1. Oktober 2001 Peter Lock

Osama bin Laden – eine austauschbare Figur

Der amerikanische Präsident gleicht einem wütenden Elefanten, der um jeden Preis das, was er für das Böse hält, vernichten will. Dieses Böse gleicht aber einer Fliege, die der Elefant, weil er kurzsichtig ist, vielleicht immer mal wieder hören, aber nicht sehen kann. In seinem Zorn wird er vieles zertrampeln, aber die Fliegen nicht treffen.
Mit der Metapher Kreuzzug wird die dunkelste, mörderischste Phase des Christentums beschworen. Der Ruf nach Vergeltung ist zwangsläufig mit unakzeptabel hohen Kollateralschäden verbunden. Unschuldige Menschen und ihre Überlebensressourcen, überwiegend in der Dritten Welt, werden zerstört.

Alle Politiker sind sich einig, dass es bei der Bekämpfung des Terrorismus zum Schulterschluss der zivilisierten Welt kommen muss. Auch die erschreckte Öffentlichkeit erwartet Taten der staatlichen Sicherheitsorgane. In dieser Situation hätte das Ziel der globalen Hetzjagd, Osama bin Laden, erfunden werden müssen, gäbe es diese Person nicht wirklich. Dieser Mann inszeniert sich auf der Folie der Medien seit Jahren mit erstaunlichem Erfolg als Feind der USA und Gewaltverherrlicher. Er ist außerhalb der Welt der Industriestaaten zu einer mythischen Gestalt geworden, die diffuse politische Ziele mit ultimativer Gewalt verfolgt - vergleichbar mit dem Mythos Che Guevaras vor über 30 Jahren.

Indem man bin Laden jagt, gibt man vor, den Terrorismus zu bekämpfen. Dabei geraten die Ursachen von Terrorismus völlig aus dem Blickfeld, weil eine Beschäftigung mit ihnen die scheinbare Klarheit der unmittelbaren politischen und militärischen Reaktion stören würde. Man fragt nicht nach den gesellschaftlichen Bedingungen, in denen sich eine solche multinationale Operation effizienten Terrorismus entfalten konnte. Es ist dabei unbedeutend, wie die Personen, wie auch immer bewaffnet, in die vier Flugzeuge gelangen konnten. Denn es ist eine Illusion zu glauben, dass man absolute Sicherheit technisch organisieren kann. Im Wettlauf mit den unbegrenzten Möglichkeiten terroristischer Entschlossenheit wird man immer Verlierer sein. Letztlich basiert Sicherheit immer auf einem gesellschaftlichen Konsens.

Auch wenn der aktuelle Diskurs darauf hinausläuft, die Akteure dieses Terrorakts als verrückt einzustufen, muss man sorgfältig nach den politischen Zielen fahnden, wie verwirrt und verzerrt sie auch sein mögen. Denn Terrorismus ist der Einsatz unberechenbarer Gewalt zur Erreichung eines politischen Ziels. Er ist die fatale Fortsetzung eines gescheiterten oder unmöglichen politischen Dialogs. Insofern hat Terrorismus immer eine gesellschaftliche Basis, ohne die er nicht operieren kann.

Nach den wenigen Fakten, die bislang bekannt sind, muss der 11. September das Werk einer außerordentlich leistungsfähigen, transnational operierenden Organisation gewesen sein. Sie muss über erhebliche finanzielle Ressourcen verfügen. Außerdem muss der ideologische Zusammenhalt der Angehörigen dieser Organisation groß und nach den Regeln geheimbündlerischer Organisation strukturiert gewesen sein, sodass sie nicht unterwandert werden konnte. Weiterhin müssen die politischen Ziele mit quasi-religiösen Vorstellungen verknüpft sein, in denen Diesseits und Jenseits zu einer Handlungsebene verschmelzen. Nur auf einer solchen Grundlage kann gezielt qualifiziertes Personal für Selbstmordoperationen abgerufen werden.

Jedem steuerzahlenden Bürger stellt sich natürlich die Frage: Sind die riesigen Summen, die für geheimdienstliche Tätigkeiten aller Art ausgegeben werden, überhaupt sinnvoll angelegt, wenn es dem größten Sicherheitsapparat der Welt mit einem Jahresbudget von über 60 Mrd. DM über Jahre nicht gelingt, bin Laden dingfest zu machen? Solange es gegen das absolut Böse, die Sow-jetmacht, ging, pflegte man mit bin Laden enge Verbindungen. In dieser Rolle war bin Laden zunächst gefeierter Staatsheld in der Welt der Erdölapartheid Saudi Arabiens. Eine Erklärung für das Versagen der Geheimdienste ist ihr Opportunismus. Seit Ronald Reagan den Krieg der Sterne auf die politische Agenda Amerikas gesetzt hat, sind Begründungen für dieses Projekt gefragt. Entsprechend konzentrieren sich die Aufklärungsdienste auf »Schurkenstaaten« und die ihnen unterstellten staatsterroristischen Absichten. Zugleich profilieren sie sich als Großkunden bei jenen Industrien, die sich die Raketenabwehr auf ihre Fahnen geschrieben und ihre Gelder für die politische Durchsetzung dieses Auftragseldorados verwenden: die Satelliten- und Computerin-dus-trien. Da gemeinhin unterstellt wird, dass Terroristen eine logistische Basis benötigen, um international tätig zu werden, schien die ausschließliche »Schurkenstaaten«-Beobachtung ein angemessener Fokus zu sein.

Was sind die Hintergründe des Terrorismus? Zunächst muss man sich verdeutlichen, dass die gegenwärtige Form wirtschaftlicher Globalisierung an den Interessen einer Mehrheit der Weltbevölkerung vorbeigeht. Die unerbittliche Polarisierung des Reichtums, die strukturelle Unfähigkeit, Hunger auf der Welt zu überwinden, schließlich die in großen Teilen der Welt dramatische Erosion von Staatlichkeit und die zunehmende Bedeutung von Gewalt als Regulativ wirtschaftlicher Aktivitäten, die zudem häufig zu kriegerischen Aktivitäten eskaliert, sind untrügliche Indikatoren. Sie schlagen sich in Flüchtlingsströmen und in weltweiter schattenwirtschaftlicher Migration nieder, die als transnationale völkerwanderungsartige Diffusion stärker ist als nationalstaatliche Regulierungsversuche der Migration. Vielleicht sollte man von Schattenglobalisierung sprechen, die sich komplementär zum Projekt der neoliberal geprägten Globalisierung entfaltet. Dramatisch zugespitzt werdem diese Entwicklungen in der weltweiten Jugendarbeitslosigkeit, die in vielen Ländern weit mehr als die Hälfte der nachwachsenden Generationen betrifft, denen nur bleibt, ihr Leben in informellen und kriminellen Sphären zu organisieren. Ein politisches Projekt, das Perspektiven bietet, diese intergenerationelle Apartheid zu überwinden, ist nicht in Sicht. Strukturell verabschiedet sich so ein rasch weiter wachsender Teil der Bevölkerung aus der Staatlichkeit, die sich ausschließlich auf die reguläre Ökonomie stützen kann.

Gleichzeitig ist die ausgeschlossene Mehrheit der Weltgesellschaft medial mit der Welt des Massenkonsums der Wohlstandsgesellschaften konfrontiert. Kriminelle Tätigkeiten sind für eine Mehrheit der Weltgesellschaft der einzig realistische Zugang zu dieser »schönen« Welt. Alternativ kann man diese Welt auf der Grundlage religionsähnlicher Ideologien verteufeln und ihre Abschaffung zu einer irregeleiteten Aufgabe stilisieren. Diese Verteufelung schafft psychische Entlastung. Ausgangspunkt für solche antimodernistischen Ideologien ist die erfahrene Aussichtslosigkeit, durch politische Veränderungen das soziale Apartheidregime beseitigen zu können.

Einen weltgesellschaftlichen Diskurs zur Überwindung dieses Zustandes gibt es derzeit nicht. Nach dem endgültigen Verlust des sowjetsozialistischen Placebos als fiktive Alternative wird Leere empfunden. Die Moderne bietet jenseits der neoliberalen Ideologie keine integrative Utopie, an der sich politische Bewegungen orientieren könnten. Einzig an den universalen Menschenrechten kann sich derzeit Herrschaftskritik wirkungsmächtig entfalten. Daher liegt es fast auf der Hand, dass vormoderne Gesellschaftsentwürfe religionsartiger Ideologien in verschiedensten Erscheinungsformen an Attraktivität gewinnen.

Die geschichtsphilosophische Reaktion der Wohlstandsgesellschaften unter der ideologischen Führung der USA muss von der ausgeschlossenen Mehrheit der Weltgesellschaft als Provokation empfunden werden. Denn einerseits wird das Ende der Geschichte (Fukuyama) und damit die Zementierung des gegenwärtigen unerträglichen Zustandes verkündet; andererseits wird die kriegerische Konfrontation mit jenen Teilen der Welt, in denen die große Mehrheit der Ausgeschlossenen lebt, gepredigt (Huntington).

Die vorherrschende ideologische Verknüpfung von neoliberaler Wirtschaftsdoktrin und Demokratie schafft ein Klima, in dem sich zunehmend verzweifelte, gleichwohl aber ungeeignete Ideologien alternativer Gesellschaftsformen entfalten, die regelmäßig ein Lösungsmuster mit religiösen Elementen einschließen. Ein Jenseits ist die Folie, auf der solche Utopien ihre Heilsformel entwickeln. Dadurch werden Maßstäbe rationalen politischen Handelns relativiert und ersetzt durch den Prozess eines bis zu seiner Auflösung eskalierend konfrontativen politischen Diskurses.

Wenn man zu dieser Zustandsbeschreibung hinzufügt, dass sich parallel zum gegenwärtigen Globalisierungsprozess viele dynamische internationale Netzwerke krimineller Ökonomie entwickelt haben, die angesichts der deregulierten Finanzmärkte leistungsfähig sind, über große finanzielle Ressourcen verfügen und global operieren, dann wird deutlich, dass es zur Organisation einer terroristischen Gruppe mit großer Leistungsfähigkeit nicht eines bin Laden bedarf. Vielmehr sind die objektiven gesellschaftlichen und die wirtschaftlich organisatorischen Bedingungen gegeben, die die Figur des bin Laden austauschbar machen. Daher setzt eine wirkungsvolle Bekämpfung des Terrorismus ein Verständnis für die gesellschaftlichen Verhältnisse voraus, die diesen Terrorismus auch dann weiter hervorbringen werden, wenn die Zelle des bin Laden längst ausgehoben ist. Daher muss sich die Politik darauf konzentrieren, wieder dialogfähig mit jenen Menschen zu werden, die weltgesellschaftlich ausgeschlossen sind. Dies setzt aber voraus, dass nicht Wirtschaftsordnungen, sondern die Lebens- und häufig die Überlebensperspektive der Menschen Priorität haben.

Peter Lock ist Friedens- und Konfliktforscher in Hamburg.

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