1. Januar 2002 Redaktion Sozialismus

Politik ohne Projekt oder: Der König ist nackt

Die demoskopischen Umfragen bescheinigen der Bundesregierung, keinen exzellenten Job gemacht zu haben. »Gut neun Monate vor der Bundestagswahl nimmt die Mehrheit der Bevölkerung an, dass die rot-grüne Koalition den Wahltag nicht überdauern wird. Nur noch 19 Prozent setzen auf den Fortbestand der Koalition über den 22. September 2002 hinaus, 50 Prozent halten dagegen. Die Bevölkerung sieht am Ende dieses Jahres viele Anlässe für Besorgnis, von der Entwicklung der Konjunktur und des Arbeitsmarktes über steigende Abgaben und Beiträge, die Sorge über Preiserhöhungen im Zuge der Euro-Umstellung bis hin zu Bedrohungen durch Kriminalität und Terrorismus.« (Köcher in der FAZ vom 19.12.2001)

Bundeskanzler Schröder wischt diese Kritik beiseite. »Was soll man nun wieder dazu sagen? Hat keine Mehrheit mehr! Das ändert sich von Woche zu Woche. Die SPD bewegt sich seit 18 Monaten zwischen 38 und 42%, die Grünen haben alle Chancen, wieder in den Bundestag zu kommen. Dann wird man schauen, ob es eine Mehrheit gibt, die rot-grüne Koalition fortzusetzen oder nicht ... Wenn es diese Möglichkeit gibt, wird es gemacht. Wenn sie nicht besteht, muss man schauen, ob es andere Optionen für die SPD gibt.« (Süddeutsche Zeitung)

Die Gelassenheit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Koalition der »neuen Mitte« der Wind ins Gesicht bläst. Zwar hofft sie inständig auf eine baldige Erholung der Konjunktur, aber das 1998 gesteckte Ziel (»Wenn wir es nicht schaffen die Arbeitslosenquote signifikant zu senken, dann haben wir es weder verdient wieder gewählt zu werden, noch werden wir wieder gewählt werden.« Schröder 1998) ist durch wirtschaftliches Wachstum bis zum September 2002 nicht mehr zu erreichen.

Die Arbeitslosigkeit ist der herausragende Punkt, an dem die Leistung der Regierung gemessen werden wird. Aber es geht um mehr: Die realen Einkommensverhältnisse eines Großteils der Lohnabhängigen ist nicht besser geworden. Lohnerhöhungen von knapp über 2% sind von einer Preissteigerungsrate von 2,5% aufgefressen worden; die Steuerreform hat zu wenig Entlastung für die privaten Haushalte der Lohnabhängigen gebracht. Das Agieren bei den Altersrenten wird gleichfalls nicht als erfolgreiche Sanierung gesehen. Und in der Gesundheitspolitik wird jeden Monat eine andere Sau durchs Regierungsdorf getrieben, so dass die versprochene Grundsatzreform nach den Bundestagswahlen von einem Großteil der Bevölkerung gleichermaßen mit Skepsis betrachtet wird.

Bundeskanzler Schröder pocht entgegen dieser Wahrnehmung darauf, eine erfolgreiche Politik betrieben zu haben: »Entschuldigung, wir haben modernisiert! Steuerreform. Rente, Teilzeit, Job-Aqtiv, Länderfinanzausgleich, Solidarpakt II, alles schon vergessen? Wir haben die innere Sicherheit gestärkt ... Wir haben ein Staatsbürgerschaftsrecht gemacht.« Eigentlich müssten alle zufrieden sein und gleichwohl ist die politische Unzufriedenheit real. Mit Sicherheit wird der herannahende Wahltermin dafür sorgen, dass der rechhaberische Duktus abgelegt wird, aber die Wahlchancen werden nur durch eine deutliche Besserung der wirtschaftlichen Lage zunehmen.

Schröder kann insofern gelassen sein, als die Sozialdemokratie nach wie vor Aussichten hat, ihre Position in der Größenordnung von 1998 zu halten. Der Unsicherheitsfaktor sind die Bündnisgrünen. Sie haben in den vergangenen Landtags- und Kommunalwahlen durchweg verloren und müssen wohl auf ein gutes Drittel ihrer Wähler verzichten. »48 Prozent der Bevölkerung empfinden die Grünen als verändert und durch Streben nach Machterhalt korrumpiert; 34 Prozent nehmen ihnen dagegen ab, dass ihnen die einstigen Ideale auch heute noch viel bedeuten ... 65 Prozent erwarten, dass die Grünen an Rückhalt verlieren werden, nur noch 13 Prozent trauen ihnen zu, dass sie neue Attraktivität gewinnen.« (Köcher a.a.O) Von einer Trendwende also keine Spur – insgesamt schlechte Aussichten für das Wahljahr 2002. Denn es reicht ja nicht, dass die Grünen die Fünf-Prozent-Sperrklausel möglicherweise knapp überspringen. Für eine Fortsetzung der Koalition dürfte das zu wenig sein. Deshalb ist davon auszugehen, dass diese Konstellation ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen gerückt wird. Die Taktik könnte lauten: Rot-Grün attackiert den dubiosen Charakter der bürgerlichen Parteien und wirbt für eine hohe Wahlbeteiligung und ein Votum für das kleinere Übel.

Damit ist man erneut bei einem Verständnis von Politik gelandet, das mit gesellschaftlicher Gestaltung wenig zu tun hat und nicht mehr repräsentiert als den Versuch, die aus dem Ruder laufenden Verhältnisse technokratisch zu managen. Noch vor vier Jahren wähnte man sich am Beginn einer neuen Epoche: Nur noch in einigen peripheren Regionen Europas waren bürgerliche Parteien am Ruder. In den Zentren feierte die »neue Sozialdemokratie« die Eroberung der Macht. Bereits kurz danach begann allerdings schon der Katzenjammer: Österreich fiel an ein konservativ-rechtspopulistisches Bündnis. Es folgten Italien, Norwegen und Dänemark. Die Trends sind eindeutig: Keines der politischen Lager in Europa bringt stabile Formationen zustande. Chrakteristisch für die gegenwärtige Situation ist vielmehr eine ausgeprägte Hegemonieschwäche. Dies nicht deshalb, weil die WählerInnen mobil geworden sind, wie die Spin Doctors meinen, sondern weil die Parteien der »neuen Mitte« kein Projekt haben, wie dem Kapitalismus im 21. Jahrhundert soziale Gerechtigkeit (und ökologische Nachhaltigkeit) abzuringen ist. »Ich rede bekanntlich nicht von historischen Projekten«, umschreibt Schröder sein politisches Credo. Das ist wohl wahr. Die Formeln über Bürgergesellschaft, Innovation und Gerechtigkeit waren deshalb wohl auch überwiegend Geschwafel und die »neue Mitte« nicht viel mehr als Wahlkampfstrategie. Natürlich musste sich Rot-Grün vom Neoliberalismus absetzen; aber die politische Mehrheit errangen die Strategen der »neuen Mitte« nicht in einer offensiven hegemonialen Auseinandersetzung, sondern erst, als der Neoliberalismus an den eigenen Widersprüchen zerbrochen war. Und vier Jahre später lautet die Botschaft: Wählt das kleinere Übel – verhindert die Berlusconisierung und Haiderisierung der Politik. Politik ohne Projekt oder: Der König ist nackt.

Und die Linke? Man kann nicht behaupten, dass sie von der Rechtsentwicklung der Sozialdemokratie – sei es in der Kriegsfrage, sei es in der Kappung demokratischer Rechte – nachhaltig profitiert hat. Die Denkfigur, man könne gleichsam automatisch den Platz einnehmen, den andere geräumt haben, war schon immer falsch. Mehr noch als alle anderen brauchen SozialistInnen eigenständige politische Projekte. Nur damit können sie das Lager der linken Mitte unter Druck setzen. Sicher gibt es hier und da gute wirtschafts- und gesellschaftspolitische Positionspapiere in der PDS, aber das sind vereinzelte Funken, die selbst auf Parteitagen kein politisches Feuer entfachen können. So gesehen gehört die PDS nach wie vor zu den politischen Problemen dieser Republik und ist noch nicht die Antwort zu deren Lösung. Sie wird auf absehbare Zeit nur als Korrektiv gegenüber der Sozialdemokratie fungieren können. Die SPD erklärt aber die PDS unter dem Aspekt der Außen- und Sicherheitspolitik für nicht regierungsfähig, während sie offenkundig in dem Plädoyer für eine sozial-ökologische Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik keine Herausforderung sieht. Die spannende Frage der politischen Praxis ist: In welche Richtung und mit welchem Tempo wird sich eine Abweichung der programmatischen Handlungsorientierungen ergeben?

In der PDS und im linken Parteienspektrum überhaupt wird mehrheitlich unterstellt, dass die PDS binnen kurzem der Faszination der Macht unterliegt und der Orientierung auf eine nichtmilitärische Außen- und Sicherheitspolitik abschwört. Gleichermassen wird der Ansatz der PDS zu einem Kurswechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht ernst genommen. Umgekehrt ist aber auch denkbar, dass die modernisierte Sozialdemokratie – unter dem doppelten Druck: einerseits eines Hegemonieverlusts an die politische Rechte, andererseits einer deutlichen Verschärfung der sozial-ökonomischen Handlungsbedingungen in den kapitalistischen Metropolen – ihre bisherigen Position korrigiert und damit die politische Strategie der Linkssozialisten wieder realistisch wird: von der Position einer entschiedenen Interessenvertretung der Lohnabhängigen und einer friedensorientierten Sicherheitspolitik aus Druck auf die Sozialdemokratie auszuüben.

Die meisten Kritiker der PDS halten von einem Wandel der parteiprogrammatischen Orientierung durch Annäherungen nichts. In ihren Augen hat die PDS so wenig politische Substanz, dass eine Veränderung nur als Anpassungsprozess nach dem Muster der grünen Partei vorstellbar ist. Logischerweise bildet sich daher hier jener vertraute revolutionäre Zynismus aus, der an linken Stammtischen seit jeher die Lufthoheit hat. Die mühseligere Alternative besteht darin, den Prozess der politischen Wandels auf dem linken Spektrum so zu beeinflussen, dass Friedenspolitik und eine Reorganisation von Wirtschaft und Verteilung im Interesse der Lohnabhängigen nicht einfach beiseite geschoben werden können. Im Klartext: Wer auf dem linken Spektrum über die bisherige Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik beunruhigt ist, muss sich gerade im Wahljahr für einen inhaltlichen Politikwechsel gegenüber den linken Parteien einsetzen. Veränderungen kommen nicht von allein. Sie werden von einer Änderung der Umstände und der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erzwungen. Politik bewegt sich in gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, also können und müssen die Impulse aus der Zivilgesellschaft heraus kommen. Gefordert ist vor allem die Entwicklung von demokratischer Gegenöffentlichkeit, weil nur so möglichst viele dazu beitragen können, dass die Weichen in Richtung einer sozial gerechten, menschenwürdigen Zukunft gestellt werden.

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