26. August 2010 Joachim Rock: Sozialpolitik zwischen Hartz IV und von der Leyen I

(Gut-)Schein und Sein

Hans-Jürgen Papier ist ein höflicher Mann, aber am 9. Februar 2010 war seine Geduld mit der Bundesregierung offenkundig erschöpft. Gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen im 1. Senat stellte der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungswidrigkeit des bestehenden Verfahrens zur Bestimmung der Leistungsansprüche von Hartz-IV-Empfängern fest.

Die Kritik des Gerichts ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Zwar seien die Regelsätze der Höhe nach nicht »evident unzureichend«. Die bisher vorgenommene Ableitung der Regelsätze sei jedoch »ins Blaue hinein« erfolgt, »gegriffen« oder beruhe auf »Schätzung«. Bezüglich notwendiger Bedarfe von Kindern kritisierte das Bundesverfassungsgericht einen »völligen Ermittlungsausfall«. Es betonte demgegen­über die Verantwortung des Bundes für die Sicherstellung des gesamten Existenzminimums. Ein Verweis auf die Verantwortung der Länder oder kostenlose Angebote reiche nicht aus, um die Verantwortung des Bundes für Leistungen zur Existenzsicherung zu relativieren. Das höchste deutsche Gericht erkannte damit ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums an und ging damit deutlich über seine bisherige Rechtsprechung hinaus.

Die Entscheidung des Gerichts war keine Überraschung, sie hatte sich bereits in der mündlichen Verhandlung im Oktober 2010 abgezeichnet. »Selbst Experten waren überrascht, wie schlecht es der Bundesregierung gelang, die Daten, die sowohl den Hartz-IV-Leistungen für Erwachsene als auch denen für Kinder zugrunde liegen, zu rechtfertigen«, urteilte der SPIEGEL[1] in einem lesenswerten Verhandlungsbericht. Da die Regierung den Geduldsvorrat der Richter bereits da aufgebraucht hatte, setzten diese mit dem Stichtag 31.12.2010 eine denkbar kurze Frist für eine Neuregelung. Bis dahin können besondere Bedarfe direkt auf der Grundlage des Urteils übernommen werden.


Das Gericht forderte an keiner Stelle, die bestehenden Regelsätze anzuheben. Es machte jedoch grundsätzliche Vorgaben zum Verfahren der Regelsatzbemessung und zum Umfang der zu berücksichtigenden Bedarfe. Das Bundesverfassungsgericht zwingt die Bundesregierung, die Bemessung der Regelsätze vom Kopf auf die Füße zu stellen. Eine Umsetzung des Urteils ist dadurch praktisch nicht ohne eine deutliche Ausweitung der Leistungen möglich.


Die Regelsätze: legal, illegal, nicht egal

Obwohl das Urteil des Gerichts alles andere als überraschend war, traf es das zuständige Bundesarbeits- und Sozialministerium offenbar unvorbereitet. Bis vor wenigen Wochen verlautbarten nicht einmal Eckpunkte einer möglichen Reform. Mit Verweis auf eine in Arbeit befindliche Auswertung der so genannten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die als Grundlage für die Bemessung der Regelsätze verwandt wird, verweigerte das Ministerium Auskünfte zu einer geplanten Neuregelung. Bislang ist von der durch das Verfassungsgericht geforderten Transparenz bei der Bemessung der Sätze nichts zu spüren, im Gegenteil. Dabei ist die Bedeutung des Verfahrens immens: Mit der geforderten Neuregelung werden die Kriterien neu festgelegt, nach denen Leistungen im Umfang von bislang 38 Milliarden Euro vergeben werden. 6,8 Millionen Menschen betrifft dies direkt.

Bisher erhalten Alleinstehende 359 Euro, Menschen in Partnerschaften jeweils 323 Euro. Kinder von 0 bis 5 Jahren erhalten 215 Euro, Kinder bis 14 Jahre – derzeit sind von ihnen 1,77 Millionen im Hartz-IV-Bezug – erhalten 251 Euro, im Alter von 15 bis 17 Jahren 287 Euro. Diese Sätze wurden auf der Basis einer statistischen Erhebung (EVS), festgelegt, diese wird alle fünf Jahre erhoben. Etwa 75.000 Haushalte werden dabei detailliert nach ihrem Einkommen und ihren Ausgaben befragt. Maßgeblich für die Bestimmung der Regelsätze war bislang das so gemessene Ausgabeverhalten des einkommensschwächsten Fünftels der Alleinlebenden, wobei Empfänger von Hartz-IV-Leistungen ausgenommen waren, um Zirkelschlüsse zu vermeiden. Die Ausgaben der Haushalte wurden ministeriell nach mehr oder weniger begründeten Kriterien gekürzt und die verbleibenden Ausgaben als Maßstab für die Bemessung der Regelsätze genommen. Das Ergebnis – derzeit 359 Euro – liegt nach Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes um mindestens 60 Euro unter dem Wert, zu dem man ohne die zum Teil willkürlichen Abschläge gekommen wäre.

Die bisherigen Regelsätze hatten damit auch nichts mit dem Bedarf von Kindern zu tun, denn kindspezifische Ausgaben gibt es in der Bezugsgruppe der Ein-Personen-Haushalte, unter denen Haushalte von Senioren in der Statistik überproportional vertreten sind, nicht. Stattdessen wurde der Bedarf vergleichsweise willkürlich je nach Alter auf 60, 70 oder 80% des Regelsatzes eines Erwachsenen festgelegt. Das führte zu der absurden Situation, dass Ausgaben für Windeln und Schulsachen bei der Bemessung unberücksichtigt blieben, während sich ein verändertes Ausgabeverhalten der Alleinlebenden beispielsweise bei Alkohol und Tabak direkt auf die Höhe der Leistungen für Kinder auswirkte. Dass die Regierung durch das Bundesverfassungsgericht (»Kinder sind keine kleinen Erwachsenen«) darüber aufgeklärt werden musste, dass dies nicht angemessen ist, lässt den Laien staunend und den Fachmann verwundert zurück.

Neben der Höhe der monatlichen Pauschalen ergaben sich aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil weitere Vorgaben, die bei einer Neuregelung zu berücksichtigen sind. Dies betrifft auch das Verfahren der Anpassung der Regelsätze an die Preisentwicklung. Da die Verbrauchsstichprobe nur alle fünf Jahre erhoben wird, zuletzt 2008, müssen für die Zwischenzeit Kriterien für die Anpassung der Leistungen gefunden werden. Bislang erfolgte dies nach der Rentenentwicklung. Darüber hinaus forderte das Bundesverfassungsgericht eine stärkere Individualisierung der Leistungen. Mit der Einführung von Hartz IV waren zusätzliche einmalige Leistungen für außergewöhnliche Bedarfe fast vollständig ausgeschlossen worden. Das Bundesverfassungsgericht betonte hingegen, dass viele Bedarfe notwendig seien, ohne durch die bestehenden Pauschalen abgedeckt zu sein. Die Politik wurde hier ebenso zum Nachbessern verpflichtet wie hinsichtlich wiederkehrender, aber atypischer Bedarfe, die ebenfalls gerechtfertigt sein könnten. Bislang hatten die Betroffenen in solchen Fällen lediglich die Chance auf ein Darlehen. Dies führte zu einer stetig wachsenden Darlehensbürokratie mit derzeit über 1,1 Millionen Fällen in den Jobcentern.


Konturen einer Neuregelung

Über mehrere Wochen und Monate verlautete nichts über die Pläne zur Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils. Erst in den letzten Wochen bilden sich Konturen eines neuen Regelsatzmodells. Obwohl das Ministerium offiziell noch keine Planungen bekanntgab, zeichnen sich drei grundlegende Änderungen ab.

  • Die Regelsätze für Erwachsene werden neu berechnet. Dabei werden die Kriterien verändert, um den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entgegenzukommen. Die Grundlage dafür bietet die Auswertung des EVS aus dem Jahr 2008, die dem Ministerium spätestens Anfang September vorliegen wird. Nach ersten Verlautbarungen wären die Regelsätze danach deutlich anzuheben und würden auf bis zu 400 Euro steigen.
  • Die Bindung der Regelsatzentwicklung an die Rentenhöhe wird abgeschafft. Zwischen den alle fünf Jahre stattfindenden Auswertungen der Statistik werden die Regelsätze an die Entwicklung der Nettolöhne oder der Preise gebunden.
  • Die notwendigen Bildungs- und Entwicklungsleistungen für Kinder werden künftig als Guthaben auf einer Chipkarte gewährt. Das Guthaben darauf wird in bis zu vier Ausgabengruppen – Lernförderung und Nachhilfe, Schulbedarfe (Lernmittel und eintägige Ausflüge), Zuschüsse zum Mittagessen und Leistungen zur Teilnahme an Vereins- und Kulturangeboten) – unterteilt und durch die Jobcenter nach dem Bedarf der Kinder individuell festgelegt. In den Jobcentern werden zudem Familienlotsen bestimmt, die die Sachbearbeiter dabei unterstützen und Angebote vernetzen. Die Regelsätze für Kinder bleiben im Wesentlichen unverändert, allerdings werden statt Alleinstehendenhaushalte Paarhaushalte mit einem Kind als statistische Referenzgruppe herangezogen.

Sollte es bei diesen Planungen bleiben, blieben nicht nur grundsätzliche Probleme des bisherigen Systems ungelöst, es kämen auch neue hinzu. Die Ausgaben für höherwertige Gebrauchsgüter – wie Kühlschränke und Waschmaschinen – lassen sich von den in der Pauschale berücksichtigten Kleinbeträgen auch künftig nicht ansparen. Anstelle einer dadurch wachsenden, aufwändigen Darlehensbürokratie wäre die Gewährung einmaliger Leistungen sinnvoll. Das ist bislang offenbar nicht vorgesehen. Regelmäßig wiederkehrende und notwendige, aber atypische Bedarfe – wie Ausgaben für regelmäßig zu nehmende Medikamente – sollen ebenfalls nur in sehr engen Grenzen übernommen werden. Auch hier soll offenkundig die restriktive Praxis fortgeschrieben werden. Weitere Klagen dagegen wären langwierig und sind vermutlich einkalkuliert.

Geradezu fatal wären die Folgen für die soziale Infrastruktur vor Ort. In dem geplanten Modell gibt es keinen Mechanismus, der auf eine Sicherung der gefährdeten sozialen Angebote vor Ort zielt. Die chronisch finanzschwachen Kommunen würden ermutigt, ihre ohnehin schon geringen Ausgaben für freiwillige Leistungen an Jugendeinrichtungen und gemeinnützige Vereine mit Verweis auf die Guthaben auf den Chipkarten zu streichen. Die Folge wäre ein weiteres Abnehmen der bürgernahen Sport-, Bildungs- und Freizeitangebote. Im Gegenzug würden kommerzielle Leistungsanbieter versuchen, mit ihren Angeboten möglichst große Umsätze aus den Chipkartenguthaben zu erzielen. Die Angebote würden sich dabei auf besonders rentable Bereich konzentrieren.

Die neuen Leistungen würden mindestens anfangs nur Kindern zur Verfügung stehen, deren Familien Hartz-IV-Leistungen beziehen. Kinder, deren Eltern ein geringes eigenes Einkommen haben, das mit dem Kinderzuschlag auf das Hartz-IV-Niveau aufgestockt wird, sodass sie keinen Leistungsanspruch haben, gehen leer aus. Obwohl sich ihre Einkommenslage nicht von denen der Familien im Hartz-IV-Bezug unterscheidet, erhielten sie keine Leistungen.

Jugend- und bildungspolitisch verheerend wären die Pläne, weil die staatliche Sanktions- und Überwachungsbürokratie ausgebaut und um grundlegende Steuerungskompetenzen für die kommunale Bildungs- und Jugendpolitik ergänzt würde. Die Jugend­ämter und die bestehenden Jugendhilfeausschüsse, in denen gemeinnützige Anbieter bislang an der Jugendhilfeplanung mitwirken, würden zugunsten der bisherigen Arbeitsverwaltung wesentlicher Handlungsmöglichkeiten beraubt. Ein christdemokratischer Landesminister warnte bereits vor »Supernannys aus dem Arbeitsamt«. Die Familien-, Jugend- und Bildungspolitik würde einer etatistischen Neuordnung unterworfen. Sie wäre auch das Ergebnis der Verschiebung politischer Kräfteverhältnisse in der Koalition.


Sozialpolitik zwischen den Fronten

Die Neubestimmung der Leistungen betrifft den Geschäftsbereich mehrerer Ministerien und die Zuständigkeiten unterschiedlicher Ebenen. Je nach Ausgestaltung der Leistungen nimmt der Gestaltungsspielraum von Arbeitsmarkt-, Familien- und Bildungspolitikern dauerhaft ebenso zu oder ab wie von Bund, Ländern und Kommunen. Das Ringen um eine Reform ist deshalb auch ein Ringen um künftige strukturelle Gestaltungsmöglichkeiten. Besonders deutlich wird dies am Verhältnis zwischen Arbeits- und Familienministerium. Der erste konkrete Termin für die Veröffentlichung weiterer Planungen des BMAS kam nicht aus diesem. Es war Familienministerin Schröder, die in einer Pressemitteilung[2] ihres Hauses erklärte, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales werde am 8. September 2010 »Festlegungen« zur Neuregelung der Hartz-IV-Sätze treffen. Das Dementi aus dem Bundesarbeitsministerium folgte prompt. Den Termin Anfang September werde es »mit Sicherheit nicht« geben, erklärte ein Sprecher des Ministeriums.[3]

Nachdem die Bundesarbeitsministerin ihre Planungen für eine Chipkarte, auf der individuelle Guthaben für Bildungsleistungen bereitgestellt werden sollen, veröffentlicht hatte, reagierte ihre Kollegin aus dem Familienministerium mit grundsätzlichen Einwänden gegen Kernpunkte der Vorschläge. Das Freizeitverhalten von Kindern aus einkommensschwachen Familien dürfe nicht staatlich erfasst werden. Geplante Familienlotsen könnten zu unnötiger und teurer Doppelbürokratie führen. Ministerin von der Leyen kritisierte die Bedenken ihrer Amtskollegin umgehend als »abwegig« und unterstellte ihr indirekt Ahnungslosigkeit. Man darf gespannt sein, wie sich die Debatte künftig entwickelt.

Bundesarbeitsministerin von der Leyen sieht in der Reform die Chance, den eigenen politischen Gestaltungsspielraum weit über die Grenzen ihres Ressorts auszudehnen und sich eine weitgehende Kompetenz für einen wesentlichen Bereich der Familien-, Bildungs- und Sozialpolitik zu Lasten der zuständigen Fachpolitiker zu sichern. Dies setzt voraus, die entsprechenden Zuständigkeiten in ihrem Bereich zu bündeln und damit den Einfluss von Ländern und Kommunen zu reduzieren. Um die Gestaltungsmacht zu bekommen, müssen viele Institutionen der bisherigen Familien- und Bildungspolitik durch solche der Arbeitsmarktverwaltung abgelöst werden. So soll die Verantwortung für die Gewährleistung von Bildungs- und Entwicklungsbedarfen vor Ort in die Hände von so genannten Familienlotsen gelegt werden. Diese sollen jedoch gerade nicht bei den kommunalen Jugendämtern liegen, sondern in den Jobcentern, die bislang vornehmlich für die Arbeitsförderung und die Umsetzung von Hartz IV verantwortlich sind. Zusätzliches Personal ist dafür bislang nicht in Aussicht gestellt worden. Den Plan, eine mit ganz anderen fachlichen Aufgaben betraute Behörde künftig über Bildungs- und Erziehungsfragen entscheiden zu lassen, noch dazu ohne dass dafür zusätzliches Fachpersonal in Aussicht gestellt wurde, lässt sich mit inhaltlichen Argumenten nicht rechtfertigen. Jobcentern an den bestehenden Fachbehörden vorbei die Rolle eines Bundesjugendamtes zuzuschreiben, lässt sich inhaltlich nicht begründen. Die Vorschläge stellen eine Kompetenzanmaßung und einen Frontalangriff auf das an anderen Stellen von der Regierung betonte Subsidiaritätsprinzip dar. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung wird nicht nur die Lebensbedingungen von mehreren Millionen Familien beeinflussen, sondern auch die Größe der einzelnen Politikfelder und den Gestaltungsspielraum der föderalen Ebenen.


Unverhohlen ungerecht

Die parallel angekündigten Einsparungen treffen insbesondere einkommensschwache Familien und sind an sozialer Ungerechtigkeit schwer zu übertreffen. Der größte Teil der Einsparungen im Haushalt des Familienministeriums soll zu Lasten der Elterngeldbezieher im Hartz-IV-Bezug gehen. Durch die vollständige Anrechnung des Elterngeldes tragen sie ab 2011 mit 440 Millionen Euro zu den Kürzungen bei, wie das Ministerium auf eine Anfrage der LINKEN akribisch vorrechnete.[4] Dies betrifft 50.000 Alleinerziehende und 85.000 Paare. Das Familienministerium räumte bereits ein, dass die Sparmaßnahmen vor allem auf Kosten von Eltern gehen, die wenig bis nichts verdienen. Die Kürzungen seien jedoch »im Hinblick auf die Verantwortung gegenüber den jungen Menschen und zukünftigen Generationen«[5] sachgerecht. Nicht nur in den Maßnahmen, sondern auch in ihrer Begründung pflegt das zuständige Ministerium ein beeindruckendes Maß an Chuzpe.

Darüber hinaus plante das Ministerium weitere Kürzungen bei Mini-Jobbern und Geringverdienern, deren Einkommen durch den so genannten Kinderzuschlag soweit aufgestockt wird, dass sie ein Einkommen knapp oberhalb der Anspruchsgrenze für SGB II-Leistungen haben. Bei ihnen sollte das Elterngeld ebenfalls gekürzt werden – eine Maßnahme, die den Regierungsfraktionen deutlich zu weit ging. In für die­se Regierung seltener Einstimmigkeit nannte die familienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Dorothee Bär, entsprechende Ministeriumspläne »unsinnig«, während ihre Kollegin aus der FDP, Miriam Gruß, die Vorschläge als »völlig irrsinnig«[6] kritisierte.

Die Kürzungen des Elterngeldes für Familien mit einem Einkommen von über 2.100 Euro netto sollen dagegen nur mit insgesamt 15 Millionen Euro zu den Einsparungen beitragen, indem sie statt bisher 67% nur noch 65% des letzten Einkommens als Elterngeld erhalten. Wer – wie über 37.000 Elterngeldbezieher – ein Nettoeinkommen von über 2.770 Euro hatte, bleibt von Kürzungen ganz verschont. Solidarität wird hier – wieder einmal – ganz neu definiert. Das ging auch der FDP zu weit. Deren familienpolitische Sprecherin forderte stattdessen eine Kürzung des Elterngeldes für Gutverdienende von 1.800 auf 1.500 Euro.

Die Entscheidung über die Reichweite der Kürzungen wird in den anstehenden Haushaltsberatungen getroffen. Offen ist bislang nur, ob berufstätige Geringverdiener von den Kürzungen verschont werden. Dies würde das geplante Kürzungsvolumen um 125 Millionen Euro verringern.


Rechtsansprüche statt Chips!


Die angekündigte Politik ist alles andere als alternativlos. Allerdings bietet selbst eine erhebliche Erhöhung der Regelsätze auf 420 Euro und mehr keine zufriedenstellende Lösung für einige der bestehenden Defizite – auch eine noch so hohe Pauschale reicht dafür nicht aus. Dies gelingt nur mit Leistungsansprüchen, die sich an den individuellen Bedarfen orientieren. Sie würden dazu beitragen, dass der Kreis der Leistungsbezieher ausgeweitet wird und dass die Gruppe der im Fokus der Arbeitsmarktverwaltung stehenden und kontrollierten Personen weiter wächst. Ziel muss es sein, auskömmliche Sozialleistungen ober- und außerhalb des Hartz-IV-Systems zu schaffen, nicht jedoch, Hartz IV lediglich auf eine höhere Ebene mit noch mehr Betroffenen zu heben. Überdies muss verhindert werden, dass die kommunale Infrastruktur weiter abgebaut wird. Gutscheinsysteme oder reine Geldleistungssysteme würden den Abbau bestehender öffentlicher und gemeinnütziger Angebote zugunsten kommerzieller Angebote befördern.

Gemeinsam mit über 20 anderen Organisationen (Volkssolidarität, Deutscher Kinderschutzbund, Deutsches Kinderhilfswerk, SOS Kinderdorf, DLRG u.v.a.m.) hat der Paritätische Wohlfahrtsverband einen Vorschlag erarbeitet, wie eine kindgerechte Neuregelung gestaltet sein könnte. Vorgeschlagen wird, die Regelsätze transparent und bedarfsgerecht zu berechnen und entsprechend zu erhöhen. Des Weiteren fordern die Verbände, einen Rechtsanspruch auf notwendige Leistungen zur Teilhabe am Unterricht und zur Sicherstellung des soziokulturellen Existenzminimums einschließlich eventuell notwendiger Nachhilfe, der musikalischen Erziehung und der Mitgliedschaft in Vereinen in das bestehende Kinder- und Jugendhilfegesetz einzufügen. Soweit den Betroffenen eine Eigenbeteiligung zugemutet werden kann, können sie an den entsprechenden Kosten beteiligt werden. Empfänger von Leistungen nach den Sozialgesetzbüchern II und XII sowie von Leistungen des Kinderzuschlags, des Wohngeldgesetzes, des Berufsausbildungsförderungsgesetzes und des Asylbewerberleistungsgesetzes sind von allen Gebühren befreit. Dadurch werden diese Leistungen auch einkommensschwachen Familien zugänglich, die keinen Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen haben.

Anstelle einer aufwändigen und datenschutzrechtlich problematischen Chipkarte werden bereits bestehende Instrumente – wie Familienpässe – weiterentwickelt und mit attraktiven Förderangeboten für alle Einkommensgruppen ausgestattet, so dass Stigmatisierungseffekte weitestgehend reduziert werden. Wird in diesen ansonsten identischen Familienpässen jährlich neu die finanzielle Leistungsstärke aufgenommen, können die aufwändigen und unwürdigen Bedarfsprüfungen in jedem Einzelfall entfallen. Familienpässe ermöglichten dann vergleichsweise stigmatisierungsfrei Zugänge zu vor Ort zugänglichen Leistungen.

Bildungsbedingte Verbrauchsmaterialien (Schreibhefte, Radiergummis, Bleistifte) sind im Regelsatz zu berücksichtigen. Einmalige Anschaffungen, wie sie in der Regel zum Schuljahresbeginn anfallen, sind gegebenenfalls auf Antrag als einmalige Leistung zu gewähren. Bedarfsgemeinschaften, die über ein Einkommen knapp über der Grundsicherungsschwelle verfügen, sollen ebenfalls Einmalleistungen beantragen können. Dies gilt auch für Bezieher von Kinderzuschlägen.

Der Anspruch richtet sich an den örtlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe. Um deren Mehrkosten aus Bundesmitteln auszugleichen, wird eine entsprechende Änderung des die Kostenverteilung zwischen Bund und Ländern regelnden § 46 SGB II vorgeschlagen, so dass die Kommunen einen finanziellen Ausgleich für ihren Aufgabenzuwachs erhielten. Gleichzeitig haben die Kommunen wegen ihrer neuen Gewährleistungsverpflichtung einen Anreiz, ihre Leistungen für Kultur-, Bildungs- und Jugendeinrichtungen beizubehalten oder gar auszubauen.
Die Pauschalierung von Ansprüchen auf Gebrauchsgüter von erheblichem Wert, insbesondere auf die so genannte weiße Ware (Kühlschränke, Waschmaschinen etc.), soll zurückgenommen werden. Die entsprechenden Produkte werden künftig auf Antrag als einmalige Bedarfe gewährt. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass sich das Modell der Ansparung von Kleinstbeträgen als praxisfern erwiesen hat.

Bislang nicht berücksichtigte Kosten für nicht-verschreibungspflichtige, aber medizinisch notwendige Medikamente sollen wieder in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen werden. Regelmäßig wiederkehrende atypische Bedarfe, wie Haushaltshilfen von Rollstuhlfahrern sowie Kosten getrennt lebender Eltern für Fahrt- und Übernachtungskosten im Rahmen des geteilten Sorgerechts, sollen ebenfalls übernommen werden.

Eine solche Regelung würde es ermöglichen, die Bedeutung der kommunalen Ebene bei einem gleichzeitigen Ausbau der Rechtsansprüche der Betroffenen zu stärken. Vor allem würde sie dazu führen, dass nicht immer neue gesellschaftliche Bereiche der Arbeitsmarktverwaltung untergeordnet werden. Die Ära der Hartz-Gesetze ist so oder so beendet.

Dr. Joachim Rock ist Leiter Soziale Sicherung und Europa beim Paritätischen Gesamtverband in Berlin. Von ihm erschien soeben im VSA: Verlag der Band »Wohlfahrt im Wettbewerb. Europarecht kontra Daseinsvorsorge und soziale Dienste?«

[1] Hipp, Dietmar: »Hartz IV – Verfassungsrichter bringen Regierung in Erklärungsnot«, Spiegel-Online vom 21.10.2009, www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,656402,00.html (27.8.2010).
[2] BMFSFJ-Pressemitteilung vom 16.7.2010, im Internet unter www.bmfsfj.de/BMFSFJ/familie,did=150070.html.
[3] Zitiert nach einem Bericht des Hamburger Abendblatt, www.abendblatt.de/politik/deutschland/article1570304/Elterngeld-Kuerzung-Schroeder-kuendigt-Korrekturen-an.html.
[4] Antwort der Bundesregierung »Geplante Kürzungen des Elterngeldes« vom 27.7.2010, im Internet unter dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/026/1702672.pdf (23.8.2010).
[5] Ebenda, S. 7.
[6] Beide Zitate finden sich im Internet unter www.focus.de/politik/deutschland/elterngeld-plaene-schroeder-kontert-anfeindungen_aid_531264.html (23.8.2010).

Zurück