25. Oktober 2014 Stephanie Odenwald: Zur Aktualität eines dissidenten Kommunisten

Pasolini – Der Traum von einer Sache

Fast vier Jahrzehnte sind seit der mysteriösen Ermordung des italienischen Schriftstellers, Filmemachers, Malers und zweitweise auch als Lehrer tätigen Pier Paolo Pasolini vergangen. Zur Zeit wird er mit einer Ausstellung gewürdigt: »Pasolini-Roma« ist nach den Stationen Rom, Barcelona und Paris noch bis Anfang Januar 2015 auch im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen.

Wie schon der Ausstellungstitel besagt, wird mit dem Werk Pasolinis auch die Stadt Rom als kulturelles und politisches Zentrum Italiens präsentiert. Rom ist allerdings nicht der einzige Hintergrund von Pasolinis Werk, denn seine ersten Gedichte und Prosawerke wurzeln im bäuerlichen Milieu des Friaul, das lebenslang ein Bezugspunkt für sein Werk war. Bis Anfang November werden außerdem eine Retrospektive seiner Filme im Haus des Berliner Filmmuseums im Kino Arsenal angeboten, wie auch zwei interesssante Workshops mit ehemaligen Weggenossen Pasolinis im Gropius-Bau. Pasolinis Werk kommt also wieder einmal ins Gespräch. Was hat er uns heute zu sagen? Diese Frage kann man nicht beantworten, ohne sein Werk zu kennen, wie auch seine Lebensgeschichte, die durch seine Homosexualität geprägt war.


Warum sich mit Pasolini auseinandersetzen?

Als Bezugspunkt zur heutigen Zeit sei bemerkt: Auch in heutigen Kämpfen wird eine Modernisierung angeprangert, die kultur- und umweltzerstörend ist und Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung deformiert. Und wie bei Pasolini geht es um »anders« sein, darum, eine andere Sexualität zu leben, andere Lebensformen zu wollen, die nicht von einer alles durchdringenden Ökonomie diktiert werden. Diese »Pasolinischen« Themen liegen sozusagen in der Luft, auch international gesehen. An Pasolinis Leben und Werk faszinieren das Anderssein, den Körper ins Spiel Bringende, das Widerständige, die Provokation und auch äußerste Zerrissenheit, Widersprüchlichkeit, Nicht-Vereinnahmbarkeit. Er wagte immer wieder neue Anfänge und Versuche, ließ sich nicht festlegen, erstaunte oder entsetzte mit Unvereinbarkeiten, legte sich mit vielen an: mit der feministischen Bewegung, mit der Studentenbewegung, mit der katholischen Kirche, mit Freunden und Feinden, auch mit der kommunistischen Partei Italiens, deren kritischer Unterstützer er war. Der unbequeme und unbeugsame Kritiker Pasolini wurde oft genug mit Hinweis auf seine homosexuelle Orientierung diskreditiert. Permanente Ausgrenzung und Verfolgung begleiteten sein Leben. So wird in der Ausstellung die bemerkenswerte Abfolge von 35 Prozessen präsentiert.

Was hier versucht werden soll, ist eine Annäherung an Pasolini, mit besonderem Blick auf seine politischen Einmischungen und Einschätzungen, die durch seine Texte und Filme transportiert werden.


Pasolinis Leben und politisches Wirken

Pasolini wurde 1922 in Bologna geboren, wo er auch später studierte: Sprachwissenschaften, Kulturgeschichte, Philosophie. Als junger Mann lebte er auf dem Land im Friaul, der Heimatgegend seiner Mutter, was für seine ersten poetischen Texte, geschrieben im friaulischen Dialekt, prägend war. Er trat 1947 im Friaul in die KPI ein, beeindruckt von den Kämpfen der Bauern gegen die Großgrundbesitzer, und betätigte sich im Bezirk Casarsa als Parteisekretär. Pasolini, der damals als Lehrer tätig  und als Kommunist konservativen Kreisen ein Dorn im Auge war, wurde diskreditiert, indem er eines sexuellen Vergehens beschuldigt wurde. Zu Unrecht, stellte sich vor Gericht heraus. Jedoch wurde er als Lehrer suspendiert und die KPI schloss ihn aus. Die Ausgrenzung durch die KPI bewirkte, dass er für den Rest seines Lebens seinen Platz außerhalb der KPI sah, als dissidenter Kommunist. Dennoch blieb die KPI für ihn die Partei, einen Wandel der Gesellschaft bewirken zu können, wie er in seiner letzten Rede auf dem Parteitag der »Partito Radicale« wenige Monate vor seinem Tod formulierte, nachzulesen in »Lutherbriefe« (1976). Nach seiner kurzen Zeit als Lehrer war Pasolini als Schrifsteller und Filmregisseur tätig, äußerte sich aber auch in Tageszeitungen zu politischen Streitfragen, war selber an einer Zeitschrift beteiligt und wurde zu einer zwar umstrittenen, aber einflussreichen Person innerhalb der italienischen Intellektuellen und Kulturschaffenden. Seine Ermordung 1975 wurde der Stricher-Szene zugeordnet, ein 17-jähriger Stricher gestand die Tat und wurde verurteilt. Später gab es Hinweise, dass die Mafia das Geständnis erpresst hatte. Bis heute ist der Mordfall Pasolini nicht endgültig geklärt. Dass Pasolini gewissen Kreisen der italienischen Gesellschaft äußerst unbequem geworden war, ist nicht von der Hand zu weisen. So thematisiert er in seinem letzten fragmentarisch gebliebenen Roman »Petrolio« (postum 1992) die wirtschaftliche und politische Korruption in Italien.

Pasolini steht für eine enge Verknüpfung von Kunst und Politik. Immer wieder hat er das Anliegen artikuliert, das Irrationale im menschlichen Verhalten zu erfassen, zu verstehen und im Rahmen einer Strategie der gesellschaftlichen Veränderung zu beachten. Pasolinis Anliegen war, den Marxismus für die Untersuchung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Italien im 20. Jahrhundert schöpferisch anzuwenden. Er, der in der Nachkriegszeit der linken Kulturszene Italiens angehörte und sie maßgeblich beeinflusste, sieht sich in der Tradition Antonio Gramcis, siehe sein Epos »Gramscis Asche« (1957) und darin seine Formulierung des »für und wider-dich sein«. Gramsci reflektierte den fordistisch geprägten Modernisierungsprozess und erkundete, wie an die bisherige italienische Kultur anknüpfend eine linke Hegemonie geschaffen werden kann. Dagegen war Pasolinis großes Thema die dunkle Seite der Moderne, das Versinken in die Geschichtslosigkeit, das Auslöschen der Kultur der Vergangenheit und ihrer Spuren, eine brutale Modernisierung unter dem Diktat der ökonomischen Verwertung, insgesamt eine große Anklage. Schon ab den 1950er Jahren weist Pasolini darauf hin, dass der von ihm so genannte Neokapitalismus dabei ist, alle Bereiche der Gesellschaft zu durchdringen. Dabei beruft sich Pasolini auf das »Kommunistische Manifest« von Marx und Engels und sieht dessen Prognosen in der italienischen Gesellschaft bestätigt, wohlgemerkt zu einer Zeit, als die Schriften von Marx nur wenigen bekannt waren.


Pasolinis große Themen

Der »Neokapitalismus« und seine kulturellen und sozialen Folgen

Pasolinis übte harte Kritik an einer Gesellschaft, die vor allem auf ökonomisches Wachstum und Konsum setzt. Er fand das für Italien besonders dramatisch, weil hier die Industrialisierung kaum Fuß gefasst hatte und ein Proletariat fehlte, dessen Kämpfe zu einer Zivilisierung der Gesellschaft führen konnten. Er kennzeichnet die italienische Gesellschaft bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges als bäuerliche und subproletarische, beides war für ihn fast identisch. In seinem Roman »Der Traum von einer Sache« (1962) beschreibt er die Armut und Arbeitslosigkeit im norditalienischen bäuerlichen Friaul, aber auch die Lebensfreude der Menschen, ihre natürliche Nahrung, ihre Feste, ihre Solidarität. »Der Traum von einer Sache« geht auf eine Formulierung von Marx in einem Brief an Arnold Ruge von 1843 zurück, die von Pasolini für seinen ersten Roman als Titel verwendet und als längeres Zitat dem Text vorangestellt wird. Die jungen Männer, die in dem Roman mit großen Illusionen aufbrechen und jenseits der italienischen Grenze, im neu entstandenen Jugoslawien, Arbeit suchen, erleben extreme Ausbeutung, Hunger, Gleichgültigkeit. Die meisten kehren zurück, weil bei ihnen zu Hause trotz Armut niemand hungern muss, weil es ein anderes Miteinander gibt. Diese Art von Gemeinwesen, von Zusammenleben, von menschlicher Solidarität wurde nach Pasolini vom »Neokapitalismus« zerstört. Mit »Neokapitalismus« meint er den entwickelten Kapitalismus, in Absetzung zum frühen. Seine Anklage: Vorrangig wird der private Konsum gefördert, die öffentlichen Instituionen wie Schulen, Universitäten und kulturelle Einrichtungen werden vernachlässigt, veröden. Die wirtschaftliche Macht ist skrupellos und die Politik wird korrumpiert (siehe »Petrolio«, postum 1992), beides ist verflochten mit der Mafia.
Seine These: Zwar ist mehr materieller Wohlstand erreicht worden, doch um den Preis einer umfassenden Zerstörung der Kultur der Menschen und ihrer gesamten Lebensumwelt wie Städte, Natur, Gemeinwesen. Das entwürdigt sie und raubt ihnen ihren Lebenssinn (siehe u.a. »Lutherbriefe« 1976 ), macht aus ihnen Menschen, denen eine sittliche, geistige Dimension, zielweisende Visionen und tiefe Überzeugungen fehlen. Sie sind der kapitalistischen Ausbeutung, der Konsumgier, der Rücksichtslosigkeit widerstandslos ausgeliefert. Pasolini konstatiert ein Werte-Vakuum, beschwört die Horrorvision einer durch und durch entfremdeten Gesellschaft, ein Versinken in die Geschichtslosigkeit. Alles dreht sich um den Konsum.

In vielen seiner Texte äußert er seine Trauer über das Verschwinden der alten Welt, der ländlichen und subproletarischen Kultur. Gleichzeitig bestritt er, nostalgisch zu sein, und wehrte sich dagegen, dass er die Beschränkungen des ländlichen Milieus nicht beachte, dass seine Haltung rückwärtsgewandt sei. Das ist jedenfalls eine der Kontroversen in der Auseinandersetzung mit Pasolinis Werken, während seiner Lebenszeit und nach seinem Tod. Es geht um die legitime Trauer, dass althergebrachte Lebensformen erodieren, wie auch eine gewachsene architektonische Kultur zerstört wird. Doch was ist von Pasolinis Bewertung zu halten, dass die frühere Armut den Menschen ihre Würde und Kultur gelassen hat, während sie im Neokapitalismus in der Kulturlosigkeit versinken würden? So führt er unter anderem in einem seiner letzten Texte »Gennariello« – der Brief eines Pädagogen an seinen Schüler – aus, dass er früher am meisten die Armut bekämpft hätte und inzwischen meint, dass es Schlimmeres gibt als Armut, nämlich die allgemeine Kulturlosigkeit. Warum dieses gegeneinander Ausspielen von Armut und Kulturlosigkeit? Warum nicht anerkennen, dass der Prozess der Modernisierung sowohl helle wie dunkle Seiten hat? Pasolinis Anklage der Konsumgesellschaft schließt so gut wie aus, dass im Laufe der kapitalistischen Entwicklung für viele Menschen bei allen Widersprüchen ein Zugewinn an Entfaltungsmöglichkeiten errungen werden konnte, ein höherer Lebensstandard, mehr Freizeit, mehr Bildung, freilich je nach sozialem Status sehr unterschiedlich ausgeprägt und nicht ohne deformierende Effekte. Ein blinder Fleck Pasolinis, obwohl er für sein eigenes Leben nach einer Phase der großen materiellen Armut die Möglichkeit, besser zu leben, herbeisehnte, wie in seinem Gedicht »Mein Verlangen nach Reichtum«, das im Ausstellungskatalog Pasolini-Roma (2014) abgedruckt ist.

Der Blick auf das gesellschaftliche Imaginäre – die Religion

Pasolini bekannte sich trotz seiner katholischen Wurzeln dazu, ein Nicht-Gläubiger zu sein, was er in Ausführungen zu seinem Film über das Erste Evangelium nach Matthäus (1964) thematisiert. Das war im katholischen Italien alles andere als selbstverständlich und akzeptiert. Er hat die Institution Kirche immer wieder scharf kritisiert, so in den »Freibeuterschriften«, die auf Artikel in großen Tageszeitungen wie dem »Corriere della Sera« zurückgehen. Dennoch interessierte ihn die Religion, da sie über Jahrtausende die europäische Kultur geprägt hat, sowohl in der Architektur, wie auch in der Musik, in der bildenden Kunst und Literatur, was er in seinen Filmen immer wieder aufgreift. Die Erzählungen der Bibel versteht er als Geschichten über existenzielle Themen wie Leid, Tod, Trauer, Schuld, Liebe, die der Selbstvergewisserung der Menschen dienen. Diese biblischen Geschichten griff er auch in seinen Filmen auf. Einer seiner bekanntesten Filme ist »Das 1. Evangelium – Matthäus« (1964), der in Süditalien mit Laiendarstellern gedreht wurde und Preise erhielt, u.a. von der Kirche. Religion als kulturelles Erbe wird von ihm als eine Schranke gegen ökonomische Funktionalisierung und Beraubung der Menschlichkeit gesehen, sieht er doch das Urchristentum in Verbindung mit kommunistischen Idealen wie Gleichheit, gemeinsamer Besitz, Nächstenliebe, Barmherzigkeit. İn seinen letzten Lebensjahren suchte er zunehmend den Kontakt mit linken kirchlichen Kreisen. Nichtsdestoweniger kämpfte er bis zuletzt gegen die herrschende Moral, zum einen gegen katholisch-restriktive Normen und zum anderen warnte er vor einem barbarischen Nihilismus auf moralischem Gebiet. Einen solchen Nihilismus sieht er nicht nur in der faschistischen Vergangenheit, sondern massenwirksam auf andere bürgerliche Art wieder im Kommen. Eine kaum erträgliche Barbarei, einen Sadismus sondergleichen, zeigt Pasolini in seinem letzten als Skandal bewerteten Film »Salo oder die 120 Tage von Sodom« (1975), in dem eine vom Marquis de Sade verfasste Geschichte in die Zeit des Faschismus von 1944 verlegt wird. Die Zuschauer sind schockiert und so manchen mag die Frage bewegen, was sich gegen solche Abgründe der Grausamkeit, die es ja bekannterweise immer noch gibt, tun lässt.

Pasolinis Überzeugung ist, dass Menschen eben nicht nur rationale Wesen sind, sondern die Antriebskräfte des Irrationalen Beachtung finden müssen, die sich eben auch in der Religion manifestieren. Er vermisste bei den Linken Italiens eine ausreichende Auseinandersetzung mit den irrationalen Bewusstseinsinhalten. Seine These: Für den Neokapitalismus sind religiöse Überzeugungen und Lebensweisen überflüssig bis behindernd, denn die neue, das Handeln der Menschen beherrschende Religion ist der Konsum. Zu beobachten sei: Wenn sich die Menschen von der Religion abwenden, droht ein Vakuum des dem Menschen Wertvollen und Unantastbaren. Vakuum heißt so viel wie Verlust an humanen Werten, Verrohung, bis hin zur Übernahme faschistischer Ideologie. Mit seiner Forderung, das Irrationale im gesellschaftlichen Bewusstsein zu reflektieren und zu beachten, formuliert Pasolini eine wichtige Anforderung an linke Politik und Gestaltung der Kultur. Aktuell gewinnen die Rechten in Europa an Terrain. Von der einflussreichen italienischen kommunistischen Partei, die es zu Pasolinis Lebenzeit gab, ist nicht mehr viel übrig, und die Linksparteien haben in vielen europäischen Ländern dramatisch an Einfluss verloren. Italien befindet sich in einem politisch zerrütteten Zustand. Die Gefahr, die er beschworen hat, ist gegenwärtig.

Die Normierung des Eros

Pasolini thematisiert eine restriktive Moral, die in Italien viel mit der katholischen Kirche zu tun hat. 1964 kam sein dokumentarischer Film »Comizi d’amore« in die Kinos. Überall in Italien, in Fabriken, vor Schulen, am Strand, auf den Straßen hatte er Kinder, Frauen und Männer, junge und alte Leute nach ihren sexuellen Kenntnissen und Einstellungen befragt, die erste große öffentliche Befragung dieser Art in Italien. Er stieß auf ein verbreitetes Unwissen und Scham bei sexuellen Themen, auf einen harschen Konservatismus bei den einen, auf Aufgeschlossenheit für Neuerungen, z.B. Erleichterung der Scheidung, bei anderen. Dieser Film fand wenig Zuschauer, ist jedoch ein interessantes Zeugnis des damaligen Zeitgeistes. Später polemisierte Pasolini dagegen, dass die 68er-Bewegung eine sexuelle Revolution zustandegebracht hätte. Er beschrieb eine Normierung der Sexualität im Zeichen des Konsums: »Kein Auto zu haben und nicht in einer Paarbeziehung zu leben, kann heute, wo es allgemeine ›Pflicht‹ ist, ein Auto und eine Paarbeziehung zu haben (janusköpfiges Monster der Konsumgesellschaft), nur als großes Unglück, als unerträgliche Frustration gelten. Die heterosexuelle Liebe, die so unumschränkt erlaubt ist, dass sie schon in Zwang ausartet, hat sich zu einer Art ›gesellschaftlicher Erotomanie‹ entwickelt. Darüber hinaus wird diese sexuelle Freiheit nicht etwa von unten her gefordert und durchgesetzt, sondern von oben herab zugestanden...« (Das Gefängnis und die Brüderlichkeit der homosexuellen Liebe, in: »Freibeuterschriften« 1975, S. 112) Pasolinis prangert die Freiheit des Homo oeconomicus an, der vor allem konsumieren will. Eine Freiheit, die zu einer Überforderung für die Menschen wird. So sei für Jugendliche von heute die Möglichkeit zu unbeschränkter Sexualität »ein Muss, hinter dem die Angst steht, den ihm gewährten Freiheiten nicht zu genügen« (ebd.). Pasolini weist damit auf ein Problem hin, über das sich heute Psychologen und Soziologen beunruhigen: das in seinen intimsten Bindungen verunsicherte und erschöpfte Selbst. Pasolini sieht jedoch keinerlei emanzipatorischen Effekte wie die zunehmende, wenn auch nicht ausreichende und widersprüchliche Befreiung aus den bisherigen Geschlechterverhältnissen, die nicht nur für bourgeoise Lebensverhältnisse gilt. Es gibt sie, die Frauenbewegung und Fortschritte bei der Emanzipation der Frauen. Mit dem Feminismus stand Pasolini bekanntermaßen auf Kriegsfuß.

Was hat uns Pasolini über einen nicht-normierten Eros zu sagen? Der Eros ist bei Pasolini etwas Göttliches, eine vitale Lebensenergie, aber auch eine zerstörerische Sprengkraft, wie er es in seinem Film »Teorema – Geometrie der Liebe« (1968) darstellt. Er lässt den Film mit einem Bibelzitat und Bild aus der biblischen Geschichte beginnen, mit der Aussetzung in der Wüste, mit einer kahlen Landschaft. Ganz unvermittelt und verblüffend stellt das nächste Bild eine Gruppe von Arbeitern dar in einer Fabrik in Mailand, von ihrem Besitzer als Schenkung an die Arbeiter übergeben. Die Meinungen der hier befragten Arbeiter, ob sie das gut finden, sind vage. Weiter geht es im Milieu der Industriellenfamilie, eine luxuriöse Villa in Mailand. Der Vater, der Besitzer und Leiter der Fabrik, hat sich längst von seiner schönen, sich im Luxus langweilenden Frau entfremdet, auch der jugendliche Sohn und die halbwüchsige Tochter sowie ein Dienstmädchen leben in ihren Routinen dahin. Diese Welt und das Leben eines jeden in dem Haus gerät aus den Fugen, als ein junger Mann aufgenommen wird, der sich als verkörperter Eros erweist, ein Gott in der Gestalt eines jungen Mannes. Er trifft bei allen auf ein nicht gestilltes Bedürfnis nach Liebe und Erotik, das er erfüllt, bevor er sich wieder verabschiedet. Alle geraten in einen mehr oder weniger irren Zustand. So sieht man den Vater auf dem Mailänder Bahnhof sich splitternackt ausziehen und später laut schreiend durch die Wüste irren. Die Mutter fährt mit ihrem Auto durch Mailand und sucht sich junge Liebhaber. Die Tochter kommt in die Psychiatrie, der Sohn wird zu einem besessenen Maler, das Dienstmädchen zur Dorfheiligen, die Wunder bewirkt. Eine verstörende Geschichte, symbolisch sehr aufgeladen. Ihre Aussage: Der Eros ist eine eruptive Kraft, die bürgerliche Konventionen sprengt, also alles andere als ein x-beliebiges Konsumgut. Es geht um viel mehr, letztlich um ein anderes Leben, um individuelle Entfaltung, die durch die herrschenden Eigentumsverhältnisse und bürgerliche Lebensformen nicht total eingeschränkt oder sogar verunmöglicht wird.

Ein befreiter Eros ist nach Pasolini ein Zukunftsprojekt. Die zeitgenössische Form von sexueller Toleranz sieht er als »Toleranz der Herrschaft des Konsums«. Er warnt davor, dass sie »Zeiten einer Intoleranz und eines Rassismus ankündigt, wie sie nicht einmal in der Hitler-Zeit bestanden (auch wenn das vielleicht nicht ganz so schauerliche Formen annehmen wird). Und warum? Weil die wahre Toleranz (die sich das neue Modell von Herrschaft nur scheinbar zu eigen macht) ein gesellschaftliches Privileg der gebildeten Eliten ist; während die ›Volksmassen‹ sich heute einer widerlichen Parodie von Toleranz erfreuen dürfen, die sie in Wirklichkeit in fast schon neurotische Formen von Intoleranz und Faschismus treibt (was einmal typisch für das Kleinbürgertum war).« (Die Homosexuellen, in: »Freibeuterschriften« 1975, S. 118) Eine erschreckende Entwicklung, die Pasolini kommen sieht. Ob völlig überzogen oder eher hellsichtig, darüber lässt sich streiten. Fakt ist: Gerade Fragen der Sexualität werden von den Rechten instrumentalisiert, wie Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs oder Gleichstellung bezogen auf sexuelle Orientierung. Intoleranz und Rassismus sind Phänomene, die sich aktuell verstärken, wie der Vormarsch der Rechten in vielen europäischen Ländern sowie in den USA vor Augen führt. Die Rechten beschwören die Rettung der westlichen Welt und ihrer heiligen Werte, machen sich die irrationalen Gefühle und Stimmungen zunutze wie auch, dass sich Menschen besonders in Krisenzeiten bedroht fühlen und dass die große Mehrheit von einem selbstbestimmten, freizügigen Leben weit entfernt ist.

Absage an bürgerliche Bildung und Kultur – für eine Pädagogik der Befreiung

Pasolins pädagogische Ausführungen haben zwei Quellen: Zum einen war er kurze Zeit und mit großem Enthusiasmus als Lehrer tätig, zum anderen hat er sich im Verlauf der 1950er und 60er Jahre sehr gründlich mit der Situation der Jugendlichen aus der unteren Schicht in den Elendsvierteln am Rande von Rom befasst (»Ragazzi di vita« 1955, »Una vita violenta« 1959) und Filme (»Accatone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß« 1961) darüber gedreht. Das bürgerliche Milieu und seine Sprösslinge waren ihm, der sich gegen elitäres Denken, gegen eine verlogene bürgerliche Moral wehren musste und sich ausgegrenzt fühlte, ausgesprochen zuwider. Nach seiner Entlassung als Lehrer im Friaul lebte er einige Jahre sehr ärmlich in einem der römischen subproletarischen Viertel, die es heute so nicht mehr gibt. Diese Zeit bewertete er für sich als Schule des Lebens.

Die damalige Verfassung der italienische Schule wurde von ihm scharf kritisiert. Sie deformiere seines Erachtens die Kinder, bringe ihnen Unterordnung, Autoritätshörigkeit, Halbwissen bei. Das gipfelte in der Forderung, nach den ersten fünf Jahren die Schule zu beenden. Das ist meines Erachtens als zugespitzte Polemik zu betrachten. Pasolini hat zu Recht auf die Unzulänglichkeit des Lernens in der traditionell geprägten Schule hingewiesen. Seine pädagogischen Vorstellungen legte er in einem fiktiven Gespräch mit einem Schüler dar – unter dem Titel »Gennariello« in den »Lutherbriefen« (1976). Begonnen wurde dieser Text während Pasolini seinen letzten Film »Salo« drehte, der auf krasse Art und Weise Unmenschlichkeit thematisiert und einen fragen lässt, welche zivilisatorische Arbeit noch aussteht, um einer solchen Grausamkeit den nährenden Boden zu entziehen. Pasolini weist seinen jungen Gesprächspartner darauf hin, wie radikal sich die Welt geändert hat und weiter ändert. Und dass sie, die Jungen, am meisten von den Dingen lernen, von der Welt, wie sie ist. Lernen als umfassendes Verstehen der Welt. Pasolini relativiert die Belehrung durch die Älteren, durch die Lehrer, und verweist auf den Einfluss der Gleichaltrigen, das Lernen miteinander und voneinander, im Guten wie im Schlechten. Er ermuntert zu Selbstvertrauen, Lebensmut, kultureller Aneignung der Welt, Entwicklung der Sinne als körperlicher und geistiger Prozess. Pasolini wendet sich gegen Halbbildung und spricht von einem intensiven Studium, Vertiefen in Literatur und kulturelle Praxis (Musik, Sport, Theater). Von dem geplanten Text wurde nur ein kleiner Teil geschrieben, der Tod Pasolinis setzte ihm ein Ende. Pasolini vertritt bei allem, was die Reform der Institution Schule anbelangt, einen tiefen Pessimismus, der auch andere Institutionen betrifft wie das Fernsehen, dessen Abschaffung er propagiert, ob ernst gemeint, sei dahingestellt. Pasolini sieht das Fernsehen ausschließlich als Volksverdummung. Natürlich war und ist das Fernsehen – erst recht seit dem Berlusconi-Regiment in Italien – kritikwürdig. Dennoch ist aus heutiger Sicht eine Abschaffung eine abstruse Forderung und alles andere als eine hegemoniefördernde Position, leben wir doch in einer Epoche, in der die Medien immer mehr im Alltag der Menschen präsent sind.

Die Hinwendung zu den Ländern der Dritten Welt

Der afrikanische Süden beginnt für Pasolini schon südlich von Rom, im armen Italien. Er unternahm viele Reisen in afrikanische und asiatische Länder, nach Indien, Kenia, Äthiopien, Eritrea, Nigeria, Tansania, Persien, Jemen, Nepal, oft für Filmaufnahmen. Die Begegnung mit ursprünglichen Lebensformen faszinierten und begeisterten ihn, was aber nach und nach der Ernüchterung wich. In seinen Texten über diese Reisen und Orte kommt er immer wieder auf ähnliche Verhältnisse im südlichen Italien zurück. Pasolini macht die für ihn so schmerzliche Erfahrung, dass seine Hoffnungen auf einen anderen Entwicklungsweg für die Länder der Dritten Welt sich als Illusion erweisen. So stellt er in einem 1969 veröffentlichten Text über die Ermordung des kenianischen Politikers und Gewerkschaftsführers Tom Mboya Folgendes fest: »Alle Befreiungskriege haben dieses traurige Ende. An welches Land ich auch denke, ich sehe auf der ganzen Welt ein entsetzliches Panorama aus Befreiungskriegen, die in Enttäuschung und Restauration mündeten. Das wird auch in Vietnam geschehen – wie anders wäre es vorstellbar? Welchen Sinn hat es also zu leben, wenn nicht in verzweifelter oder meinetwegen bornierter Treue zu der ersten, rohen Idee der Freiheit, die uns als junge Menschen zum Handeln treibt?« (Die andere, die tödliche Freiheit, in:»Afrika, letzte Hoffnung« 2011, S. 116)

Das Ende des Projekts sowjetischer Sozialismus hat Pasolini nicht mehr erlebt, dafür aber den tragischen Verlauf einiger Befreiungskämpfe in der Dritten Welt. Für ihn erweist sich die Geschichte als eine Folge von Gemetzel, Niederlagen und gescheiterter Hoffnungen, so wie es Walter Benjamin in seinem Gleichnis vom Engel der Geschichte ausdrückt, der sein Antlitz der Vergangenheit zugewendet hat und eine einzige Katastrophe sieht, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Auf diese Ähnlichkeit zwischen Benjamin und Pasolini weist Mauro Ponzi hin, in seinem sehr lesenswerten Text »Pier Paolo Pasolini. Rainer Werner Fassbinder« (1996, S. 86ff.), der sich ansonsten auf die beiden Filmemacher bezieht und Walter Benjamin nur am Rande erwähnt. Interessant ist sein Hinweis, dass sowohl Benjamin wie auch Pasolini mithilfe von mythischen Bildern eine künstlerische Sprache entwickeln, die »einen Schock auf das Publikum bewirkt« und damit anregt, über die eigene Lage nachzudenken. Zitiert wird ein Gedicht Pasolinis aus dem Band »Ali mit den blauen Augen« (1965), das Sartre gewidmet ist und in dem er die Vision der massenhaften Flucht der Menschen aus Afrika beschwört. In Pasolinis Vision kommen die Flüchtlinge in ein Italien und daüber hinaus in ein Europa, wo sie missliebige Fremde sind. Diese Vision ist heute Wirklichkeit geworden und hat bereits Tausende von Leben gekostet, eine Tragödie sondergleichen, ein barbarisches Bild unserer Zeit. Die mahnende Stimme Pasolinis verdient gehört zu werden.


Ausgewählte Literatur

Pasolini, Pier Paolo (1957): Gramsci’s Asche, München 1984
Pasolini, Pier Paolo (1962): Der Traum von einer Sache, Berlin 1968
Pasolini, Pier Paolo (1965): Ali mit den blauen Augen, München 1990
Pasolini, Pier Paolo (1975): Freibeuterschriften. Aufsätze und Polemiken über die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, Berlin 1979
Pasolini, Pier Paolo (1976): Lutherbriefe. Aufsätze – Kritiken – Polemiken, Wien/Berlin 1983
Pasolini, Pier Paolo (postum 1992): Petrolio (Romanfragment), Berlin 1994
Pasolini, Pier Paolo (2011): Afrika, letzte Hoffnung, hrsg. von Peter Kammerer, Hamburg
Pasolini, Pier Paolo (2012): My cinema, Hrsg. Cineteca di bologna and Luce cinecitt
Pasolini-Roma (2014), Ausstellungskatalog, Hrsg. Berliner Festspiele
Ponzi, Mauro (1996): Pier Paolo Pasolini. Rainer Maria Fassbinder, Hamburg

Stephanie Odenwald, Berlin, war Mitglied im Bundesvorstand der GEW.

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