1. Juli 2009 Bernd Riexinger
Perspektiven des Protestes
Am 28.3.2009 mobilisierte ein mehrheitlich links und antikapitalistisch orientiertes Bündnis 55.000 Menschen auf zwei bundesweite Demonstrationen in Berlin und Frankfurt unter dem Motto "Wir zahlen nicht für eure Krise". Am 16.5. brachte der DGB auf einer ebenfalls bundesweiten Demonstration immerhin 100.000 Menschen auf die Straße und strafte damit die aus den eigenen Reihen kommende Behauptung Lüge, man könne innerhalb von sechs Wochen nicht zwei Demonstrationen organisieren.
Das wird auch der Fall sein, wenn die IG Metall am 5. September eine Großveranstaltung in der Commerzbank-Arena in Frankfurt/Main und ver.di am 12. September einen bundesweiten Aktionstag zum gesetzlichen Mindestlohn durchführt. Aber von diesen Ereignissen abgesehen, ist zur Zeit wenig zu hören, wie denn die Proteste weitergehen sollen und welche politische Perspektive diese bekommen sollen. Besteht gar die Gefahr, dass die Großdemonstration in Berlin bereits wieder den Abgesang der gewerkschaftlichen Proteste markierte, ähnlich wie 2004 nach den Großdemonstrationen am 3. April gegen die Agenda 2010?
Das wäre fatal, denn die eigentliche Rechnung für die Finanz- und Wirtschaftskrise wird sowohl der Mehrheit der Bevölkerung als auch den Gewerkschaften unmittelbar nach den Bundestagswahlen präsentiert werden. Der Vorschlag des DIW-Präsidenten Klaus Zimmermann, die Mehrwertsteuer auf 25% zu erhöhen, oder die Debatte auf dem Ärztetag zur Amputation des gesetzlichen Gesundheitssystems bilden lediglich die Vorboten dessen, was uns erwartet. Die bevorstehenden Verteilungsauseinandersetzungen werden auch vor den Löhnen und Arbeitsbedingungen nicht halt machen. Die Gewerkschaften müssen sich heute schon auf diese Auseinandersetzungen vorbereiten, wenn sie nicht erneut in die Defensive geraten wollen. Dabei geht es sowohl um die inhaltlichen Perspektiven als auch um die Erweiterung der gewerkschaftlichen Kampfformen. Zu beidem sollen nachfolgend konkrete Vorschläge gemacht werden. Zuvor soll jedoch vor einigen gefährlichen Mythen und Fehleinschätzungen gewarnt werden.
Es gibt keine gemeinsamen Interessen, aus der Krise herauszukommen
War zu Beginn der Finanzkrise die wirtschaftliche und politische Klasse noch geschockt über den drohenden Zusammenbruch des gesamten Finanzsystems und die Blamage des neoliberalen Politikmodells, so ist diese kurze Phase bereits wieder Geschichte und die Brandstifter betätigen sich ungeniert und ungestört als Feuerlöscher. Es belegt, wie überrascht und z.T. sprachlos die Gewerkschaften waren, dass sie diese kurze Phase nicht für eine sofortige Kampagne gegen die vorherrschende Politik und zumindest den finanzgesteuerten Kapitalismus und seine wichtigsten Repräsentanten genutzt haben. Die gleichen Akteure, die der neoliberalen Doktrin der Deregulierung jahrelang gefolgt sind, werden jetzt nicht müde, die Bedeutung des Staates bei der Krisenbewältigung zu betonen. Nachdem sie tatkräftig dabei mitgeholfen haben, dass im wirtschaftlichen Aufschwung zugunsten des Kapitals umverteilt wurde, werden sie jetzt in der Krise unter veränderten ideologischen Vorzeichen ebenso tatkräftig mithelfen, dass die Lasten auf die Mehrheit der Bevölkerung abgewälzt werden.
Das ideologische Einfallstor dafür ist die These, dass wir jetzt gemeinsam aus der Krise herauskommen müssen. Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften müssten alle am gleichen Strang ziehen und alles dafür tun, dass die Wirtschaftsmotoren wieder in Gang gesetzt werden. Für diese Art der "Krisenbewältigung" sind die deutschen Gewerkschaften durchaus anfällig, wie die vielfachen Zugeständnisse bei der "Rettung" und "Sanierung" von Betrieben einerseits und die Beteiligung am aktiven Regierungshandeln andererseits belegen. Diese Art von Politik wird jedoch im Ergebnis höchstens dazu führen, dass die sozialen Standards, Löhne- und Arbeitsbedingungen nach der Krise deutlich schlechter als vor der Krise sein werden. Vielmehr müssen die Gewerkschaften im Verlauf des gesamten Krisenprozesses deutlich machen, dass sich ihre Lösungen diametral unterscheiden von denen der Wirtschaft und ihrer politischen Vertreter, und dass sie nur durch politische Mobilisierung durchgesetzt werden können. Nicht durch politische Anschlussfähigkeit an eine wie auch immer zusammengesetzte Bundesregierung nach dem 27. September.
Die Krise ist kein vorübergehender Betriebsunfall
Genau so wenig wie die Apologeten der neoliberalen Wirtschaftspolitik und die berufsmäßigen Ideologieproduzenten in der Lage waren, das Heraufziehen der Krise zu erkennen, so wenig dürfen wir ihrem berufsmäßigen Optimismus vertrauen, der jedes kleinste Anzeichen der wirtschaftlichen Besserung in einen bevorstehenden wirtschaftlichen Aufschwung umdeutet. Die Gewerkschaften sind gut beraten, wenn sie sich auf einen längeren Krisenprozess einstellen. Wir erleben gerade die größte Finanz- und Wirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte, die nicht durch ein paar Konjunkturprogramme in einen erneuten Aufschwung münden wird. Viele sprechen zu Recht von einer Systemkrise des Kapitalismus. Die klassischen "Lösungsmechanismen" im Kapitalismus sind einerseits Vernichtung des überakkumulierten Kapitals, andererseits Erhöhung der Mehrwertrate durch Senkung der Löhne und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, um so ein neues Akkumulationsmodell hervorzubringen. Dieser Prozess verläuft in der Regel selbst krisenhaft. Die Opfer auf Seiten der Beschäftigten, Erwerbslosen, Rentner/innen und ihren Familien werden umso größer, je geringer die Bereitschaft der Gewerkschaften zur Gegenwehr ausgeprägt ist und je weniger sie im Bündnis mit den linken Kräfte und sozialen Bewegungen in der Lage sind, einen alternativen Gegenentwurf hervorzubringen und gesellschaftlich durchzusetzen. Diese Aufgabe ist umso drängender, je mehr sich die Finanz- und Wirtschaftskrise mit der nicht mehr zu leugnenden Klima- und weltweiten Hungerkrise verschränkt. Ein "weiter so" des bestehenden Produktions- und Lebensmodells würde die längst überhandnehmenden Destruktivkräfte des Kapitalismus nur noch mehr verstärken.
Die veränderte Rolle des Staates stärkt nicht den Einfluss der Gewerkschaften
Es wäre eine große Illusion zu meinen, dass die neoliberale Politik der vergangenen Jahre durch eine für die Gewerkschaften freundlichere staatliche Interventionspolitik abgelöst würde. Die Sozialisierung der Verluste ist weder Sozialismus noch eine soziale Variante des Kapitalismus. Die Art und Weise, wie das Finanz- und Bankensystem staatlich gestützt und deren Risiken auf die Bürger/innen abgewälzt wird, ist nicht nur die teuerste Variante, sondern auch diejenige, die die bestehenden Strukturen nur leicht modifiziert sichern soll. Die Kräfteverhältnisse haben sich nicht zugunsten der Gewerkschaften verändert. Weil sich alle politischen Parteien, ausgenommen die LINKE, mehr oder weniger einig sind, die Reichen, Vermögenden und Kapitalbesitzer nicht zu belasten, werden die Staatsfinanzen durch die zunehmende Verschuldung und das Wegbrechen der Steuereinnahmen gewaltig unter Druck kommen. Schon heute setzen viele Kämmerer angesichts des zu erwartenden Einbruches bei der Gewerbesteuer den Rotstift an die städtischen Haushalte. Die öffentliche Daseinsvorsorge und die öffentlich Beschäftigten werden dies im Herbst zu spüren bekommen. Deshalb ist es nicht hoch genug einzuschätzen, dass ver.di trotz Krise einen Konflikt für bessere Bezahlung und Gesundheitsschutz der Beschäftigten in den Sozial- und Erziehungsdiensten führt und Streiks organisiert, um diese Forderungen durchzusetzen.
Insgesamt müssen die Gewerkschaften den Staat als umkämpftes Feld begreifen, auf dem sie nur Terrain gewinnen können, wenn sie die Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten verändern. Das bedeutet in erster Linie, das politische Mandat offensiv wahrzunehmen und massiven Druck auf die politischen Kräfte auszuüben. Die Option des politischen Streikes darf nicht länger ein Tabu sein.
Retten, was zu retten ist, ersetzt keine politische Perspektive
Vom IG Metall-Vorsitzenden Berthold Huber stammt der Satz: "Die Macht der IG Metall liegt in den Betrieben, nicht auf der Straße." Linke Gewerkschafter haben diesen Satz etwas umgewandelt in: "Die Macht der Gewerkschaften liegt in den Betrieben und auf der Straße." Es soll an dieser Stelle nicht angezweifelt werden, dass sich die Stärke der Gewerkschaften in allererster Linie in den Betrieben definiert. Es wäre sogar zu wünschen, dass der betriebliche Widerstand gegen Arbeitsplatzabbau, Kürzung von Löhnen und Sozialleistungen, Betriebsverlagerungen u.v.a. an Fahrt, Radikalität und Dynamik zunimmt. Unter dem Druck von Standortschließungen und Massenentlassungen greift jedoch Konzessionspolitik um sich. Unter dem Motto "Retten, was zu retten ist" werden alle möglichen Zugeständnisse gemacht, um Entlassungen zu verhindern oder zumindest zu begrenzen. Das ist verständlich, doch in der Gesamtschau wird das nur zu einem neuen Wettlauf nach unten führen. Unter den Bedingungen der Krise sind gerade den rein betrieblichen Handlungsmöglichkeiten enge Grenzen gesetzt. Die Stärke in den Betrieben kommt in erster Linie dann zur Entfaltung, wenn die betrieblichen und tariflichen Auseinandersetzungen mit den politischen Forderungen und Perspektiven verschränkt werden. Dabei gilt es, die Mobilisierung in den Betrieben und auf der Straße zu verstärken.
Perspektiven für die Gewerkschaften
Kapitalismuskritische Erklärungen der Krise drängen die Gewerkschaften nicht in die Rolle von Sektierern und Revolutionsromantikern. Eine grundlegende Kritik an der Logik von Profitwirtschaft, Konkurrenz, freien Märkten und der Unterordnung der Menschen unter die Zwänge der Kapitalverwertung würde den gewerkschaftlichen Positionen eine größere Schlagkraft verleihen. Zumindest eine fundierte Kritik am finanzgesteuerten Kapitalismus können wir von den Gewerkschaften erwarten, ohne dass dabei die Illusion genährt wird, dass die so genannte Soziale Marktwirtschaft (als Gegenentwurf zum Sozialismus) wieder auferstehen wird.
Wenn wir von den Gewerkschaften in ihrem derzeitigen Zustand also nicht erwarten können, dass sie sich an die Spitze einer sozialistischen Bewegung setzen, die aktuell auch nicht in Sicht sein dürfte, so werden sie dennoch nicht auf einen überzeugenden Gegenentwurf zum Modell des finanzgesteuerten Kapitalismus verzichten können. Das Ziel eines Systemwechsels oder – um mit Elmar Altvater zu sprechen – "eines Modellwechsels" ist unausweichlich, wenn die Gewerkschaften ihre Bedeutung als gesellschaftlich ernstzunehmende Kraft nicht verlieren wollen.
Aus heutiger Sicht müsste sich ein solcher Gegenentwurf an folgenden Grundlinien orientieren:
1. Massive Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten – Reiche, Vermögende und Kapitalbesitzer müssen zahlen.
2. Zurückdrängen von Markt und Wettbewerb durch Ausbau des öffentlichen und gemeinwohlorientierten Sektors.
3. Schutzschirm für die Menschen.
4. Regulierung und Verstaatlichung des Finanzsektors.
5. Vergesellschaftungsprozess vorantreiben – Wirtschaft und Gesellschaft demokratisieren.
6. Ressourcensparende und ökologische Wirtschafts- und Lebensweise aufbauen.
7. International soziale, demokratische und ökologische Standards durchsetzen.
Umverteilung von oben nach unten
Zwischen den meisten linken Ökonomen besteht Einigkeit, dass die massive Umverteilung von den Löhnen zu den Gewinnen und die entsprechende staatliche Umverteilung eine Ursache der gigantischen Ausdehnung und "Verselbständigung" der Finanzmärkte ist. Nach Berechnungen der Wirtschaftsabteilung von ver.di beträgt diese in den letzten zehn Jahren jeweils 500 Mrd. Euro. In Deutschland ist nicht nur die Lohnquote stetig gesunken, die Reallöhne sind ebenfalls ins Minus gefallen. Besonders deutlich macht sich das bei den unteren Lohngruppen bemerkbar. Für die Rückumverteilung von oben nach unten gibt es relativ präzise Vorstellungen, wie die Einführung einer Millionärssteuer, die nachhaltige Besteuerung großer Vermögen, die Erhöhung des Spitzensteuersatzes oder die Erhöhung der Erbschaftssteuer. Die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn soll eine untere Grenze für die Löhne einziehen. Die Höhe von 7,50 Euro, die bereits seit sieben Jahren unverändert gefordert wird, müsste in Richtung 10 Euro erhöht werden. Damit könnte diese Forderung zusätzlichen Drive bekommen, weil deutlich mehr Beschäftigte davon profitieren würden.
Die gewaltigen Umverteilungsprozesse – verstärkt und begünstigt durch die neoliberale Politik der letzten 20 Jahre – haben die Gewerkschaften gewaltig in die Defensive gebracht. Ohne eine Rückumverteilung gibt es keine Spielräume für linke Reformprojekte. Im Gegenteil, spätestens nach der Bundestagswahl wird in jeder zu erwartenden politischen Konstellation den Beschäftigten, Erwerbslosen und Rentnern die Zeche präsentiert werden. Entscheidend ist, dass die Gewerkschaften den stattfindenden Verteilungskampf mit offensiven Forderungen und einer gut vorbereiteten Kampagne führen. Er wird eindeutig auf dem Feld der außerparlamentarischen Aktivitäten geführt werden müssen, und zwar in der Verbindung von Tarif- und politischen Auseinandersetzungen.
Ausbau des öffentlichen und gemeinwohlorientierten Sektors
Ein wesentliches Element der neoliberalen Politik war und ist die Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen. Bereits in den 1990er Jahren wurden die Energieversorgung, Post und Telekommunikation privatisiert. Durch die politisch gewollte Finanzmisere der Kommunen verkauften viele Städte und Gemeinden ihre Krankenhäuser, Stadtwerke, privatisierten die Müllabfuhr oder die Wasserversorgung. Mittlerweile haben nahezu alle erkannt, dass Privatisierung nicht zur Wohlstandsvermehrung der breiten Bevölkerung beigetragen hat. Die These, dass Markt und Wettbewerb der öffentlichen Steuerung überlegen sind, hat sich vor der Wirklichkeit mehr als blamiert. Die Re-Kommunalisierung bereits privatisierter Bereiche und der massive Ausbau des öffentlichen und gemeinwohlorientierten Sektors könnte eines der wichtigsten Zukunftsprojekte der Gewerkschaften, insbesondere von ver.di und GEW sein, das sowohl die Beschäftigten im öffentlichen Sektor, als auch die betroffenen Einwohner/innen mobilisieren kann.
Die Forderung nach Ausbau des öffentlichen Sektors paart sich auch mit der Misere im Bildungssystem, den Defiziten in der Gesundheitsversorgung und der Notwendigkeit einer verstärkt ökologischen Orientierung. Die beeindruckenden Bildungsstreiks, die z.B. in Stuttgart gemeinsam mit Erzieher/innen organisiert wurden, geben eine Vorahnung, welche gesellschaftlichen Bündnisse die Gewerkschaften auf diesem Feld schließen können. Außerdem brechen Monat für Monat Teile der industriellen Produktion zusammen. Der öffentliche Sektor könnte dies ganz oder teilweise auffangen. Alle Vergleiche zeigen, dass Deutschland im Vergleich z.B. zu den nordischen Ländern gerade mal über die Hälfte an öffentlich Beschäftigten, umgerechnet auf 1.000 Einwohner, verfügt. Der Ausbau öffentlicher Beschäftigung, verbunden mit der Forderung nach einem grundlegend anderen und besseren Bildungssystem, dem Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge und ökologischem Umbau, wäre ein wichtiger Baustein in Richtung bedarfsorientierte Wirtschaft. Voraussetzung ist, dass die Markt- und Wettbewerbsorientierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, die durchaus auch die ÖTV und Teile von ver.di mitgemacht haben und vielleicht immer noch mitmachen, kritisiert und zurückgedrängt wird. Außerdem muss der öffentliche und gemeinwohlorientierte Sektor finanziell deutlich besser ausgestattet werden. Insofern verbindet sich diese Position mit der Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Sinnvoll ist es, dieses Projekt mit Konzepten höherer Bürger/innendemokratie zu verknüpfen (Bürgerentscheide, Bürgerhaushalte usw.).
Der Kampf gegen Privatisierung, für Re-Kommunalisierung und Ausbau des öffentlichen Sektors ist durchaus als europäisches oder gar internationales Projekt der Gewerkschaften geeignet, gehört die Liberalisierung und Wettbewerbsorientierung doch geradezu zum Credo der vorherrschenden Politik der EU.
Schutzschirm für die Menschen
Belegschaften, die ganz konkret gegen Entlassungen oder Betriebsschließungen kämpfen, fordern in aller Regel statt eines Schutzschirms für die Banken einen für die Menschen oder zumindest für die Arbeitsplätze. Einmal davon abgesehen, dass der Kapitalismus einen solchen Schutzschirm nicht bieten kann, steckt dahinter die richtige Erkenntnis, dass der Staat, der hunderte von Milliarden für das marode Finanzsystem zur Verfügung stellt, sich nicht blind gegen die Vernichtung von Arbeitsplätzen und damit der Existenz von zigtausenden von Menschen zeigen darf. Zwar kippt dieses Verständnis gerade um, wie wir im Fall Arcandor sehen können, was aber damit zu tun hat, dass das staatliche Handeln, beschränkt auf die Feuerwehrrolle zur Unternehmensrettung, kein überzeugendes Konzept darstellt.
Die klassische "Lösung" von Krisen im Kapitalismus geschieht durch die massenhafte Vernichtung von Kapital, sprich Standortschließungen, Insolvenzen, Teilbetriebsschließungen oder Auslagerungen usw., damit der überlebende Rest wieder akkumulieren kann. Die aufgebaute Überproduktion von Autos, Verkaufsfläche usw. wird so auf die inhumanste Art und Weise abgebaut, indem zahlreiche Arbeitsplätze vernichtet und damit Millionen von Menschen die Existenzgrundlage entzogen werden.
Überkapazitäten können aber auch durch radikale Arbeitszeitverkürzung abgebaut werden. Gerade in der Krise erweist es sich als Fehler, dass die Gewerkschaften das gesellschaftliche Projekt der Arbeitszeitverkürzung aufgegeben und relativ unkritisch zugelassen haben, dass die Arbeitszeit verlängert, entgrenzt und dereguliert wurde. Die von linken Gruppen relativ schematische Forderung nach der 30 Stunden-Woche bei vollem Lohn- und Personalausgleich hat jedoch kaum eine Chance, aufgegriffen zu werden, weil sie den ums Überleben kämpfenden Betrieben eine solche hohe Kostenbelastung aufzwingen würde, dass deren Überleben noch mehr in Frage gestellt wird.
Deshalb müssen die Gewerkschaften die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich zu einem gesellschaftlichen Projekt machen. Statt sich auf die Verlängerung von Kurzarbeit zu beschränken, könnte der Staat Arbeitszeitverkürzung finanziell unterstützen, wie das z.B. die Memorandum-Gruppe fordert. Hierzu könnten gesellschaftliche Fonds aufgebaut werden, die insbesondere personalintensiven Betrieben Zuschüsse für Arbeitszeitverkürzung gewähren, mit Geldern, die von kapitalintensiven und hoch profitablen Konzernen geholt werden. Diese gesellschaftliche Arbeitszeitverkürzung müsste mit dem Schutz vor Entlassungen oder zumindest deren erhebliche Erschwernis verbunden werden. Wenn die Gewerkschaften bei der Arbeitszeit wieder in die Offensive kommen wollen, müssen sie die Arbeitszeitverkürzung zu einem gesellschaftlichen Projekt machen, das politisch durchgesetzt werden muss. Einen Anfang könnte ver.di beim öffentlichen Dienst in der im Januar kommenden Jahres beginnenden Tarifrunde machen. Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst wäre nicht nur eine Tarifforderung, sondern eine politische Auseinandersetzung um die zukünftige Gestaltung der Arbeitszeit. Zur Arbeitszeitpolitik zählt auch die Forderung nach Abschaffung der Rente mit 67, verbunden mit der finanziellen Aufstockung der Renten.
Zum Schutzschirm für die Menschen gehören natürlich auch Forderungen wie die Abschaffung der Hartz-Gesetze und die Aufstockung von ALG II auf 500 Euro sowie die Abschaffung der heute damit verbundenen Repressionen, die erhebliche Begrenzung der Leiharbeit, die Abschaffung prekärer Arbeitsverhältnisse und die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Die Agenda 2010 muss rückgängig gemacht und durch ein neues existenzsicherndes System der sozialen Grundversorgung abgelöst werden.
Banken vergesellschaften und Regulierung des Finanzsektors
Die Kontrolle der Banken ist nicht oder nur begrenzt möglich, wenn sie nicht tatsächlich vergesellschaftet und in öffentliches Eigentum überführt werden. Dass dies nicht einmal bei den Banken passiert, die mit staatlichen Bürgschaften und Krediten vor dem Zusammenbruch bewahrt bleiben (z.B. Commerzbank), verdeutlicht, dass der herrschende Block nicht daran denkt, in diese Richtung zu gehen. Es wird allerhöchstens etwas mehr Aufsicht und Kontrolle geben, um der Selbstvernichtung des Finanzsystems entgegenzuwirken. So geht die Gründung einer so genannte Bad-Bank fast ohne großen gesellschaftlichen Widerstand über die Bühne. So werden bereits wieder die Grundlagen für die nächste Krise geschaffen, während die aktuelle noch längst nicht überwunden ist.
Wirtschaft und Gesellschaft demokratisieren
Der Vergesellschaftungsprozess der Ökonomie ist soweit vorangeschritten, dass sie nur der massive Eingriff des Staates vor dem Zusammenbruch rettet. Oder um mit Marx zu sprechen: Die weitere Entwicklung der Produktivkräfte gerät in Widerspruch zu den bestehenden Produktionsverhältnissen. Natürlich greifen die politischen Akteure von der CDU bis zur SPD oder den Grünen nur ein, um den Patienten zu retten und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass in den bisherigen Bahnen weitergemacht werden kann. Vielleicht wird der Staat dabei mit einer wieder stärkeren Rolle versehen. Aber auch das ist noch nicht ausgemacht. Der übliche Ausspruch, dass der Staat nicht der bessere Unternehmer ist, drückt aus, dass an eine nachhaltige steuernde Rolle des Staates oder gar an eine Vergesellschaftung wichtiger Schlüsselindustrien nicht gedacht ist.
Gerade das sollten die Gewerkschaften jedoch fordern. In diese Richtung geht z.B. der Vorschlag, Opel zu verstaatlichen und daraus einen umweltfreundlichen Mobilitätskonzern zu machen. Der Prozess der Vergesellschaftung muss verbunden werden mit den Anforderungen, eine stärker bedarfsorientierte, umweltverträgliche und geplante Ökonomie aufzubauen, als Gegenstück zum Modell des marktliberalen finanzmarktgesteuerten Kapitalismus. Ansatzpunkte gibt die permanente Debatte darüber, wo der Staat eingreifen soll und wo nicht. Diese Debatte müsste von den Gewerkschaften in Richtung eines höheren Vergesellschaftungsgrades und mehr wirtschaftliche Demokratie vorangetrieben werden.
Verstaatlichung allein ist sowenig Sozialismus wie die Sozialisierung der Verluste. Die Lenkung der Betriebe durch eine Staatsbürokratie stößt zu Recht bei der Bevölkerung auf großes Misstrauen. Deshalb müssten diese Positionen mit der Forderung nach mehr Demokratie und Mitbestimmung (auf dem Weg zur Selbstbestimmung) verbunden werden. Die Idee der IG Metall-Verwaltungsstelle Esslingen, auf der regionalen Ebene Wirtschafts- und Sozialräte einzurichten, die über die Verwendung der Mittel aus den Konjunkturprogrammen entscheiden, geht in diese Richtung, ebenso die Einführung von Vetorechten der Betriebsräte bei der Verlagerung von Standorten. Natürlich heben solche Forderungen die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktion nicht aus den Angeln, aber sie bieten doch wichtige Ansatzmöglichkeiten, die Interessen der Beschäftigten wirkungsvoller zu vertreten, und gehen grundsätzlich in die Richtung, dass die Produzenten über die Produktion und Verteilung entscheiden sollen.
Ökologische Wirtschafts- und Lebensweise aufbauen
Wie bereits erwähnt verschränkt sich die Finanz- und Wirtschaftskrise mit einer Klima-, Umwelt- und auch Hungerkrise. Zwischenzeitlich müssen eine Milliarde Menschen hungern und gerade in den Hungerregionen dieser Erde ist die ökologische Zerstörung am weitesten vorangeschritten. Eine Fortsetzung unseres ressourcenfressenden und ökologisch belastenden Systems wäre verheerend. Kein Zweifel, es liegt in der Natur des Kapitalismus, die Kosten dieser Produktion auf die Gesellschaft und Natur abzuwälzen.
Eine ressourcenschonende und ökologische Produktions- und Lebensweise ist nur herstellbar, wenn diese Externalisierung gesellschaftlich reglementiert wird und klare Vorgaben gemacht werden. Das bedeutet massiven Eingriff in die Marktmechanismen. Die Gewerkschaften müssen die Debatte über eine zukunftsorientierte ökologische und ressourcenschonende Produktionsweise aufgreifen und dem "weiter so" eine klare Absage erteilen. Es wird ihr Beitrag sein müssen, die soziale und Arbeitsplatzfrage mit der Ökologiefrage zu verbinden.
Internationale Standards durchsetzen
Politisch müssen sich die Gewerkschaften, insbesondere die Industriegewerkschaften, vom Gedanken lösen, dass eine Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen der nationalen Industrie auch den Beschäftigten nützt – unter dem Motto, es ist uns lieber, ein Opel-Werk wird in Belgien geschlossen als in Deutschland. Auf diesem Klavier spielt die Bundesregierung, wenn sie immer davon redet, dass die deutsche Wirtschaft gestärkt aus der Krise herauskommen wird. Auf diesem Wege wird der Druck auf die Löhne, Sozialsysteme und Arbeitsbedingungen nur ständig erhöht. Der Kampf um internationale soziale, demokratische und ökologische Standards ist eine Alternative zu dieser Politik.
Die Internationalisierung der Gewerkschaften wird am besten durch konkrete Projekte und länderübergreifende Organisation der sozialen Kämpfe vorangetrieben. Folgende Projekte wären dafür geeignet:
– Kampf gegen Privatisierung und für den Ausbau des öffentlichen Sektors. Hier könnten die Gewerkschaften ein Gegenmodell zum kapitalistischen Wettbewerbsstaat entwickeln und dafür konkrete gemeinsame Forderungen entwickeln. Die EU wäre dafür ein geeignetes Feld.
– Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung könnte international eine glaubwürdige Gegenposition gegen Standortschließungen und Arbeitsplatzvernichtung aufbauen.
– Ebenso ist die Forderung nach Vergesellschaftung und Regulierung des Finanzsektors eine internationale Angelegenheit, denn dieser Bereich ist sehr stark globalisiert.
Gewerkschaften müssen sich neu aufstellen
Die Gewerkschaften müssen damit rechnen, dass spätestens nach den Bundestagswahlen die Angriffe auf die Tarifverträge und Sozialsysteme zunehmen. Das weitgehend widerstandslose Durchwinken der Schuldenbremse wird die Handlungsmöglichkeiten des Staates weiter einschränken und den Druck auf die Sozialsysteme, aber auch auf die Beschäftigten im öffentlichen Dienst konstant erhöhen. Auf diese Konstellation müssen sich die Gewerkschaften vorbereiten und aus den Niederlagen der letzten 20 Jahre lernen. Das bedeutet, die Gegenwehr in den Betrieben gegen die Angriffe auf die Arbeitsplätze, Tarifverträge und sozialen Standards stärken und auch vor Mitteln wie Betriebsbesetzungen nicht zurückschrecken. Auf regionaler Ebene wird das insbesondere gelingen, wenn die Auseinandersetzungen verstärkt vernetzt und zu Fragen der Region gemacht werden.
Die meisten Forderungen und angedeuteten Perspektiven wenden sich an die Regierungen, haben also politischen Charakter. Die Gewerkschaften brauchen auch ein wirkungsvolles politisches Instrument, um diesen Forderungen Gewicht zu verleihen, sprich ihrem politischen Mandat auch die nötige Durchsetzungskraft zu verleihen. Dazu gehört sicherlich die Politisierung der Gewerkschaftsarbeit in den Betrieben, dazu gehört aber auch der politische Streik. Der Kampf um das politische Streikrecht muss deshalb ein wichtiges Element werden. Immer wieder haben die Gewerkschaften sich dem Verbot des politischen Streiks widersetzt: beim Angriff auf die Tarifautonomie, bei der Rente mit 67 oder auch aktuell in der Verwaltungsstelle Stuttgart beim Schutzschirm für Arbeitsplätze. Es gibt aber keinen organisierten Ansatz, den politischen Streik etappenmäßig vorzubereiten, die verschiedenen Aktionen während der Arbeitszeit aufeinander abzustimmen. Genau das wäre notwendig, um der Aneinanderreihung von Niederlagen nach der Bundestagswahl nicht noch eine weitere hinzuzufügen.
Der politische Wille und die Herausarbeitung eines gemeinsamen politischen Projekts der Gewerkschaften gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen, auf diesem Wege voranzukommen. Wenn sich die Zielrichtung der Gewerkschaften darauf beschränkt, Schwarz/Gelb zu verhindern und auf eine erstarkende SPD in einer Fortsetzung der großen Koalition zu setzen und die Anschlussfähigkeit an die Regierung nicht zu verlieren, ist der gesellschaftliche Bedeutungsverlust vorprogrammiert.
Bernd Riexinger ist Geschäftsführer des ver.di-Bezirks Stuttgart.