27. Juni 2017 Hans-Jürgen Urban: Anmerkungen zu einer gelungenen Debatte

Plädoyer für ein verteilungspolitisches Gesamtkonzept

Chapeau! Die Debatte im Forum Gewerkschaften über die seit dem Ausgang der großen Finanz- und Wirtschaftskrise 2009/2010 in der Europäischen Union praktizierte Economic Governance stellt einen gewerkschaftspolitischen Glücksfall dar.

Dies aus drei Gründen: Sie setzt sich mit zentralen Herausforderungen für Gewerkschaften in der Gegenwart auseinander; sie wurde von vornherein als eine Verständigung zwischen europäischen Akteuren angelegt; und sie arbeitet sich daran ab, miserablen Verhältnissen Alternativen abzuringen.[1]

All das ist nicht selbstverständlich. Gerade in ihr Kernfeld der Tarifpolitik lassen sich Gewerkschaften für gewöhnlich nur ungern hereinreden – schon gar nicht von »außen«, auch wenn es sich um wohlmeinende Interventionen aus Schwesterorganisationen handelt. Und, seien wir ehrlich: Bisher sind Mut und Bereitschaft zu einer offensiven pro-europäischen EU-Kritik, die den Europäischen Integrationsprozess entschieden unterstützt, seine neoliberale Deformation aber konsequent ablehnt, auch in den deutschen Gewerkschaften nicht besonders stark ausgeprägt. Eine Debatte, in der die Politik der Europäischen Union – Kommission, Rat, Ecofin, EZB – kritisch in Augenschein genommen und nicht mit festem Blick auf den nationalen Tellerrand als peripher behandelt wird, würden wir uns häufiger wünschen.[2]

Dieser Mut zu einer proeuropäischen EU-Kritik ist auch in der Tarifpolitik mehr als dringlich. Denn, das haben Thorsten Schulten, Guy Van Gyes und Torsten Müller in ihrem Eröffnungsbeitrag[3] deutlich gemacht: In den Schaltzentralen europäischer Politik wird eine interventionistische Politik betrieben, die die institutionellen Machtressourcen und in der Folge auch die Organisationsmacht der Gewerkschaften untergräbt, in einigen Bereichen auch auszuhebeln trachtet.

Hans-Jürgen Urban ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall.

[1] Gedankt sei an dieser Stelle der Redaktion der Zeitschrift, namentlich Richard Detje, von dem der Impuls zur Debatte ausging und der sie redaktionell hoch professionell begleitet hat.
[2] Eine positive Ausnahme bildete ebenfalls die 2014 in den WSI-Mitteilungen (4/2014, S. 311ff.) geführte Debatte über die Rahmenbedingungen und Perspektiven gewerkschaftlicher Tarifpolitik, an der sich Jörg Hofmann, Thorsten Schulten und Martin Höppner beteiligten. Sie wurde bedauerlicherweise nicht fortgeführt.
[3] Thorsten Schulten/Guy Van Gyes/Thorsten Müller: Europaweite Stärkung der Tarifverträge statt lohnpolitischem Interventionismus, in: Sozialismus 2/2017, S. 39-43. Weiter ausgeführt in: dies. (Hrsg) (2016): Lohnpolitik unter europäischer »Economic Governance«. Alternative Strategien für inklusives Wachstum, Hamburg.

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