenes Kapital ersetzt.

2. Wir brauchen eine gesellschaftliche Steuerung der Investitionen. Öffentliche Gelder und staatliche Investitionen müssen zur Umstrukturierung in Richtung auf eine Stärkung der Binnenwirtschaft mit einem entsprechenden sozialökologischen Umbau des Produktionsapparates eingesetzt werden. Bislang bleiben die kapitalistischen Metropolen weit hinter den Anforderungen zurück. Einzige Ausnahme ist die VR China mit ihrem Strukturprogramm.

3. Weil die Finanz- und Wirtschaftskrise die Länder an der Peripherie erfasst hat, gehört zur Abdämpfung auch ein globaler Rettungsplan – was speziell für Staaten in Osteuropa, Südostasien, Afrika und Teile Lateinamerikas unverzichtbar ist.

4. Auch die Entwicklung einer neuen internationalen Finanzarchitektur ist wichtig, selbst wenn das Ende des Krisenprozesses noch nicht absehbar ist. Mittlerweile unterstreicht selbst der Vorsitzende der US-Notenbank, Bernanke, dass man eine Strategie benötige, die das gesamte Finanzsystem umfasse und nicht nur einzelne Bestandteile.

Die bisherige Krisenverarbeitung läuft darauf hinaus, dass die Rechnung – wie schon so oft in der Geschichte – von der Masse der kleinen Leute bezahlt werden soll. Diese Politik der Sozialisierung der Verluste schreit nach einem Politikwechsel.

[1] H-U. Bach/H. Gartner/M. Hummel/S. Klinger/T. Rothe/E. Spitznagel/G. Zika: Prognose 2009 – Arbeitsmarkt im Sog der Rezession, IAB-Kurzbericht 6/2009.
[2] R. Detje/Dieter Knauß/Otto König: Zehn Minuten vor Zwölf. Opel: die Instrumente der Industrie- und Strukturpolitik reaktivieren, in: Sozialismus 3-2009, S. 46-48. Das sieht auch das IAB so: "Sollten die Unternehmen keine Erholung in der näheren Zukunft absehen, werden sie das Instrument der Kurzarbeit nicht stärker nutzen ..." Kurzbericht 6/2009, S. 9.
[3] IAB-Kurzbericht, a.a.O., S. 7. Zu Recht kritisiert das IAB: "Inhaltlich ist diese Regel kritikwürdig, weil sie dem Ziel einer verbesserten Arbeitsmarktintegration Älterer entgegensteht."
[4] Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel: Deutsche Konjunktur im Frühjahr 2009, Kiel, März 2009.
[5] Aus der IG Metall liegen erste Vorschläge vor: "Aktiv aus der Krise – Gemeinsam für ein gutes Leben", Frankfurt a.M., März 2009

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