1. Februar 2006 Friedrich Steinfeld

Politik im Blindflug

"Wir haben hier die Zukunft für zwei Millionen Arbeitslose konzipiert", sagte Peter Hartz am 16.8.2002 bei einem Foto-Shooting mit dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Evaluierung der Reformpakete Hartz I bis III durch eine Reihe von Forschungsinstituten im Auftrag der Bundesregierung zeigen: Große Teile der Hartz-Reform verfehlen ihr Ziel, die Arbeitslosigkeit zu senken. Einzelne Teile wirken gar kontraproduktiv. Dennoch wird immer wieder versucht – wie derzeit vom ehemaligen rot-grünen "Super"-Minister Clement –, die Entwickling schön zu reden. Friedrich Steinfeld zieht Bilanz.

Nachdem wir das Ziel aus den Augen verloren hatten,
verdoppelten wir unsere Anstrengungen.
(Mark Twain)

Die "Personal-Service-Agenturen" (PSA), von Hartz als das Herzstück seiner Reformen bezeichnet, erwiesen sich als wenig effektiv und zu teuer. Hartz rechnete damit, dass über bei den Arbeitsagenturen angesiedelte Zeitarbeitsfirmen 250.000 Arbeitslose pro Jahr einen neuen Job finden würden. Im vergangenen Jahr traten aber nur rund 26.500 Menschen in die PSA ein, von denen maximal jeder Dritte eine feste Stelle durch den "Klebeeffekt" finden wird. Die PSA verlängerten die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit um einen Monat. Außerdem fielen Mehrkosten von 5.700 Euro pro an die PSA überwiesenen Arbeitslosen an.

Auch die Vermittlungsgutscheine seien kein geeignetes Instrument, um die Integration auf dem Arbeitsmarkt zu fördern. Bereits das "Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung" (IAB) hatte die Ineffizienz dieses Instruments belegt: Im Untersuchungszeitraum bis Ende 2004 führten von den 1,4 Millionen ausgegebenen Gutscheinen nur 102.500 zu einer neuen Beschäftigung für die Betroffenen. Außerdem besteht der begründete Verdacht, dass Vermittler die Erfolgsprämie kassieren, obwohl sich der Arbeitslose selbst einen neuen Job gesucht hat.

Die Mini-Jobs galten lange Zeit als Erfolgsgeschichte, deren Zahl seit der Neuordnung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse rasant angestiegen ist. Ende September 2005 gab es in Deutschland 6,6 Millionen Mini-Jobber. Den Arbeitslosen hat dieser Boom aber kaum etwas gebracht. 400 Euro-Jobs z.B. nützen vor allem Jugendlichen, Hausfrauen oder Erwerbstätigen mit Zusatzverdienst. Außerdem stellte sich heraus, dass Arbeitgeber mehr und mehr Vollzeitstellen spalten und Mini-Jobber darauf setzen.

Die Ich-AG wird dagegen als "erfolgreiches Instrument der Arbeitsmarktpolitik" eingeschätzt. Allerdings sind hierbei die Kosten explodiert, sodass absehbar ist, dass die Förderung der Ich-AG mit dem Überbrückungsgeld zu einer neuen Leistung verschmolzen wird. Das Instrument ist nicht nur wegen seiner aus dem Ruder laufenden Kosten hoch umstritten. Für viele Arbeitslose stellt die Selbstständigkeit nur eine Notlösung dar, es liegt oft kein wirklich tragfähiges Geschäftskonzept vor. Insbesondere das Handwerk klagt über Billigkonkurrenz.

Die BA-Haushalte 2005/2006: Geiz ist geil

Im Zentrum der Bemühungen der Großen Koalition zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit steht die Senkung der Lohnnebenkosten – als eine der vermeintlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit. Diese soll durch die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,5% in 2007 erreicht werden. 1% der Ersparnis soll durch die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer gegenfinanziert werden. Das andere Prozent soll durch weitere Effektivitätssteigerungen und Effizienzgewinne bei der BA beigebracht werden. Die Bundesregierung erwartet daher von der BA, dass sie alles unternimmt, um ihre internen Reformen vollständig und wirksam umzusetzen. Die Mehrbelastungen, die sich aus der Verlängerung des Existenzgründerzuschusses und weiterer gesetzlicher Maßnahmen ergeben, soll die BA auffangen. Der vorgesehene Überschuss des Jahres 2006 soll durch diese Mehrbelastungen nicht geschmälert werden, weil er zur Finanzierung des Beitragsatzes beitragen soll.

Als weiteres Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wird der Umbau und Ausbau des Niedriglohnsektors durch Zusammenfassung der bestehenden Instrumente zu einem "Kombilohn-Modell" gesehen. Dazu soll aber erst eine Arbeitsgruppe der Koalition Vorschläge erarbeiten.

Das Defizit der BA ist schon in 2005 wesentlich geringer ausgefallen als geplant. Mit nur noch 500 Millionen Euro benötigt die BA den geringsten Bundeszuschuss seit der deutschen Vereinigung 1990. Noch 2004 war ein Bundeszuschuss von 4,2 Mrd. Euro erforderlich.

Die größten Einsparungen erzielte die BA u.a. beim Arbeitslosengeld I (Senkung der Zahl der LeistungsempfängerInnen im Jahresdurchschnitt um 100.000), bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik (Rückgang um 2,1 Mrd. E) und beim Aussteuerungsbetrag, den die BA zahlen muss, wenn ein/e ALG I-EmpfängerIn in den ALG II-Bezug rutscht (Rückgang um 2,1 Mrd. E). Der Rückgang beim Aussteuerungsbetrag ist allerdings nicht nur auf höhere Vermittlungszahlen zurückzuführen, sondern schlicht darauf, dass viele ALG I-EmpfängerInnen aufgrund der Bedürftigkeitsprüfung keinen Anspruch mehr auf ALG II haben.

In den Haushaltszahlen sieht der Vorstandsvorsitzende der BA, Weise, einen klaren Beweis "für den Erfolg unserer Reform und eine Bestätigung unseres Kurses". Dieser Erfolg sei um so bemerkenswerter, als die BA 2005 Einnahmeausfälle von rund 1,5 Mrd. Euro zu verkraften hatte, bedingt vor allem durch weiteren Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um 350.000. Diesem Einnahmeausfall steht ein Ausgabenrückgang von insgesamt fast fünf Mrd. Euro gegenüber.

Die BA legt dabei Wert darauf, dass 2005 "keinesfalls auf dem Rücken der arbeitslosen Menschen gespart" worden sei, so BA-Finanzvorstand Becker. Vielmehr sei "mit weniger Geld mehr Menschen wieder zu Arbeit verholfen" worden. Die Zahl der Integrationen in den Arbeitsmarkt sei gegenüber 2004 um 300.000 gestiegen.

Beim BA-Haushalt 2006 soll erstmals wieder ein Überschuss erzielt werden, und zwar in Höhe von 1,8 Mrd. Euro. Diese Rücklage soll den Grundstock für die zum 1.1.2007 geplante Senkung der Beiträge zu Arbeitslosenversicherung bilden. Insgesamt darf die BA nur noch 50,3 Mrd. Euro ausgeben, im vergangenen Jahr waren es noch knapp 58 Mrd. Euro. U.a. für das Arbeitslosengeld I sind gut zwei Mrd. Euro weniger vorgesehen, die aktive Arbeitsmarktpolitik wird um eine weitere Mrd. Euro zurückgeführt. Gleichzeitig wird mit einem Sinken der Einnahmen von 54 auf 52,1 Mrd. Euro gerechnet.

Konkret wird z.B. bei den Behinderten gespart. Die Ausgaben "zur Förderung der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben" sollen um 177 Mio. Euro auf 2,523 Mrd. Euro sinken. Dies wird zum einen durch eine deutliche Verringerung der Anzahl der TeilnehmerInnen an Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation erreicht, indem die Reha-Eigenschaft eines Arbeitslosen noch schärfer als bisher geprüft wird, zum anderen durch Einsparungen bei der Aus- und Weiterbildung von beruflichen Rehabilitanden selbst (Vorrang allgemeiner Förderung vor reha-spezifischer Förderung).

Darüber hinaus sollen die Ausgaben für die Förderung der beruflichen Weiterbildung generell sinken, und zwar um 400 Mio. Euro. "Qualifizierung um ihrer selbst willen", "Weiterbildung auf Vorrat" und "Förderkarrieren" soll es nicht mehr geben.

In Westdeutschland wurden im Zeitraum 1991-2003 durchschnittlich vier Mrd. Euro pro Jahr in die Förderung der beruflichen Weiterbildung investiert. In Ostdeutschland waren es durchschnittlich 3,5 Mrd. Euro. 1998 z.B. wurden mehr als 600.000 TeilnehmerInnen an solchen Maßnahmen gezählt. Im abgelaufenen Jahr 2005 haben insgesamt nur noch 130.400 Menschen eine berufliche Weiterbildung begonnen. Von diesen wurden 68.200 durch die Arbeitsagenturen gefördert, wofür 654 Mio. Euro an Maßnahmekosten aufgewendet wurden. 68.200 Menschen sind durch die Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) zur Betreuung der Arbeitslosengeld II-BezieherInnen gefördert worden. Der Trend bei der Förderung der beruflichen Weiterbildung der ALG I-EmpfängerInnen geht hin zu kurzfristigen, in der Regel drei Monate dauernden Maßnahmen.

Die Messlatte für den Erfolg beruflicher Weiterbildungsmaßnahmen wurde massiv angehoben. Mindestens 70% der TeilnehmerInnen müssen nach der Maßnahme in Arbeit kommen. Hinzu kommt, dass die TeilnehmerInnen im Anschluss an die Maßnahme noch eine gewisse Zeit im Arbeitslosengeld I-Bezug stehen müssen. Ansonsten rutschen Arbeitslose gleich in den ALG II-Bezug und die BA müsste dann zusätzlich den Aussteuerungsbetrag von 10.000 Euro bezahlen. Sie könnte eine erfolgreiche Integration auch nicht mehr in ihrer Vermittlungsstatistik buchen, sie fiele anderen, d.h. entweder einer Arbeitsgemeinschaft oder einer optierenden Kommune, zu. Wie tragfähig ist ein solcher Sparkurs?

Niedrige Qualifikation erhöht Arbeitsmarktrisiko

Die Weiterbildungskurse und Umschulungen hätten die Chancen der Arbeitslosen auf einen neuen Job nicht verbessert, so die Kritik vieler Untersuchungen der letzten Jahre. So sei ein Großteil der ostdeutschen UmschülerInnen in den Bausektor umgeschult worden, der nach der Wende zunächst boomte, anschließend aber kollabierte. Die erworbene berufliche Qualifikation war plötzlich nicht mehr gefragt

Dies spricht aber nicht grundsätzlich gegen eine qualifizierte berufliche Weiterbildung. Der Zusammenbruch der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern kann nicht der BA und ihrer Arbeitsmarktpolitik angelastet werden, sondern ist darauf zurückzuführen, dass durch eine bestimmte Steuerpolitik eine Fehlallokation von Finanzmitteln im Immobiliensektor stattfand, die zu einem Überangebot und in der Folge dann zu einem Crash auf dem Immobilienmarkt und zu Überkapazitäten in der Baubranche führte. Dies zeigt nur, dass die Arbeitmarktpolitik die abhängige Variable ist.

Allerdings kann nicht bestritten werden, dass in der Vergangenheit bei der Förderung der beruflichen Weiterbildung Wirkung und Wirtschaftlichkeit viel zu wenig berücksichtigt worden sind. Der positive "Effekt" für die jeweiligen Regierungen war aber – solange er noch finanzierbar war –, dass die TeilnehmerInnen aus der offiziellen Arbeitslosenstatistik verschwanden (allein 1998: 600.000). Ähnlich wie dies der Fall bei den AB-Maßnahmen war. Viele Arbeitslose wurden in Maßnahmen gedrängt, die kaum einen arbeitsmarktpolitischen Sinn machten, an denen sie aber teilnehmen mussten, um ihrer "Mitwirkungspflicht" nachzukommen.

Unstrittig ist, dass der so genannte Lock-in-Effekt (ein negativer Anfangseffekt ergibt sich dadurch, dass die TeilnehmerInnen nicht in gleichem Maße Arbeit suchen wie NichteilnehmerInnen) schuld daran ist, dass die Förderung der beruflichen Weiterbildung und Umschulung kurzfristig wenig bringt. Denn die positiven Aspekte treten erst nach einiger Zeit auf, da der Negativeffekt zunächst kompensiert werden muss. Auf längere Sicht erzielen vor allem die Umschulungsmaßnahmen der BA ansehnliche Beschäftigungserfolge. Langfristig positive Nettoeffekte können jedoch nur erfasst werden, wenn auch der Beobachtungszeitraum lang genug ist, was aber ein Mangel vieler Studien ist. "Für die öffentliche Diskussion lässt sich festhalten, dass Maßnahmen auch die Chance bekommen sollten, ihre Wirkungen erst einmal zu entfalten. Das ständige Nachbessern oder Herunter- und wieder Herauffahren von Maßnahmen sind dabei nicht hilfreich. Auch wird es dadurch schwierig, genügend Wissen über die Wirkungen von Maßnahmen zu sammeln, was für einen besseren ›Match‹ zwischen Teilnehmern und Maßnahmeinhalten unabdingbar ist." (IAB-FORUM, Ausgabe 2/05, S. 43)

Und grundsätzlich gilt: Mit dem Qualifikationsniveau verbessert sich die Position auf dem Arbeitsmarkt, weitgehend unabhängig von Alter und Geschlecht.

Man muss sich vor Augen halten, dass im Jahr 2004 im Westen jede fünfte und im Osten sogar jede zweite Erwerbsperson ohne Berufsabschluss arbeitslos war. Dahinter steht vor allem ein lang anhaltender Abbau von Einfacharbeitsplätzen, der selbst in Zeiten mit hohem Wirtschaftswachstum bestenfalls gebremst, aber eben nicht aufgehalten werden konnte. Die Entwicklung der qualifikationsspezifischen Arbeitslosigkeit lässt sich, so das IAB, auf eine einfache Faustformel bringen: Niedrige Qualifikation erhöht Arbeitsmarktrisiko (siehe IAB-Kurzbericht Nr. 9/2005). Personen ohne Berufsabschluss haben immer schlechtere Chancen bei der Stellensuche. Bildungsförderung bleibt – langfristig – die beste Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.

Diese Bildungsförderung kann sich aber nicht auf die berufliche Weiterbildung beschränken, sondern muss das System der beruflichen Erstausbildung und das System der schulischen Bildung auf jeden Fall mit einbeziehen. Problematisch ist in diesem Zusammenhang zum einen der erneute Rückgang des Ausbildungsplatzangebotes sowie der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge um 22.800 auf 550.000 (ein Minus von 4%) in 2005, was auch Reflex der unzureichenden Wirtschaftsentwicklung ist. Zum anderen die Tatsache, dass viele Jugendliche nach Abschluss der allgemein bildenden Schule den Anforderungen einer betrieblichen Ausbildung nicht gewachsen sind.

Der jämmerliche Zustand des bundesdeutschen Bildungswesens

Das deutsche Bildungssystem ist nicht effektiv. Das wussten wir bereits durch die PISA-Studien. Es ist zugleich aber auch teuer: In den Schulen und anschließend in den berufsvorbereitenden Maßnahmen der BA werden jährlich Milliarden Euro vergeudet, so das Ergebnis einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft. Allein im Jahre 2004 zielten 3,7 Mrd. Euro in den allgemein bildenden Berufsschulen ins Leere, weil viele Jugendliche den Abschluss nicht schaffen, Schuljahre wiederholen müssen bzw. als nicht ausbildungsfähig eingeschätzt wurden. Der Fehler liege im System, so der Leiter der Studie: "Zwar investieren wir viel und haben einen hohen Leistungsdruck, aber das Ergebnis stimmt nicht." (FR vom 12.1.06) Nach wie vor seien Schulen und LehrerInnen nicht verpflichtet, den Erfolg ihrer pädagogischen Bemühungen nachzuweisen.

Bildungskompetente Elternhäuser kompensieren diese strukturellen pädagogischen Defizite, indem sie in die Nachhilfe ihrer Kinder investieren, und zwar rund 4,6 Mrd. E.

Weitere 3,4 Mrd. Euro wurden aufgewendet, um den jungen Menschen ohne Abschluss durch nachschulische Qualifizierungsmaßnahmen überhaupt ansatzweise eine Chance am Arbeitsmarkt zu verschaffen. So befanden sich in 2004 116,3 Tausend Jugendliche in berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen, 129,7 Tausend in einer Berufsausbildung Benachteiligter. Ohne solche Ergänzungsangebote der BA hätten bildungsarme Jugendliche nur geringe Chancen, eine Berufsausbildung zu absolvieren und eine Arbeit zu finden. Wie die PISA-Studien zeigen, ist Kompetenzarmut nichts "Natürliches", das als selbstverständlich hingenommen werden müsste. Besonders deutlich wird dies z.B. an Ländern wie Finnland, Kanada oder Korea, in denen nur ein geringer Prozentsatz der Schüler unterhalb der ersten Kompetenzstufe bleibt. "Für den gegenwärtigen Umbruch zu ›Fördern und Fordern‹ in der Arbeitsmarktpolitik müssen die eigentlichen Grundlagen in der Bildungs- und Wissenspolitik erst noch gelegt werden... Die Maßnahmen einer präventiven und investiven Sozialpolitik müssen ... also neben der materiellen Absicherung vor allem flankierende Maßnahmen wie Bildung, berufliche Qualifikation, Gesundheitsfürsorge und -vorsorge umfassen. Gelebte Eigenverantwortung setzt vorhandene Kompetenzen ebenso voraus wie die Abwesenheit von Not und psychosozialen Notlagen, die sich aus materieller Not ergeben können." (IAB-Forum, Ausgabe 2/05, S. 7)

Von der Abwesenheit von Not als eine der Voraussetzungen für die Entwicklung von Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit kann mit der Einführung des Arbeitslosengeldes II nun überhaupt keine Rede sein.

Hartz IV: der nächste Flop?

Fast sieben Millionen Deutsche haben im Juli 2005 ALG II bekommen. Damit waren 9,1% aller Erwerbsfähigen und 14,6% aller Kinder unter 15 Jahren auf die staatliche Grundsicherung angewiesen, so das Ergebnis eines Zwischenberichtes der BA zur Hartz IV-Reform.

In Ostdeutschland ist der Anteil der ALG II-EmpfängerInnen mit 15,6% mehr als doppelt so groß wie in Westdeutschland. Die niedrigste Quote verzeichnet der Landkreis Freising mit 1,7%, die höchste der ostdeutsche Landkreis Uecker-Randow mit 23,6%.

Das Reformpaket Hartz IV – die Zusammenlegung der lohnabhängigen, vom Bund gezahlten Arbeitslosenhilfe und der bedarfsorientierten, von den Kommunen finanzierten Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II – war nicht Gegenstand der o.g. wissenschaftlichen Evaluierung der Hartzreformen. Wie lässt sich aber die bisherige Entwicklung einschätzen?

Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu dem neuen Arbeitslosengeld II wird für den Bund ein Fass ohne Boden. Während der frühere Finanzminister Eichel (SPD) für 2005 nur 14 Mrd. Euro in seinen Etat eingestellt hatte, ist dieser Betrag auf ca. 25,6 Mrd. angewachsen. Insgesamt gab es im Juli 2005 3,78 Millionen so genannte Bedarfsgemeinschaften, gut eine Million mehr als die rot-grüne Regierung vor Beginn der Reform kalkuliert hatte. Wegen der großzügigen Definition der Erwerbsfähigkeit (Arbeitsfähigkeit von drei Stunden täglich) haben die Kommunen nahezu ihre gesamte Klientel ehemaliger Sozialhilfeempfänger an die Institutionen überstellt, die seit Anfang des Jahres für die Auszahlung des ALG II-Bezuges und die Arbeitsvermittlung der EmpfängerInnen dieser Leistung zuständig sind. Das sind, so der Kompromiss zwischen Rot-Grün und CDU/CSU 2004, 370 Arbeitsgemeinschaften (ARGE), gebildet aus Kommunen und Bundesagentur für Arbeit und 69 so genannte "Optionskommunen", die diese Leistungen allein, ohne Unterstützung der BA, erbringen.

Darüber hinaus hat Rot-Grün durch die Definition der "Bedarfsgemeinschaften" die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass z.B. das volljährige Kind eine eigene "Bedarfsgemeinschaft" bildet, wenn es aus der elterlichen Wohnung auszieht. Schließlich hatte sich die alte Regierung in der Einschätzung der Vermögensverhältnisse (Ersparnisse) der früheren ArbeitslosenhilfeempfängerInnen geirrt. Vor allem im Osten – welch Wunder – waren die privaten Ersparnisse geringer als angenommen. Damit fielen auch deutlich weniger Langzeitarbeitslose aus dem Leistungsbezug ALG II heraus als erwartet. Das IAB schätzt diesen Anteil auf ca. 17%.

Ingesamt ist aus dem einstigem Sparpaket für den Bund ein haushaltspolitisches Fiasko geworden: Als beide Leistungen noch getrennt waren, zahlte der Bund 16,5 Mrd. Euro Arbeitslosenhilfe, gut zwei Mrd. Euro Wohngeld und knapp sechs Mrd. Euro Eingliederungsleistungen. Für das Arbeitslosengeld II hat der Finanzminister 2005 ca. 26 Mrd. Euro gezahlt. Hinzu kommen gut sechs Mrd. für Eingliederungsleistungen, weitere sechs Mrd. für Verwaltungskosten und weitere drei Mrd. für die Miet- und Heizkosten der Langzeitarbeitslosen, an denen der Bund zu 29,1% beteiligt ist. Für den Bund steht daher hinter Hartz IV ein dickes Minus von 14 Mrd. Euro. Dem wären aber die Einsparungen der Kommunen gegenüber zu stellen.

Verlierer und "Gewinner"

Die große "Massenverarmung" durch Hartz IV sei, anders als insbesondere von den Linken prognostiziert, ausgeblieben, so die gängige Interpretation von Untersuchungsergebnissen des IAB über die finanziellen Auswirkungen des Arbeitslosengeldes II auf die verschiedenen Gruppen von Betroffenen. Bei der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe (ALHI) und Sozialhilfe hat sich vor allem die Einkommenssituation von ehemaligen ALHI-BezieherInnen verändert. Familieneinkommen werden stärker angerechnet als bisher. Die Leistungen orientieren sich am gesetzlich definierten Bedarf und nicht mehr am früher erzielten Erwerbseinkommen. Dadurch sind seit Januar 2005 nur noch 83% der ALHI-BezieherInnen bedürftig, d.h. 17% erhalten keine Leistungen mehr. "Zu den Verlierern zählen z.B. Paarhaushalte bei Erwerbstätigkeit des Partners oder Ältere, die relativ hohe ALHI-Ansprüche hatten. Gewinner der Reform sind vor allem jene Leistungsempfänger, deren Arbeitslosenhilfe unter dem Sozialhilfe-Bezug lag." (IAB Kurzbericht Nr. 17/7.10.2005)

Bei den "Gewinnern" ist der Anspruch der Bedarfsgemeinschaft aus den Leistungen des SGB II höher als die Summe der vorherigen Leistungen aus Arbeitslosenhilfe, Wohngeld und Sozialhilfe. Unter den 83% bedürftigen Arbeitslosenhilfe-Haushalten "finden sich 47% Gewinner (57% West, 35% Ost)". (ebd.) Übersehen werden darf aber in diesem Zusammenhang z.B. nicht, dass sich die Besserstellung ehemaliger Sozialhilfeempfänger ohne Berücksichtigung der einmaligen Leistungen, etwa für die Beschaffung von Kleidung, Hausrat oder die Instandhaltung der Wohnung, wie früher im Bundessozialhilfegesetzt vorgesehen, ergibt. Bei bedürftigen Haushalten, die vorher ausschließlich Arbeitslosenhilfe oder zusätzlich nur Wohngeld bezogen haben, findet sich zunächst eine große Zahl von "Gewinnern". Prinzipiell hätten diese Haushalte aber bereits in der Vergangenheit Ansprüche auf Wohngeld oder aufstockende Sozialhilfe gehabt, sie haben die Ansprüche aber offenkundig nicht geltend gemacht.

"Für 53% der bedürftigen ALHI-Haushalte hat sich die Einkommensposition verschlechtert. Verlierer sind die Bedarfsgemeinschaften, die aufgrund früherer Erwerbstätigkeit eine vergleichsweise hohe ALHI erhalten und nach der Reform auf die gültigen Regelsätze herabgestuft werden. Verlierer sind auch die Haushalte, in denen durch die neuen Anrechnungsvorschriften die SGB II-Leistung niedriger ausfallen wird." (ebd.)

Fazit

17% der ALHI-EmpfängerInnen fallen aus dem Leistungsbezug heraus. Für etwas weniger als die Hälfte der Anspruchsberechtigten ergibt sich unter dem Strich insgesamt kaum eine tatsächliche Besserstellung, für etwas mehr als die Hälfte aber eine, zum Teil dramatische, Schlechterstellung.

Deutliche Unterschiede in den Wirkungen gibt es zwischen West und Ost, zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Jung und Alt.

Anrechenbare Vermögen spielen bei der Bedürftigkeitsprüfung kaum eine Rolle. ALHI-Haushalte haben sie meist schon unter den zuletzt verschärften Bedingungen des ALHI-Bezuges aufgebraucht.

Außerdem sollte bei der Debatte über Verarmung durch Hartz IV nicht vergessen werden, dass laut Paritätischem Wohlfahrtsverband allein die konsequente Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen zu einem deutlich höheren Regelsatz führen würde.

Insgesamt kann schon von einer flächendeckenden Verarmung bei ALG II-EmpfängerInnen gesprochen werden. Allerdings setzten die Verarmungsprozesse schon längst vor den Hartz-Reformen ein.

Während es mit dem ALG II-Bezug kaum wirkliche Gewinner, aber sehr viele Verlierer gibt, kommt die Vermittlung von Langzeitarbeitslosen immer noch zu kurz. Der Ombudsrat für die Hartz IV-"Reform" fordert daher zurecht eine Verstärkung der Vermittlungstätigkeit für diesen Personenkreis. Gleichzeitig mahnte er, die Schulung des Vermittlungspersonals voranzutreiben. Es würden bisher nicht alle Möglichkeiten zur Vermittlung genutzt. Defizite sieht der Ombudsrat auch bei der Förderung von Menschen, die aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen berufliche Rehabilitationsmaßnahmen für eine erfolgreiche Eingliederung in den Arbeitsmarkt benötigen.

Obwohl das "Fördern" auch im SGB II-Bereich bisher viel zu kurz kommt, geht das "Fordern" in verschärfter Form weiter: Zur Eindämmung der Kostenexplosion beim Arbeitslosengeld II plant die neue Bundesregierung 2006 drei Mrd. Euro zu sparen, in den Folgejahren vier Mrd., so der Arbeitsmarktexperte der SPD, Brandauer. Durch geringere Zahlungen für Langzeitarbeitslose an die Rentenversicherung (Kürzung von 78 auf 40 E) sollen zwei Mrd. Euro zusammenkommen (die dann allerdings in der Rentenversicherung fehlen). 250 Mio. Euro sollen gespart werden, wenn Arbeitslose vor dem 65. Lebensjahr unter Inkaufnahme von Abschlägen in Rente gehen. 500 Mio. sollen eingespart werden, indem junge Arbeitslose bis 25 Jahre weiterhin zur Bedarfsgemeinschaft ihrer Eltern zählen; weitere 100 Mio., wenn diesen Jugendlichen keine eigene Wohnung mehr bezahlt wird. Gerade die Möglichkeit für volljährige Jugendliche, sich vom Elternhaus abzunabeln und eine eigene Bedarfsgemeinschaft zu bilden (Stärkung der Eigenverantwortung!), stellte einen der wenigen positiven Effekte der ALG II-Einführung dar und wird aus Kostengründen gleich wieder gekappt. Gut eine Milliarde Euro sollen die Arbeitsgemeinschaften der BA und der Kommunen durch Effizienzsteigerung sparen. Außerdem soll der "Leistungsmissbrauch" bekämpft werden.

Die registrierte Arbeitslosigkeit hat die Steuer- und Beitragszahler in 2004 85,7 Mrd. Euro gekostet. Das ist der höchste Stand seit acht Jahren und ein Anstieg von 20% gegenüber dem Jahr 2001 (71,4 Mrd. E), wie aus Berechnungen des IAB hervorgeht. 54% der Kosten stellen laut IAB Ausgaben für Arbeitslose (Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe) dar, 46% der Kosten resultieren aus Mindereinnahmen von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungsträgern, die entstehen, weil Arbeitslose kein Arbeitseinkommen beziehen.

Während es 1991 noch rund 30 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gab, ging deren Zahl bis 2005 um 3,8 Mio. (13%) auf 26,2 Mio. zurück. Die Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre hat diesen Trend mit Instrumenten wie Mini-Job und Ich-AG noch verstärkt.

Eine solche Arbeitsmarktpolitik kann nicht der Hebel zum Abbau der Arbeitslosigkeit sein, sondern nur eine Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, die zur Rekonstruktion sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse führt. Eingebettet in einen solchen Gesamtzusammenhang kann auch die Arbeitsmarktpolitik an sinnvollen gesellschaftlichen Zielen orientiert werden, statt nur die Erosion ihrer materiellen Basis "effektiv und effizient" in ihrer Ausgabenpolitik nachzuvollziehen. Gleichzeitig müssen die Systeme der schulischen Bildung sowie der beruflichen Aus- und Weiterbildung wesentlich effizienter gestaltet und systematisch miteinander verzahnt werden. Die BA kann nicht die Förderschule der Nation sein.

Friedrich Steinfeld ist ver.di Mitglied in Berlin.

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