1. Dezember 2009 Otto König / Richard Detje

Offensive für Beschäftigung

Deutschland ist bis zum Herbst 2009 vergleichsweise glimpflich durch die Krise gekommen. Zwar sind Produktion und Dienstleistungen erheblich geschrumpft – die Prognosen für 2009 gehen von einem Rückgang des BIP von 4,9% bis 5,2% aus.

1.

Aber im Kontrast dazu wird erwartet, dass die Beschäftigung[1] nur um 0,3% zurückgefahren wird. Härter getroffen ist die Industrie. Im September gab es im verarbeitenden Gewerbe 233.000 Arbeitsplätze weniger als ein Jahr zuvor (-4,4%).[2] Hinzu kommen 345.000 Leiharbeitnehmer mehrheitlich aus den industriellen Bereichen, die sich von Januar bis Oktober 2009 arbeitslos melden mussten.

In nahezu allen anderen Ländern ist die beschäftigungspolitische Lage noch sehr viel dramatischer. Von Ende 2007 bis Mitte 2009 sind der Krise in den 30 wirtschaftlich führenden OECD-Staaten bereits 15 Millionen Arbeitsplätze zum Opfer gefallen. Und sollte sich die Prognose der OECD für 2010 bewahrheiten, könnte ein Kahlschlag von weiteren zehn Millionen hinzukommen.

Dennoch: Das "deutsche Wunder"[3] droht zu verblassen. Ein "Wunder" war es nie. Die Sicherung von Beschäftigung erfolgte zum einen durch Abbau von Überstunden und Arbeitszeitguthaben; zum anderen durch die Ausweitung der Kurzarbeit auf – im Jahresdurchschnitt 2009 – ca. 1,1 Millionen Beschäftigte. Dadurch konnten rund 360.000 Arbeitsplätze gesichert werden; "alle arbeitszeitverkürzenden Maßnahmen zusammen erhalten in diesem Jahr rein rechnerisch etwa eine Million Beschäftigungsverhältnisse".[4] Soweit die positive Botschaft.

Schätzungen der Bundesagentur für Arbeit[5] zufolge droht die Kurzarbeit im kommenden Jahr nahezu halbiert zu werden (auf 600.000). Unter der positiven Annahme, dass im Herbst 2009 tatsächlich der Boden der Wirtschaftskrise erreicht und es 2010 zu einem leichten Aufschwung (+0,5%) kommen sollte, geht die BA für das kommende Jahr von einem Abbau von 790.000 (sozialversicherungspflichtigen) Arbeitsplätzen aus (-2,9%). Insgesamt würde die registrierte Arbeitslosigkeit auf über vier Millionen steigen. Soweit das Szenario – das es zu verhindern gilt!

2.

Es gibt eine zweite Bilanz. Die lautet: Von 2004 bis 2008 sind die Netto-Reallöhne gesunken, "eine in der Geschichte der Bundesrepublik einmalige Entwicklung, denn nie zuvor ging ein durchaus kräftiges Wirtschaftswachstum mit einer Senkung der realen Nettolöhne über mehrere Jahre einher".[6] Mit 61% erreichte die bereinigte Lohnquote 2007/2008 ein Rekordtief.

Diese Entwicklung ist einzigartig in Europa: Um 11% sind die Arbeitnehmerentgelte in diesem Jahrzehnt in Deutschland abgestürzt. Im Euro-Raum, wo es keine Möglichkeit der Abwertung der Währungen der Nachbarländer gibt, schlägt sich das in der Übervorteilung aller Konkurrenten nieder. Ohne technologische Spitzenleistungen und arbeitspolitische Exzellenz wäre Deutschland nicht Exportweltmeister geworden, aber die Unterbietungskonkurrenz bei den Löhnen und Gehältern darf dabei nicht unter den Teppich gekehrt werden.[7] Die Konzentration auf das Exportgeschäft als Konjunkturmotor und die Schwächung der realen Kaufkraft der Masseneinkommen – der Löhne und Gehälter sowie der davon abhängigen Sozialeinkommen – haben dieses Land zunächst zum Profiteur der "Globalisierung" gemacht und dann in den Strudel der Weltwirtschaftskrise gezogen.

Die Krise hat Löcher in die Geldbörsen und Girokonten gerissen – durch Lohnkürzungen im Rahmen von Standortvereinbarungen und Kurzarbeit. Um 5,4% sind die Bruttolöhne und -gehälter im verarbeitenden Gewerbe in den letzten zwölf Monaten gesunken – trotz steigender Tarifeinkommen bei nahezu Preisstabilität.

3.

Wie soll Tarifpolitik auf diese Situation reagieren? Mehrere Punkte sind unstrittig.

Erstens: Beschäftigungssicherung muss Vorrang haben. Dabei kann es nicht um kurzfristige Überbrückungsmaßnahmen gehen. Denn selbst im positiven Fall, dass es zu keiner erneuten Rezession kommt (W-Szenario), wird es voraussichtlich bis in die zweite Hälfte des kommenden Jahrzehnts dauern, bis der Kriseneinbruch überwunden ist. Deshalb muss Beschäftigungspolitik langfristig angelegt sein.

Zweitens: Beschäftigungssicherung gibt es nicht umsonst. Die Verteilungsauseinandersetzung, die um die Sicherung der Arbeits- und Ausbildungsplätze geführt wird, kann um die Erhöhung der Löhne und Gehälter nicht mit den gleichen Summen wiederholt werden. Es ist also abzuwägen, wofür wie viel des Verteilungsspielraums verwendet werden soll.

Drittens: Am Verhandlungstisch sitzt neben der Gewerkschaft und dem Arbeitgeberverband virtuell eine dritte Partei: die Bundesregierung. Mit der Verlängerung der Kurzarbeiterregelung über den 31.12.2009 hinaus hat sie bereits Platz genommen. Eine Subventionierung von Arbeitszeitverkürzung hat sie bisher abgelehnt, ebenso wie eine Verlängerung des Arbeitslosengeldes, um einen Absturz in das Hartz IV-Regime nach einjähriger Arbeitslosigkeit zu verhindern.

Unstrittig ist aber auch, dass der Schuss nach hinten losgeht, wenn Beschäftigungssicherung mit weiteren Einschnitten in die Realeinkommen – also mit Kaufkraftschwächung – "erkauft" wird. Wie kann das unter einen Hut gebracht werden?

In der IG Metall wird gegenwärtig ein Zweierschritt diskutiert: Zunächst soll in den Bezirken ausgelotet werden, welche beschäftigungsichernden Maßnahmen mit den Arbeitgebern über Kurzarbeit hinaus[8] verhandelt werden könnten. Dabei spielt die Verkürzung der Arbeitszeit – insbesondere Wochenarbeitszeitverkürzung, aber auch Altersteilzeit und Vorruhestand – eine herausragende Rolle (siehe den Beitrag von Hilde Wagner in diesem Heft).

Um zu einem Beschäftigungspaket mit einer 28-Stunden-Woche zu kommen, müsste der Tarifvertrag Beschäftigungssicherung neu verhandelt werden. Dieser ist gegenwärtig aber nur im Bezirk Frankfurt (mit den Bundesländern Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland und Thüringen) zum 31.12.2009 kündbar – in allen anderen Bezirken ist eine Kündigung erst zu späteren Zeitpunkten möglich. Das Problem der IG Metall besteht folglich darin, dass sie in diesem Punkt nicht streikfähig und damit auf einvernehmliche Lösungen mit den Metallarbeitgebern angewiesen ist.

Ein zweites Problem ergibt sich daraus, dass Sondierungen – und möglicherweise Verhandlungen – über Beschäftigungssicherung den Lohntarifverhandlungen vorauseilen. Der Entgelttarifvertrag kann erst fristgerecht im März 2010 gekündigt werden und läuft am 30. April 2010 aus. Vorrang Beschäftigungssicherung heißt deshalb für Jörg Hofmann, Bezirksleiter IG Metall Baden-Württemberg: "Wir können uns nicht auf den Hintern setzen und den Terminkalender, den uns Laufzeit und Schlichtungsordnung zur Tarifrunde vorgeben, als verbindliche Liturgie des gewerkschaftlichen Kirchenjahres für glaubenstreues Handeln betrachten."[9]

Das dritte Problem: Bislang gibt es keine Verständigung über die Höhe der Entgeltforderung, mit der die IG Metall in die Tarifverhandlungen gehen soll. Zur innergewerkschaftlichen Demokratie gehört, dass darüber in den Großen Tarifkommissionen in den Bezirken im Januar und Februar diskutiert und beschlossen wird, bevor der Vorstand abschließend entscheidet.

4.

Vorgelagert ist die Frage: Wie hoch schätzt die IG Metall den Verteilungsspielraum im kommenden Jahr ein, der für Einkommenserhöhungen und kostenrelevante Maßnahmen der Beschäftigungssicherung zur Verfügung steht?

Traditionell begründet die IG Metall ihre Tarifforderungen mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Produktivität im aktuellen Jahr und der mittelfristigen Preissteigerung (z.B. der Zielinflationsrate der Europäischen Zentralbank). Für 2010 prognostizieren die Wirtschaftsforschungsinstitute einen Produktivitätsanstieg von 2,4%. Die Preissteigerung wird bei 0,6% taxiert, die mittlere Größe dürfte zwischen 1 und 1,5% liegen. Daraus ergibt sich ein gesamtwirtschaftlicher Verteilungsspielraum in Höhe von 3,4 bis 3,9%.

Es ist also nicht so, dass Gewerkschaften zu den Tarifverhandlungen in einer schweren und noch lange nicht ausgestandenen Weltwirtschaftskrise gleichsam "Geld mitbringen" müssten. Zweifelsohne wird in diese Richtung von den Arbeitgeberverbänden argumentiert werden, vor allem dort, wo die Einbrüche 2009 am tiefsten sind und daher auch der Weg aus dem Krisental am schwierigsten wird. Das ist insbesondere in der Metall- und Elektroindustrie nach einem steilen Anstieg der Lohnstückkosten (um über ein Viertel im ersten Halbjahr 2009) der Fall. Doch mit der Heftigkeit der Branchenkrise gegen eine gesamtwirtschaftlich begründete Tarifpolitik zu argumentieren, ist unseriös. Denn in allen anderen Nicht-Krisen-Jahren lag die Produktivitätsentwicklung in der Metallindustrie immer erheblich über der gesamtwirtschaftlichen Produktivität, woraus den Unternehmen sektorale Extraprofite zuflossen und was ihren weltmarktorientierten Expansionskurs ermöglichte. Es macht keinen Sinn, gerade in einer Krisensituation von einer gesamtwirtschaftlich orientierten Tarifpolitik abzurücken, während man sie in Wachstumszeiten hinsichtlich ihrer ausgleichenden und sektoral lohnbegrenzenden Effekte rühmt.

5.

Ausgehend von einem Verteilungsspielraum von 3,4 bis knapp 4% würde – folgt man der gegenwärtigen Diskussion in der IG Metall – für Lohnerhöhungen ein Volumen von 1-1,5% zur Verfügung stehen. In 2010 mit einer prognostizierten Jahrespreissteigerungsrate von 0,6% würde das nicht nur Reallohnsicherung, sondern auch eine leichte tarifliche Kaufkrafterhöhung bringen.

Allerdings gilt dies auch nur auf der tariflichen Ebene. Bei einer derart geringen Einkommenssteigerung prognostizieren die wirtschaftswissenschaftlichen Institute in ihrem Herbstgutachten nur eine Stagnation der Effektivverdienste wegen des Wiederauffüllens der Arbeitzeitkonten, weiteren Kürzungen übertariflicher Leistungen und anderen Formen der betrieblichen Verrechnung von Tariflohnerhöhungen.[10] Der BDA-Präsident Dieter Hundt hat "Sonderzahlungen wie etwa das Weihnachts- und Urlaubsgeld" bereits "auf den Prüfstand" gestellt.[11] Der gewünschte konjunkturstützende Effekt einer Verbesserung der privaten Konsumnachfrage würde in diesem Fall nicht eintreten.

6.

Bleibt man im Rahmen eines Modells Reallohnsicherung bei Vorrang von Beschäftigungssicherung, stünde die Produktivitätssteigerung von 2,4% für beschäftigungspolitische Maßnahmen zur Verfügung.

Nach über eineinhalb Jahrzehnten arbeitszeitpolitischer Abstinenz haben die Erfolge temporärer Beschäftigungssicherung durch Kurzarbeit das Thema Arbeitsumverteilung wieder auf die gewerkschaftliche Tagesordnung gesetzt. Das ist gut so – obgleich der Debattenvorlauf äußerst gering ist.[12] Denn mit einer auf mittlere Frist konzipierten Arbeitszeitverkürzung auf 28 Wochenstunden geht es eben nicht um die Konservierung von einseitig exportorientierten Produktionsstrukturen, sondern um die beschäftigungspolitische Begleitung eines sektoralen Umbauprogramms. Die IG Metall täte gut daran, nicht über Lohnzurückhaltung zu diskutieren, sondern offensive beschäftigungspolitische Strategien in die politische Auseinandersetzung einzubringen. Dazu gehört auch die Verknüpfung von arbeitszeit-, struktur- und konjunkturpolitischen Maßnahmen. Die Finanzierung eines Public-Equity-Fonds wäre beispielsweise ein ausbaufähiges Konzept, für das angesichts einer bedrohlichen Kreditklemme offensiv um Unterstützung geworben werden kann.

Die in der IG Metall durchgerechneten Szenarien gehen bei schwachem Wachstum oder Stagnation bis 2013 von einem Beschäftigungsabbau in der M+E-Industrie von 450.000 – 490.000 aus. Würde die Arbeitszeit in der M+E-Industrie flächendeckend auf 30 Wochenstunden reduziert, könnte der Arbeitsplatzabbau auf 173.000 bis 215.000 begrenzt werden. Bei einer 28-Stunden-Woche wäre eine Halbierung des Arbeitsplatzabbaus möglich. Das ist viel – zeigt aber zugleich, dass weitergehende beschäftigungspolitische Initiativen erforderlich sind.

Bei einer 28-Stunden-Woche wären ohne Lohnausgleich Einkommensverluste von rund 15% zu verkraften. Das ist bei stagnierenden oder gar sinkenden Effektiveinkommen selbst in mittleren Einkommensklassen in einer mittleren Perspektive – worauf die Arbeitszeitverkürzung ja ausgerichtet ist – ohne erheblichen Teillohnausgleich nicht zu verkraften. Für untere Lohngruppen ist Arbeitszeit ohne Lohnausgleich überhaupt nicht zu schultern.

7.

Zu einer kräftigen Arbeitszeitverkürzung zur Beschäftigungssicherung gibt es keine Alternative. In der Frage des (Teil-)Lohnausgleichs wird es zu erheblichen Auseinandersetzungen mit Gesamtmetall kommen. "Alles, was die Kostensituation in den Betrieben zusätzlich belastet, ist schädlich!"[13]

Gerade deshalb ist den regionalen Verhandlungen der Vorrang einzuräumen, denn nur so können Transparenz und Beteiligung sowie die Mobilisierung der Mitglieder sichergestellt werden. Dies ist angesichts der Mitgliederentwicklung von zentraler Bedeutung. Zentrale Verhandlungen, wie von Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegießer angestrebt, sind kontraproduktiv. Sie schwächen die Durchsetzungskraft der IG Metall.

Die anstehende Tarifrunde muss darüber hinaus eingebettet werden in eine politische Strategie mit dem Ziel eines "Schutzschirms für Arbeitsplätze", die sowohl die Arbeitgeber wie die Bundesregierung in die Pflicht nimmt. Der öffentliche Beitrag muss über die steuerliche Freistellung des Teillohnausgleichs bei Arbeitszeitverkürzung hinausgehen. Das heißt: Die weitere "Förderung der Altersteilzeit" durch die Bundesagentur für Arbeit ist bei gleichzeitiger Übernahme von Auszubildenden sowie der Aussetzung der "Rente mit 67" zwingend erforderlich.

Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus, Otto König ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall-Verwaltungsstelle Hattingen-Gevelsberg und Mitglied des IG Metall Vorstands.

[1] Hier: sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ohne geringfügige Beschäftigung, Mini-Jobs und ohne Selbständige.
[2] Überdurchschnittlich betroffen sind vor allem der Maschinenbau (-4,5%), die Automobilindustrie (-4,8%), die Herstellung von Gummi- und Kunststoffwaren (-5,4%) und von Metallerzeugnissen (-6,5%).
[3] Paul Krugman: Free to Lose, New York Times, 12.11.2009.
[4] DIW-Wochenbericht 42/2009, S. 721.
[5] IAB-Kurzbericht 20/2009 bei einem Rückgang des BIP um 5,5%.
[6] DIW-Wochenbericht 33/2009, S. 550.
[7] "Die schwache Lohnentwicklung hat ohne Zweifel die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen auf dem Weltmarkt gestärkt und dem Export Impulse gegeben." ebd., S. 559.
[8] Hier fordern die Arbeitgeber allerdings Entlastungen bei den so genannten Remanenzkosten der Kurzarbeit.
[9] Rede auf der Bezirkskonferenz am 4.11.2009 in Böblingen.
[10] Bei 1,8% tariflicher Nominallohnsteigerung gehen sie davon aus, dass die realen Arbeitskosten pro Stunde um 0,2% und die Lohnstückkosten um 2,2% sinken.
[11] "Lange Durststrecke". Interview in der Wirtschaftswoche Nr. 48 vom 23.11.2009, S. 30.
[12] Beispielsweise über Modelle möglichst beschäftigungsintensiver Arbeitszeitverkürzung, deren Wirkung nicht sogleich durch Flexibilisierungsstrategien verbraucht werden soll.
[13] Rainer Dulger, Vorsitzender Südwestmetall in Stuttgarter Zeitung v. 20.11.2009. Hundt: "Die Gewerkschaft will die Möglichkeit für eine mehrjährige Arbeitszeitverkürzung mit einem steuer- und beitragsfreien Teillohnausgleich schaffen. Das lehne ich ab."

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