1. Dezember 2001 Redaktion Sozialismus

Programmparteien oder Wahlvereine?

Gerhard Schröder, Bundeskanzler und nebenbei SPD-Vorsitzender, hat den Delegierten des Nürnberger Parteitages gedankt: Die Bundesregierung sei von ihnen in einem Maße unterstützt worden, das »ich – ich will ganz ehrlich sein – so nicht erwartet hatte.« Dass gerade jener Politiker, der auf sein distanziertes Verhältnis zur Partei Wert legt, der sich nicht an die Beschlusslage von Parteitagen gebunden sah, der unter freier Interpretation der Verfassung die Berliner Republik bereits in zwei Kriege verstrickt hat und der in Sachen Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit und internationale Finanzkrisen einen politischen Offenbarungseid leisten muss – dass ein solcher Politiker keinen nennenswerten Widerspruch erfährt und kaum Kritik hört, ist in der Tat für eine sozialdemokratische Partei entwürdigend.

Die SPD war stets stolz darauf, dass auf ihren Parteitagen über die Analyse der ökonomisch-sozialen Entwicklung gestritten wurde. Diese Partei hat nach der Regierungsübernahme mit ihrem Parteichef Lafontaine und einigen Wirtschafts- und Finanzexperten offenkundig noch mehr verloren. Wenn die Versprechen, man werde für Wirtschaftswachstum, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und eine massive Verringerung der Arbeitslosigkeit sorgen, von der wirklichen Entwicklung blamiert werden, dann hätte man früher mit kontroversen Debatten über Konzeptionen, Realpolitik und gesellschaftspolitische Alternativen rechnen können. Genau dafür stand ein Nürnberger Parteitag Mitte der 80er Jahre einmal: für die Überwindung der autokratischen Herrschaft eines Kanzler Schmidt und die Reaktivierung der Sozialdemokratie als soziale und ökologische Reformpartei. Die damals auf überzeugende Weise aktive Parteilinke – von Albers, Larcher, Müller, Schreiner, bis Wieczorek-Zeul – hat zwar 15 Jahre später wiederum in Nürnberg treu ihre Auffassung zu Protokoll gegeben, dass es künftig gelingen müsse, den globalen Kapitalismus sozial zu bändigen, aber entsprechende Schlussfolgerungen für die gegenwärtige Regierungspolitik tunlichst unterlassen.

Und nicht nur das: Die Sozialdemokratie ist in Fatalismus verfallen. Trotz Rezession lehnten die Parteitagsdelegierten Konjunkturprogramme rundweg ab; trotz steigender Massenarbeitslosigkeit sieht man für zusätzliche beschäftigungspolitische Maßnahmen keine Veranlassung; eisern klammert sich die Partei an die Politik der öffentlichen Armut (»Sparpolitik«) und fährt öffentliche Investitionen und Sozialausgaben weiter herunter; und von Steuergerechtigkeit bei höheren und Vermögenseinkommen – wie sie Jürgen Peters für die IG Metall und Margit Mönig-Raane für ver.di einklagen – will man auch künftig die Finger lassen. Die »Argumente«, die für diese Entscheidungen herhalten mussten, variieren das Thema »Strohfeuer« so erbärmlich, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung nicht lohnt.

Natürlich waren dies nicht die Themen, die bei der Grünen Bundesversammlung und beim SPD-Parteitag im Vordergrund standen: Es geht um den Kanzler, hinter den man sich gerade in Kriegszeiten scharen muss. Ein Krieg, der damit legitimiert werden soll, dass er einer humanitären Entwicklung den Weg bahnt. Deshalb liegen die Themen dicht beieinander: Ein Regierungsbündnis, das einer weltweiten Rezession, die zwangsläufig zu einer weiteren Abkoppelung der »Dritten Welt« führt, nicht gegensteuert, und gleichzeitig vorhat, den Anteil der entwicklungspolitischen Ausgaben (am BIP) bis 2006 noch weiter herunterzufahren, betreibt eine Politik, die immer wieder die »Logik« des Krieges in Anspruch nimmt – nicht als »letztverbliebene«, sondern vermeintlich einzig verbliebene realpolitische »Ratio«.

Wer nimmt bei dieser Zukunft zerstörenden Politik noch Perspektivdebatten ernst? Der Zwischenbericht zu einem neuen SPD-Grundsatzprogramm, den Scharping den Delegierten erläuterte, erheischte noch weniger Aufmerksamkeit als die nächtliche Abstimmung über Studiengebühren. »Es wurde deutlich, dass das Thema die Delegierten und auch die an den Vorstandstischen sitzenden Führungsleute nicht sonderlich interessierte.« [1] Weshalb auch: Wer in Programmpapieren die Notwendigkeit der Reform der internationalen Finanzarchitektur, der Regulierung des Shareholder-Kapitalismus und der Beseitigung der Arbeitslosigkeit beschwört, und in der Regierung das Gegenteil praktiziert, gehört zur Kategorie »Worte und Taten – Schall und Rauch«. Es mag ja nicht völlig falsch sein, dass die Fragen des 21. Jahrhunderts nicht mit den Ideen der 60er und 70er Jahre beantwortet werden können, wie eine Mitglied der Programmkommission anmerkte; aber die neuen Fragen müsste man der Partei schon plausibel machen und für die neuen Antworten werben. Das hat auch die sozialdemokratische Linke nicht getan. Den Anspruch, »für Orientierung zu sorgen«, hat man selbst nicht ernst genommen. Kurz und bündig fallen deshalb auch die Kommentare aus: »Die SPD hat sich in Nürnberg vier Tage lang in blindem Kanzler-Gehorsam in die Bedeutungslosigkeit palavert.« [2]

Die Schwierigkeiten bei der Organisation von Willensbildungsprozessen sind nicht auf die Sozialdemokratie beschränkt. Anders als die Parteien des »bürgerlichen Lagers«, die sich nie vor die Aufgabe einer grundlegenden Reform der ökonomisch-sozialen Strukturen gestellt sehen, müssen und wollen sozialdemokratische und grüne Linke einen reformpolitischen Ausbruch aus den überlieferten Verhältnissen organisieren. Wenn allerdings die Lösungsvorschläge für die Probleme des 21. Jahrhunderts ausbleiben und der Versuch, zumindest Teile der gesellschaftlichen Öffentlichkeit für zukunftsfähige Positionsbestimmungen zu interessieren, unterbleibt, dann ist es mit der Führungs- und Hegemoniefähigkeit dieser politischen Kräfte nicht weit her.

Selbstverständlich braucht eine Regierungskoalition die Unterstützung der Regierungsparteien. Wenn die Zustimmung zum Kriegseinsatz der Bundeswehr mit gewaltigem innerparteilichen und medialen Aufwand organisiert und erzwungen wird, dann geraten die künftigen gesellschaftspolitischen Zielsetzungen in den Hintergrund. Man muss nicht soweit gehen wie die Führung der CDU, die in der rot-grünen Außen- und Sicherheitspolitik ein großes Ablenkungsmanöver von den wirtschaftlichen und sozialen Problemen vermutet. Fakt ist aber: Allein mit der Beteiligung an einer internationalen Koalition gegen den Terror kann die Regierungskoalition die politische Führung und gesellschaftliche Hegemonie nicht behaupten, auch wenn – mehr oder minder zähneknirschend – die Regierungskoalitionen und die erdrückende Mehrheit der Regierungsparteien zustimmen. Die Fragen, die für die Hegemonie in Deutschland und Euro-Land wesentlich sind, bleiben unbeantwortet.

Noch ist offen, ob nach der militärischen Phase in Afghanistan der Übergang zu einer Politik der Rekonstruktion und der politischen Erneuerung gelingt; völlig ungeklärt ist zudem, ob die Bundesregierung und die anderen europäischen Regierungen die Ausweitung von Militäroperationen auf andere Regionen und Länder – von Bush jr. angekündigt – mittragen. Die Regierungskoalition hat ihre eigenen Ziele nicht definiert, sondern sich an eine rechtskonservative US-Regierung gebunden. Der sozialdemokratische Kanzler und der grüne Außenminister erklären den 11. September zu einem Tag, der eine außen- und militärpolitische Zäsur erzwingt: Deutschland werde nicht mehr beiseite stehen, sondern zu einem globalen Akteur. Deshalb sei das transatlantische Bündnis essentiell. Doch die konzeptionellen Überlegungen für die »neue Epoche internationaler Politik« sind dünn und widersprüchlich. Aus dem Abenteuer des globalen Kampfes gegen den internationalen Terrorismus kann schnell eine Katastrophe werden. Dies gerade auch deshalb, weil Ansätze zur sozialen Bändigung des globalen Kapitalismus, zur Bekämpfung der alten Monster Arbeitslosigkeit, Armut und Krieg links liegen gelassen werden.

Der Kanzler ist kein politischer Selbstmörder und das Scheitern der Regierung Kohl durch eine Konfrontation mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, Kirchen etc. ist der gesamten politischen Klasse noch in guter Erinnerung. Logischerweise wird daher von der sozialdemokratischen Führung in Sachen Krieg und Rezession eine politische Neutralisierung der Gewerkschaften versucht. Die Verabredung einer weiteren Lohnzurückhaltung im »Bündnis für Arbeit« würde nicht nur den wirtschafts- und verteilungspolitischen Katastrophenkurs fortsetzen, sondern die Gefahr heraufbeschwören, dass die Gewerkschaften von einer angeschlagenen Regierungskoalition auf sehr dünnes politisches Eis gelockt werden. Wenn die Gewerkschaften ihre eigene Glaubwürdigkeit erhalten wollen, wenn überhaupt der manifesten Legitimationskrise der politischen Repräsentation und der Demokratie begegnet werden soll, dann muss das von der sozialdemokratisch geführten Regierungskoalition strapazierte Argument vom kleineren Übel zurückgewiesen werden.

Richtig ist: Europa wird von Wahl zu Wahl mehr zu einem von Rechtspopulisten und Rechtskonservativen beherrschten politischen Territorium. Aber der Erfolg der Haiders, Berlusconis und Finis, der Rasmussens und Schills basiert auf der Erfahrung der Krise des Neoliberalismus und der Einsicht, dass die Politik der modernisierten Sozialdemokratie und ihres grünökologischen Appendix keine Alternative für die in der »Globalisierung« und verschärfter Konkurrenz entstehenden ökonomisch-sozialen und politisch-kulturellen Unsicherheiten bietet. Schröder und Fischer zwingen mit dem Argument »Schaut euch die Alternativen von Koch, Stoiber und Schill an«, die Unterstützung einer Politik herbei, die nicht erfolgreich sein kann.

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