25. April 2011 Ingar Solty: Libyen und der neue Imperialismus

Öl, Kontrolle und Ideologie

Kategorie: Nahost

Was für den Kapitalismus gilt, gilt auch für den Imperialismus. Er ist zu enormen Wandlungen fähig und bleibt sich gleich, indem er sich wandelt. Vorbei sind die Zeiten, in denen er formell war, sich mit »Kanonenbootdiplomatie« Zugang zu Rohstoff- und Absatzmärkten verschaffte, kolonialisierte, die kolonialisierten Gebiete mit hohen Außenzöllen vor Konkurrenten abschottete, sich fast ausnahmslos auf bloße Plünderungen der Ressourcen konzentrierte und so eine innere kapitalistische Akkumulationsdynamik verhinderte.

Vorbei sind die Zeiten, in denen sich innerlich militarisierte, rivalisierende Imperialismen mit Massenheeren gegenüberstanden und potente Neuankömmlinge in der Weltwirtschaft mit etablierten Weltmächten in Kriegen mit einer Tendenz zum Totalen um Kolonien und Einflussgebiete konkurrierten. Vorbei sind ferner die Zeiten, in denen hurrapatriotischer Krieg und Imperialismus nicht selten bewusst als Lösung nicht nur für die fortbestehenden, inneren kapitalistischen Widersprüche, sondern auch für die soziale Frage gesehen wurden – wohl auch, weil die Erfahrung lehrte, dass auf (verlorene) Kriege häufig Arbeitskämpfe und politische sowie soziale Revolutionen folgten.

Der klassische Imperialismus rückte nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs im Rahmen der Systemkonkurrenz und der US-Hegemonie in den Hintergrund. Konflikte zwischen den einzelnen entwickelten kapitalistischen Staaten und Blöcken blieben zwar bestehen, doch im Rahmen der US-Hegemonie entwickelten sich weltpolitische Institutionen, die Kooperation und Multilateralismus ermöglichen sollten.

Materiell unterfüttert wurden die­se Institutionen durch eine neue Form der kapitalistischen Sprengung der engen Grenzen des Nationalstaats: Ausländische Direkt- traten zunehmend an die Stelle von kurzfristigen Portfolioinvestitionen. Transnationale Wertschöpfungsketten entstanden, die die Klassenstrukturen in den Zielländern veränderten und stabilisierend wirkten.

An die Stelle der zwischenimperialistischen Konkurrenz rückte zunehmend ein asymmetrischer Ultraimperialismus unter der Führung der USA. Dieser machte es sich zur Aufgabe, die seit der neoliberalen Wende in den späten 1970er Jahren und dem Zusammenbruch des sozialistischen Staatenblocks 1989/91 beschleunigte Globalisierung des Kapitalismus und seine wachsenden Widersprüche zu managen.

Gleich bleibt sich der Imperialismus allerdings in einem: Insofern kapitalistische Akkumulation grenzüberschreitend und tendenziell globalisierend ist, der Kapitalismus jedoch in Form eines Systems von nationalstaatlichen Rechtsräumen organisiert bleibt, ergeben sich Probleme der Steuerung dieser Globalisierung kapitalistischer Verhältnisse. Mehr noch: Da nicht nur der »Sozialismus in einem Land«, sondern auch der »Kapitalismus in einem Land« nicht vorstellbar ist, ist der Kapitalismus und seine Widerspruchsbearbeitung durch den Staat und Staatenbündnisse stets krisenhaft.

Die Frage indes ist nun, wie der Krieg gegen Libyen in dieses Bild des neuen Imperialismus passt. Über »den stummen Zwang der kapitalistischen Verhältnisse«, mit dem Marx die Besonderheit der doppelt freien Lohnarbeit und den Marktzwang beschrieb, hat Brecht in seinem »Me-ti. Buch der Wendungen« einmal seine »Schwierigkeiten, Gewalt zu erkennen« verfasst. Begreift man den Imperialismus als »offene oder latente Gewaltpolitik zur externen Stabilisierung eines internen Regimes«,[1] dann fällt es allerdings nicht schwer, die Gewalt zu erkennen. Sie fällt in Form von Bomben auf Krankenhäuser und Märkte in Tripolis und sie ist darin erkennbar, dass sich die NATO in einen Bürgerkrieg eines souveränen Staates eingeschaltet hat, bei dem sie die Rolle der Luftwaffe einer der beiden Parteien, der Aufständischen, übernommen hat und zunehmend auch Formen des Bodenkriegs eruiert.

Neben anderen legten Norman Paech und Reinhard Merkel (FAZ, 22.3.2011) dar, warum der Luftkrieg gegen Libyen einen Bruch des Völkerrechts darstellt. Dabei wurde in der Kriegsvorbereitung zwar keine neue Legende vom »Hufeisenplan«, dem angeblichen Vorhaben Milosevics, die Kosovo-Albaner systematisch zu vertreiben, gestrickt.

Trotzdem zeigt die minutiöse Rekon­struktion der Ereignisse durch Lühr Henken, dass es bis zum Aufbau der Drohkulisse durch den Westen keine Belege für Luftangriffe seitens Gaddafi auf nichtmilitärische Ziele der Aufständischen gegeben hat, sondern es erst nach dem Aufmarsch des Westens in und an den Grenzen Libyens zu Luftschlägen gegen von den Aufständischen eingenommenen Militäranlagen kam, die nicht abseits, sondern in städtischen Gebieten wie Adschdabiya und Bengasi lagen.[2]

Gleichwohl: Schwerer fällt es, die Frage zu beantworten, welches interne Regime hier durch diese offene und latente Gewaltpolitik extern abgesichert wird.

Dafür gibt es verschiedene Hypothesen. Eine lautet, dass es um die Gefügigmachung oder Auswechslung eines feindlichen Regimes und die Neustrukturierung der inneren Verhältnisse gemäß den eigenen Interessen geht. Dies mag man vermuten, weil im Gegensatz zu den benachbarten verbündeten Diktaturen von Ben Ali bis Hosni Mubarak das Gaddafi-Regime dem Imperialismus lange ein Dorn im Auge war.


Libyens Entwicklung unter Gaddafi

Nach seinem unblutigen Putsch 1969 hatte der vom Nasserismus beeinflusste junge Oberst Gaddafi die Briten und die Amerikaner mitsamt ihrer Militärbasen aus dem Land geworfen. Er hatte die Ölquellen des heute achtgrößten Ölproduzenten der Welt den ausländischen Konzernen entrissen und verstaatlicht. Durch die Verteilung des Ölreichtums in Form von kostenloser Gesundheit, Bildung und einer Alters-, Witwen- und Waisenrente hatte er sich »erdreistet«, Ölprofite an die eigene Bevölkerung zu verteilen, um sich damit auch Zuspruch zu seiner von einem Überwachungssystem flankierten Revolution zu sichern.

Vor allem aber hatte er das Land als Absatzmarkt vom Kapitalismus abgekoppelt. Er hatte die Kontrolle über das Bankensystem übernommen, Unternehmen und den Außenhandel und schließlich auch den Einzelhandel verstaatlicht. Mit Export-/Importquoten und Einfuhrverboten wurde gemäßigt Importsubstitution betrieben; insbesondere indes sollten die Exportüberschüsse des Ölstaats zu Infrastrukturprojekten genutzt werden, die das Land durch Wirtschaftsdiversifizierung von der politischen in die ökonomische Unabhängigkeit führen sollten. Hierzu gehörten im Rahmen der zwei Fünfjahrespläne (1976-1980 und 1981-1985) ambitionierte Projekte wie der Great-Man-Made-River, ein Versuch, die noch aus der Eiszeit stammenden, unterirdischen Süßwasservorkommen in der Sahara anzuzapfen, um so das agrarimportierende Wüstenland in ein agrarexportierendes (!) zu verwandeln.

Mit all diesen Maßnahmen verwandelte Gaddafi ein Land, das zum Zeitpunkt seiner Unabhängigkeit 1951 zu den ärmsten Ländern der Welt zählte, in das reichste Land Afrikas, das bis heute in den Indizes des United Nations Human Development-Report (Kindersterblichkeit, durchschnittliche Lebenserwartung, Alphabetisierung, Bildungsstand etc.) zu den fortschrittlichsten zählt. Dabei versuchte er sich auch – mit äußerst gemischten Ergebnissen – an einer islamischen Variante der chinesischen Kulturrevolution und dem Aufbau von direkt-demokratischen Institutionen, die an die Stelle der alten Monarchie traten und die Fehler des sowjetischen Staatssozialismus vermeiden helfen sollten.

Keine Frage, ein solches Land schreit geradezu nach Regime Change. Und in der Tat: Für Ronald Reagan, der seine aggressive Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion auch auf Libyen ausdehnte, war Gaddafi schlicht ein »mad dog«. Im Februar/März 1986 leitete er im Rahmen der Operation Attain Document einen kurzen Luftkrieg in die Wege, wofür sich Gaddafi am 5. April 1986 – mit dem wenig zimperlichen Terror der Ohnmächtigen – mit einem Anschlag auf die von US-Soldaten besuchte Berliner Diskothek La Belle rächte. Dies diente Reagan als Vorwand, in der Nacht vom 14. auf den 15. April 1986 die Städte Bengasi und Tripolis bombardieren zu lassen. Der Lockerbie-Anschlag auf ein US-Verkehrsflugzeug 1988 soll wiederum eine Vergeltungsaktion Gaddafis gewesen sein.

Sind die derzeitigen Luftangriffe der USA im Auftrag der NATO so gesehen nicht bloß eine Fortsetzung dieser Politik? Die Antwort ist schlicht und lautet: Nein. Denn die vorangegangene Beschreibung Libyens beschreibt ein Land, das es in dieser Form heute nicht mehr gibt. Vier Entwicklungen waren hierfür ausschlaggebend:

  • der Verfall des Ölpreises infolge des Volcker-Schocks und der neoliberalen Wende 1979ff.,
  • der Zusammenbruch des wichtigen Handelspartners Sowjetunion 1991,
  • die damit einhergehende ideologische Krise des Sozialismus und
  • die drastischen Wirtschaftssanktionen 1992-2003. Diese verschärften den allgemeinen Fluch der Ressourcen, der ressourcenreiche Länder – insbesondere verschuldete ressourcenreiche Länder, zu denen Libyen allerdings (wie gleich gezeigt werden wird) nicht gehörte – zu massiver Extraktionspolitik zwingt und damit die einseitige Wirtschafts- und Exportorientierung zementiert, die für den globalen Kapitalismus, so wie er IWF und Weltbank vorschwebt, charakteristisch ist.

Im Zeitraum des zweiten Fünfjahresplans 1981-1985 fielen im Rahmen des sinkenden Weltmarktpreises die Öleinnahmen Libyens von 21 auf 6,5 Mrd. US-Dollar. Der daraus resultierende Mangel an Ressourcen zwang den libyschen Staat zu einer schwerwiegenden Entscheidung: Einschränkung der Sozialausgaben und des großen, öffentlichen Sektors oder Aufgabe der ambitionierten Entwicklungs- und Diversifizierungspläne. Die Gaddafi-Regierung entschloss sich insbesondere zu Letzterem, weshalb die verarbeitende Industrie in den Kinderschuhen stecken blieb (heute macht sie 1,4% des BIP aus, 97% der Exporterlöse stammen aus der Öl- und Erdgasindustrie und weniger als 10% des BIP rührt von öffentlichen und privaten Dienstleistungen her).

Langfristig aber bereitete sie im Rahmen einer neoliberalen Wende die Weltmarktintegration vor, die sich mit dem Ende der Wirtschaftssanktionen 2003 beschleunigte: Gaddafi und sein Premierminister und späterer Chef der Nationalen Ölgesellschaft (NOC), Shokri Ghanem, reduzierten mit Beratung der Weltbank die tariffären und nichttariffären Handelshemmnisse und die Subventionen, privatisierten unzählige Staatsbetriebe und formulierten das ambitionierte Ziel, bis 2020 die Hälfte der libyschen Wirtschaft privatisiert zu haben.

Dabei war der neoliberalen Politik eine innere Logik immanent: Die Liberalisierung des Außenhandels bedeutete, dass die privatisierten Betriebe Halbfertigprodukte etc. über den Weltmarkt beziehen konnten. Dies brach das Produktionsmonopol des Staates. Die verbliebenen Staatsbetriebe häuften somit noch höhere Verluste an, was die Bereitschaft zur Privatisierung/Stilllegung dieser »ineffizienten« Wirtschaftseinheiten erhöhte. Die Konsequenzen waren: wachsende soziale Ungleichheit und vor allem eine plötzliche Massenarbeitslosigkeit. So sind nach Statistiken der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der Mittlere Osten und Nordafrika die Region mit der höchsten Durchschnittsarbeitslosigkeit. In dieser Region wiederum ist das reiche, ex-sozialistische Libyen plötzlich das Land mit der höchsten Arbeitslosenquote, die die Tripolis Post 2009 mit 20,74% bezifferte. Bei einer Urbanisierungsquote von 88% und – angesichts der ölsozialdemokratischen Sozialpolitik – einer mehr als Verdopplung der Bevölkerung von 1974 bis 2009 und Verzwanzigfachung der Studierendenzahl in weniger als 30 Jahren birgt diese Entwicklung ein enormes revolutionäres Potenzial, das sich in ähnlichen Formen im ganzen Mittleren Osten angestaut hat: eine relativ gebildete, städtisch konzentrierte, arbeitslose Jugend, die hinter den demokratischen Bewegungen im Mittleren Osten und den politischen Revolutionen in Nordafrika steht.  


Angst vor einem erneuten Ölpreisschock

Die Tatsache also, dass Gaddafi Libyen in den Weltmarkt und den neoliberalen Kapitalismus integriert hat und von einem Feind des Westens zu einem der verlässlichsten Partner in der Region geworden ist, der auch im »Krieg gegen den Terror« sowie in der außereuropäischen Absicherung der Festung Europa vor Armutsflüchtlingen aus der neoliberalen Weltwirtschaft bestens kooperierte, schließt die Möglichkeit aus, dass es sich beim derzeitigen Krieg um einen Krieg zum gewaltsamen Aufbrechen Libyens und seine Einreihung in den globalen Kapitalismus handelt. Zwar war der Gaddafi-Ölstaat durch seine bis heute bemerkenswert niedrige Staatsverschuldung und seine positive Außenhandelsbilanz vor schuldenimperialistischem Zwang durch IWF und Weltbank gefeit. Im Gegensatz zu vielen anderen Staaten der Peripherie waren es keine Strukturanpassungsprogramme, die Libyen in eine exportorientierte, offene Ökonomie zulasten der Masse der Bevölkerung umstrukturierten. Die Weltmarktintegration erfolgte vielmehr (vor dem Hintergrund der neuen, postkommunistischen und neoliberalen Weltordnung) aus eigenem Antrieb.

Das Interesse des westlichen Imperialismus muss also ein anderes sein als das Aufbrechen eines vermeintlichen Ölstaates durch direkte Gewalt. Die Antwort ist im Kontext der globalen Krise zu suchen. Spätestens seit den Kongresswahlen 2010 in den USA steht fest, dass der Green New Deal als das kohärenteste Projekt der Herrschenden zur Bearbeitung der Kapitalismuskrise und ihrer verschiedenen Facetten – Akkumulations-, Ökologie- und (soziale) Reproduktionskrise – gescheitert ist.

Der neue Staatsinterventionismus, der infolge der finanziellen Kernschmelze nötig wurde, hat nicht zu einem Umbau der kapitalistischen Ökonomie in eine postneoliberale und postfossile Produktions- und Lebensweise geführt. Stattdessen diente er dazu, den dahinsiechenden fossil-energetischen, neoliberalen Kapitalismus (und damit die Finanzialisierung) durch Anschluss an den Staatstropf am Leben zu erhalten. Dieser Tropf ist teuer; bezahlt wird er durch diverse austeritätspolitische Maßnahmen: Verheerungen im öffentlichen Sektor (Lohnkürzungen, Arbeitsplatzabbau, Beschneidung gewerkschaftlicher Rechte in den USA), allgemeiner Sozialabbau, Enteignung von Rentenansprüchen etc.

Die hierin eingelagerte Gefahr ist der Rückfall in eine Double-Dip-Rezession, nicht zuletzt, da die staatlichen Konjunkturprogramme zu einem erheblichen Teil für den zarten Wiederaufschwung verantwortlich waren. Überdies bedeutet sie eine lange globale Stagnationsphase, die David McNally den »Global Slump« nennt.

Die Erholung der Profitraten geht einher mit einem »jobless recovery« und niedrigen Wachstumszahlen. Der fragile Aufschwung ist damit enorm erschütterungsanfällig. Mit Sorge betrachten Economist, Financial Times, Handelsblatt und FAZ Systemstörungen wie in Fukushima. Ganz viele Sorgenfalten resultieren aber aus der Angst vor einem neuen Ölschock wie in der Krise der 1970er Jahre, aus der der Neoliberalismus hervorging. Die Tatsache, dass über den Kriegseinsatz in Libyen soviel Uneinigkeit herrschte wie in kaum einem anderen NATO-Krieg zuvor, hängt damit zusammen, dass unklar ist, welche Option den freien Öl­fluss am besten garantiert. So erklärt sich die scheinbar erratische Politik eines der – neben Frankreich und Großbritannien – stärksten Kriegstreiber Italien. Dessen Außenminister warnte Mitte März zunächst vehement vor einer Bewaffnung der Aufständischen, bis dann nach einer Reihe verdeckter Operationen und Geheimverhandlungen mit dem Übergangsrat in Bengasi (und seiner völkerrechtlichen Anerkennung als legitime Vertretung Libyens Anfang April) Italien Mitte April plötzlich wüste Anschuldigungen gegen die NATO vorbrachte und massiv auf die Bewaffnung der Aufständischen drängte.

Der freie Ölfluss aus Libyen (momentan fließt nur aus dem Ostteil des Landes das schwarze Gold) scheint somit das Hauptziel der Koalition der Willigen in ihrem völkerrechtswidrigen Eingriff in einen Bürgerkrieg zu sein. Dabei wird man auch eine Spaltung des Landes in Kauf nehmen. Neben diesem Interesse gibt es indes noch zwei weitere nicht zu unterschätzende Motive. Das erste ist geopolitisch begründet: Nach dem Verlust der verbündeten Diktaturen in der ölreichen Region zukünftiger Ressourcenkriege durch die politischen Revolutionen in Tunesien und Ägypten und den drohenden Verlusten von verbündeten Diktaturen im verarmten Jemen und im ölreichen Bahrain, wo man eine brutale Niederschlagung der demokratischen Oppositionsbewegung durch eine auswärtige Macht Saudi-Arabien duldete bzw. beförderte, ist eines der Hauptziele des westlichen Imperialismus, verlorene Kontrolle in der Region zurückzugewinnen.

Dabei wird pragmatisch vorgegangen: Man hält solange an politischen Regimes wie Gaddafi fest, bis diese unhaltbar geworden sind, und versucht dann die Kontrolle über die Oppositionsbewegung zu gewinnen, damit aus der politischen keine soziale Revolution wird. In Libyen hat die Einmischung des westlichen Imperialismus nicht nur den Konflikt angeheizt und ein Massaker in Bengasi überhaupt erst heraufbeschworen, sondern sie hat auch dazu geführt, dass die Oppositionsbewegung weitgehend abhängig gemacht wurde. Schon jetzt hat der zum Teil von erklärten neoliberalen Exilanten wie dem provisorischen Premierminister Dschibril angeführte Übergangsrat im Austausch für militärische Ausbildung und Unterstützung demokratisch nicht legitimierte und die ökonomisch-politische Unabhängigkeit eines potenziellen neuen Libyens unter der Führung der Opposition gefährdende Zusagen gemacht.

Viele Berichte bestätigen die Aktivität westlicher Geheimdienste im Gebiet der Aufständischen. Dadurch wird nicht nur die Wahrscheinlichkeit einer Spaltung des Landes oder eine massive Erschwerung des Zusammenlebens in einem in seiner Einheit erhaltenen Libyen nach dem Bürgerkrieg erhöht, sondern verringert sich auch die Wahrscheinlichkeit einer über die reine politische Revolution hinausgehende soziale Revolution.

Die genuine Demokratiebewegung im Mittleren Osten droht so vom Westen kooptiert und in ihrer sozialrevolutionären Verve gestoppt zu werden. Deshalb sollte die Linke zwischen der Frage nach dem wünschenswerten Ausgang des Bürgerkriegs und der Frage des westlichen Imperialismus unterscheiden. Der Wunsch nach einem Sturz des neoliberalen Gaddafi-Regimes hat mit dem imperialistischen Kriegseinsatz nichts zu tun.


Wiederbelebung der Menschenrechtskriege

Neben dem freien Ölfluss und der kontrollierten Entwicklung der Revolutionen und Aufstände in Nordafrika und im Mittleren Osten bietet die gegenwärtige Situation dem Imperialismus aber noch eine dritte, nicht zu unterschätzende Option: Die Wiederbelebung der Ideologie vom Menschenrechtskrieg. Dieser wurde durch die Kooptation der Neuen Sozialen Bewegungen im Neoliberalismus als Regierungsprogramm befestigt. Es ist kein Zufall, dass es eine rot-grüne Regierung war, die den ersten deutschen Angriffskrieg nach dem Sieg über den Faschismus vom Zaun brach. Auch im Libyenkrieg sind es eher die liberalen Institutionalisten und Theoretiker des so genannten Demokratischen Friedens – Susan Rice, Samantha Fox oder in Deutschland der Spiegel-Kolumnist Georg Diez etc. –, die nach Bomben rufen, während z.B. US-Verteidigungsminister Robert Gates sich verhaltener geäußert hat.

Nachdem die Vorstellung vom »Freiheitsexport« qua Bombenangriffen sich mit den desaströsen Ergebnissen im Irak und in Afghanistan und ihrer Offenbarung als Kaschierung knallharter geoökonomischer und geopolitischer Interessen erledigt zu haben schien, verblüfft doch, dass trotz der Heuchelei des Imperialismus (Jemen, Bahrain etc.) die Ideologie und die damit einhergehende Wirksamkeit der Kriegspropaganda nicht totzukriegen sind. Es grenzt schon an linke Schizophrenie, sich einerseits keine Illusionen darüber zu machen, dass Massenvernichtungswaffen und Menschenrechte nur Vorwände der Bush-Administration waren, um die Vormachtstellung der USA und ihrer Verbündeten in der Region zu festigen (das Dollar-Wall-Street-Regime zu sichern, die irakische Ökonomie aufzubrechen und in den Weltmarkt zu integrieren etc.), aber bei denselben Akteuren in derselben Region, die zur selben Zeit dieselbe Politik im Irak, in Afghanistan und nun auch Pakistan fortsetzen, plötzlich neue Motive zu vermuten.

Fakt ist, dass der Schutz von Menschenrechten allenfalls ein Nebenprodukt der Entwicklung ist. Dabei werden nichtmilitärische Lösungen oder Alternativen, auf die sich Gaddafi durchaus eingelassen hat (der Chavez-Friedensplan oder die Vorschläge der Afrikanischen Union), bewusst ignoriert. Die Linke muss sich deshalb im Klaren darüber sein, dass eine Rehabilitierung der Ideologie vom Menschenrechtskrieg, der in der Regel sogar an seinen eigenen vermeintlichen Ansprüchen scheitert – das hat Eric Hobsbawm in seinem Buch »Globalisation, Democracy and Terrorism« herausgearbeitet –, nicht weniger bedeutet als eine geschärfte ideologische Waffe für eine Fortsetzung der so genannten Weltinnenpolitik. Auf diese reagiert der neue Imperialismus angesichts der dramatischen Widersprüche der neoliberalen Globalisierung mit permanentem Krieg.

Wem diese Aussicht nicht gefällt, der muss sich an denjenigen Teil der libyschen Demokratiebewegung halten, der darauf pocht, dass die libysche Bevölkerung unabhängig von der nur den eigenen Interessen folgenden imperialistischen Einflussnahme von außen über sein eigenes Geschick entscheidet. Damit erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich das sozialrevolutionäre Potenzial nicht in der Errichtung einer entleerten liberalen Postdemokratie bei fortbestehendem oder verschärften sozialem Massenelend erschöpft.

Ingar Solty ist Redakteur der Zeitschrift »Das Argument« und Doktorand am Fachbereich Politikwissenschaft der York University in Toronto/Kanada.

[1] Deppe, Frank/Salomon, David/Solty, Ingar (2011): Imperialismus. Reihe Basistexte. Köln: PapyRossa
[2] Lühr Henken: Das libysche Öl und die NATO. Humanität als Vorwand – Krieg als Mittel. Online: www.ag-friedensforschung.de/regionen/Libyen/henken.html

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