25. April 2013 Lutz Brangsch: Russland bleibt Gleichung mit vielen Unbekannten

Rasender Stillstand

Betrachtet man den Weg Russlands (wie auch vorher der Sowjetunion), so fällt immer wieder die enge Verflechtung von Politischem, Ökonomischem und Kulturellem auf. Mehr als in den meisten anderen Ländern wird diese Wechselwirkung auch reflektiert und hat außerordentliche Auswirkungen auf Analysen, Handlungsempfehlungen und Handeln auf allen drei Gebieten.

Immer wieder stellt sich die Frage, ob die­se Wechselwirkungen und ihre Reflexion tatsächlich zu Bewegung oder nur zu einem »rasenden Stillstand« führen. Und Gründe für Bewegung gäbe es genug. Die volkswirtschaftlichen Kennziffern sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache.

Eigentlich sind die wirtschaftlichen Bedingungen für Russland derzeit günstig. Die Rohstoffpreise sind auf recht hohem Niveau stabil. Roh- und Brennstoffe machen einen Anteil von 71,4% am Export des Landes aus. Der Export von Rohstoffen ist so auch die Basis des Staatshaushaltes. Der Außenhandelsüberschuss ist zwar gesunken, aber noch solide. Dem gegenüber bleibt das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Vergleich zu den anderen BRICS-Staaten niedrig. Es betrug im vergangenen Jahr 3,4%. In diesem Jahr werden 3,6% erwartet. Die Arbeitslosigkeit stagniert bei 5-6%, es werden aber wachsende Zahlen erwartet (zu beidem siehe Tabelle 1). Nach wie vor sind die regionalen Unterschiede erheblich. In Moskau wird eine Arbeitslosenquote von 1,4% ausgewiesen, in Inguschetien eine von 48,8%. In der Mehrzahl der Regionen liegt die offiziell ausgewiesene Größe zwischen 5 und 10%.[1] Auch der Gini-Koeffizient als Maß der Ungleichheit verändert sich kaum.

Diese Stagnation wird aber in allen politischen Lagern und Interessengruppen mit wachsender Sorge betrachtet. Hinter den Zahlen verbirgt sich die Möglichkeit einer tiefen Krise, die sich aus dem Zurückbleiben des Landes hinter allen wesentlichen Entwicklungen in der Welt ergeben kann. Alarmierend ist vor allem der sich abzeichnende Abfall der Industrieproduktion und der landwirtschaftlichen Produktion.
Dass im Januar überhaupt ein Wachstum zu verzeichnen war, lag an der um 1,1% gestiegenen Produktion und Verteilung von Elektroenergie, Gas und Wasser. Die Industrieproduktion sank um 0,3% und die Gewinnung von Bodenschätzen um 1,2%.[2] Die Industrieproduktion sei, so wird gesagt, überhaupt nur deshalb nicht stärker gefallen, weil die Rüstungsproduktion und der Export von Rüstungsgütern florierten. Unberechenbar sind insbesondere auch die Folgen des WTO-Beitrittes,[3] die sich statistisch vor allem in der Landwirtschaft bereits jetzt nachvollziehen lassen. Im letzten Quartal 2012 stieg der Import von Rindfleisch um 13%, von Schweinefleisch um 32,6% und von Milchprodukten um 12,2%.[4] Dem stehen Preisverfall und Absatzprobleme bei den einheimischen Produzenten gegenüber. Auch Industrieunternehmen äußern sich vor diesem Hintergrund skeptisch über die Chancen einer grundlegenden Belebung des Absatzes.[5]


Suche nach neuen Ansätzen

Die Suche nach Auswegen aus der sich anbahnenden Krise ist in vollem Gange. Innerhalb kurzer Zeit beschäftigten sich gleich drei hochkarätige Foren mit den »Wegen Russlands«: das Wirtschaftsforum der Gaidar-Stiftung[6] (Januar 2013), das Moskauer Wirtschaftsforum (MEF), auf dem »Eine Wirtschaft für den Menschen – eine neue Wirtschaftsstrategie für Russland«[7] (März) diskutiert wurde, und – ebenfalls im März – eine Tagung der »Russischen Akademie für Volkswirtschaft und des Staatsdienstes beim Präsidenten der Russischen Föderation« unter dem Titel »Wege Russlands: Alternativen gesellschaftlicher Entwicklung 2.0«.[8] Hinter diesen Veranstaltungen stehen jeweils unterschiedliche Gruppen der russischen Eliten. Die Schärfe der Auseinandersetzungen wurde z.B. in einer Äußerung von Jurij Boldyrev auf dem Moskauer Forum deutlich: »Eine der Aufgaben des Moskauer Wirtschaftsforums ist es, dem Finanz- und Spekulationssektor sowie dem Rohstoffsektor das Monopol auf die Ausarbeitung des Kurses der Entwicklung des Staates abzunehmen.« Dazu muss berücksichtigt werden, dass die bis heute überaus einflussreichen »Liberalen« im Sinne eines der Konstrukteure der Wirtschaftsreformen Anfang der 1990er Jahre, Egor Gaidar, immer noch einer auf wenigen Glaubenssätzen – freie Preise, Privatisierung, minimale Staatsintervention und minimalste Sozialstaatlichkeit – beruhenden gesellschaftskonzeptionellen Sicht anhängen. Vor diesem Hintergrund stellte sich die Veranstaltung folgende Ziele:

  • Analyse der Widersprüche und Potenziale der Entwicklung Russlands;
  • Diskussion konstruktiver Alternativen zu dem bestehenden extensiven, ressourcenabhängigen und in vielem a-sozialen Modell ökonomischer Entwicklung;
  • Annahme einer Konzeption wirtschaftlicher Entwicklung, das auf eine prioritäre Entwicklung menschlicher Qualitäten und der Realökonomie gerichtet ist;
  • gemeinsame Diskussion und Verwirklichung dieser Alternativen durch Bürger, sozial-verantwortungsbewusstes Unternehmertum und Intellektuelle.[9]

In den Thesen zum Forum heißt es dazu: »Unser Ziel ist die Suche nach einem neuen Modell einer sozial und ökologisch ausgerichteten Wirtschaft, wo Markt und Staat sich gegenseitig organisch ergänzen und die technologische Entwicklung sowie das Wohlergehen aller sichern.«

Konstantin Sivkov, Vizepräsident der Akademie für Fragen der Geopolitik, charakterisierte die Gruppen, die auf der Suche sind, folgendermaßen: die westlich orientierte Gruppen der »alten« Oligarchen, die imperial-orientierte Gruppe aus dem Sektor der Hochtechnologien, der Landwirtschaft und aus weiteren Bereichen der Industrie sowie die Protestbewegungen. Der Kampf liefe vor allem zwischen den beiden erstgenannten Gruppen. Dies trifft sicher weitgehend zu. Auf dem Moskauer Wirtschaftsforum waren, so eine Selbstcharakteristik im Laufe der Veranstaltung, vor allem links-sozialdemokratische, keynesianisch orientierte Kräfte versammelt, die der zweiten Gruppe zuzuordnen sind. Der Kapitalismus als solcher ist weitestgehend in beiden Strömungen akzeptiert. Während allerdings das Gaidar-Forum vor allem die Entwicklung eines investitionsfreundlichen Klimas betonte, hob das Moskauer Wirtschaftsforum Sozialstaatlichkeit, Umverteilung (vor allem in Richtung Bildung, Wissenschaft, aber auch Gesundheitswesen) und innovationsorientierte staatliche Regulierung als wesentliche Voraussetzungen für eine zukunftsfähige Entwicklung hervor. Dabei ist eine in erheblichem Maße ökonomisch-romantische Grundhaltung zu bemerken, die mit einer Verklärung des westeuropäischen Sozialstaates einhergeht.

Dass dieser Sozialstaat Ergebnis härtester Auseinandersetzungen war, bleibt weitgehend unberücksichtigt. Auch die Ursachen der grundlegenden Veränderung der Sozialstaatlichkeit in West­europa werden kaum rezipiert oder bestenfalls als notwendige Anpassungen im Rahmen eines an sich funktionierenden Systems verstanden. Der Kapitalismus, so im Anschluss an Immanuel Wallerstein, der als Redner auf dem MEF auftrat, zerstöre den Markt, und das sei zu verhindern. Der unternehmerischen Initiative sei in einem sozial gestalteten Umfeld Raum zu geben. In den Thesen zum MEF heißt es dazu, dass die Suche nach neuen Modellen der wirtschaftlichen Entwicklung das breite Spektrum menschlicher Werte und Motive berücksichtigen müsse. Menschen brauchen nicht nur Geld und nützliche Güter, sondern auch eine interessante, inhaltsreiche Arbeit, die von der Gesellschaft, der Staatsmacht und der Geschäftswelt geachtet wird. Sie brauchen Möglichkeiten, ihre Qualitäten in der Arbeit, in Stadt und Land zu entfalten, Freizeit, Solidarität, nicht nur Konkurrenz, garantierte Bildung und ein gesichertes Alter. Soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Freiheit müssten als Einheit entwickelt werden – sie sei sogar Voraussetzung für wirtschaftliche Freiheit.

Ruslan Grinberg, einer der Initia­toren des Moskauer Wirtschaftsforums, Direktor des Instituts für Ökonomie der Russischen Akademie der Wissenschaften und einer der konzeptionellen Exponenten des russisch-sozialdemokratischen Weges, charakterisiert die Entwicklung der letzten Jahre als »Primitivisierung der russischen Wirtschaft«, »Entintellektualisierung der Arbeit« und »Degradation der sozialen Sphäre«.[10] Für ihn besteht die Aufgabe darin, die aus seiner Sicht für Russland (einschließlich der ehemaligen Sowjetunion) typische harsche Gegenüberstellung von Freiheit und Gerechtigkeit zu überwinden. In Russland verfalle man immer in Extreme und ignoriere die jeweils andere Seite. Dabei hat er vor allem die »Liberalen« im Blick, die sich um die bereits erwähnte Gaidar-Stiftung (angesiedelt an der Akademie für Volkswirtschaft) gruppieren. Das Verhältnis von individuellen und gesellschaftlichen Interessen sei vor diesem Hintergrund neu zu bestimmen. Vor diesem Hintergrund und mit dieser Einschränkung akzeptiert er die Privatisierungen der 1990er Jahre und die Durchsetzung des Kapitalismus im Grundsatz. Voraussetzung für die Modernisierung sei die Sicherung privater Eigentumsrechte.[11] Dem Staat als Repräsentanten des gesellschaftlichen Interesses kommt dabei in seinem Konzept eine hohe Verantwortung zu. Einen seiner zentralen konzeptionellen Eckpunkte formuliert Grinberg als »Veränderung des Blicks auf die Welt« nicht zuletzt seitens der staatlichen Eliten: Die Entwicklung der sozialen Sphäre (in einem sehr breiten Sinne einschließlich Bildung und Kultur) bestimme die Perspektiven eines stabilen ökonomischen Wachstums. Der Staat, so Grinberg weiter, müsse den Prozess der Modernisierung auch in der Wirtschaft aktiv führen. Er spricht sich in diesem Sinne für eine »gemischte Wirtschaft« aus. Sein ökonomisches Programm wird in folgendem Zitat deutlich: »Der Staat übernimmt die Funktion eines Subjektes einer zielstrebigen und dynamischen strukturellen Modernisierung. Diese versucht durch ein bestimmtes System von Maßnahmen die systemischen Unzulänglichkeiten zu überwinden und die notwendigen ökonomischen und institutionellen Bedingungen für die Überführung der Wirtschaft in einen qualitativ neuen Zustand zu schaffen. Gute Beispiele für eine solche Entwicklung sind Japan, Südkorea, Taiwan, Malaysia und China.«[12]

Die praktische Fundierung dieser akademischen Positionsbestimmung liefert aus dem Lager der UnternehmerInnen z.B. Konstantin Babkin. Als einer der OrganisatorInnen des MEF repräsentiert er das »sozial verantwortliche Unternehmertum«. Als Manager aus dem Bereich des Landmaschinenbaus ist er auf mehrfache Weise mit den gegenwärtigen Tendenzen konfrontiert – von der anhaltend schwachen Landwirtschaft, den hohen Zinsen auf dem russischen Kreditmarkt, den fehlenden Vermittlungen zwischen Wissenschaft und Praxis, der unterentwickelten Infrastruktur, der schwachen Nachfrage auf dem Binnenmarkt und den Folgen des WTO-Beitritts. Babkin schlägt als Alternative zum rohstoffzentrierten Kurs eine »vernünftige Industriepolitik« mit sechs Schwerpunkten vor:

  1. eine Prioritätensetzung unter den Wirtschaftszweigen;
  2. die Schaffung gleicher Konkurrenzbedingungen für die Zweige und Erzeugnisse, denen die höchste Priorität zuerkannt wurde;
  3. eine konsequent öffentliche Strategie bei der Schaffung, Entwicklung und Privatisierung von Unternehmen mit staatlicher Beteiligung;
  4. eine vernünftige Steuerpolitik;
  5. ein vernünftiges Herangehen an die Ausnutzung der Rohstoffressourcen;
  6. eine internationale Politik, die die wirtschaftlichen Interessen der Partner in Rechnung stellt.[13]

Bei der Bestimmung der Prioritäten hebt er die Weltraumindustrie, bestimmte Zweige des Schiffbaus, komplizierte Waffensysteme, die Luftfahrtindustrie, die Atomindustrie, das Eisenbahnsystem, die Energie- und Wasserversorgungsnetze und die internationalen Erdölpipelines hervor. Die­se wissenschaftsintensiven Zweige müssten vom Staat besonders gefördert werden. Daneben verweist er auf die Bedeutung der Landwirtschaft. Hier fordert er einen Übergang zu kleineren Betriebsformen und eine staatliche Förderung der Bauernwirtschaften nach dem Vorbild anderer westlicher Staaten.[14] Babkin betont weiter, dass mit dem Erdöl sorgsam umgegangen werden muss und eine Politik des Immer-Mehr-Förderns in eine Sackgasse führt. Auf dem MEF wurde von anderer Seite darauf verwiesen, dass bei Weiterführung des derzeit beschrittenen extensiven Weges die Ölindustrie schon bald nicht mehr konkurrenzfähig sein wird, weil kaum Innovationen eingeführt werden.[15]

In seinen Ergebnissen könnte man das Programm der auf dem MEF vertretenen Strömung als Programm eines aufgeklärten sozial orientierten Staatskapitalismus bezeichnen. Es geht nicht um Marktsozialismus, es geht um eine saubere, faire Marktwirtschaft.[16] Sozialstaat, Förderung der einheimischen Produktion, konkurrenzfähige Kreditierung von Exportgeschäften, die steuerliche Begünstigung von Innovationen usw. – das ganze in Westeuropa gängige Repertoire staatlicher Interventionen gibt es in Russland derzeit praktisch nicht. So kann die russische Wirtschaft noch nicht einmal die Vorteile ihrer traditionellen Beziehungen zu den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken ausspielen, geschweige denn auf dem Weltmarkt jenseits des Rohstoff- und Rüstungssektors erfolgreich operieren.

Bei den Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern geht es tatsächlich um unterschiedliche Wege zur Überwindung von Bürokratie und Korruption, Innovationsfeindlichkeit, Orientierungslosigkeit der staatliche Intervention (Einnahmen werden ineffektiv verwendet) und des Fehlens eines kulturell-sozialen Umfeldes für Veränderung. Die Präferenzen des Staatsapparates sind allerdings klar verteilt – auf dem Gaidar-Forum traten der Ministerpräsident und weitere Funktionäre der höchsten Ebenen auf, auf dem MEF bestenfalls die dritte Reihe. Auch das Echo der Medien war eher verhalten.[17]


Bermudadreieck Unternehmertum-Staat-Gesellschaft


Nach außen scheint der Staat durch die­se Auseinandersetzungen unberührt – er bildet inzwischen einen eigenen sozialen Raum, der nachwievor eine labile Stabilität vor dem Hintergrund »rasenden Stillstandes« gewährleisten kann. Das alles vollzieht sich vor dem weiteren Hintergrund einer sozialen Stagnation, die von den Massen teuer bezahlt wird. Die Stabilisierung Anfang der 2000er Jahre hat keinen neuen Akteuren einen Raum geben können, die Stütze eines wie immer gearteten Entwicklungsweges jenseits des von der Staatsbürokratie bestimmten Weges sein könnten. Diese starke Wirkung des Staates ist eine anhaltende Spezifik Russ­lands. Die Ursachen dafür liegen tief in der Geschichte und in der mit ihr verbundenen Lebensweise.

Jurij Pivovarov, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, bezeichnete auf dem MEF die geltende Verfassung von 1993 als im Geiste der vorrevolutionären Verfassung stehend. Das System sei immer noch personalisiert-zentralisiert, die Macht werde vererbt und bleibe ohne tatsächliche demokratische Legitimation. Die Verfassung werde nur als Machtinstrument genutzt, nicht als Instrument der Demokratie. Notwendig sei ein Umbau durch Einbindung des Präsidenten in das demokratische System. Andernfalls werde das politische System in der sich verändernden Welt seine Legitimität verlieren.[18] Nur – wer könnte umbauen? An dieser Stelle brechen sich zur Zeit alle Konzepte. Michail Deljagin, einer der scharfsinnigsten Beobachter der russischen Gesellschaft, zeigte sich ausgesprochen skeptisch, was die Chancen einer durchgreifenden Demokratisierung betrifft. Nicht zuletzt die Abhängigkeit des Staatshaushaltes von den Einnahmen aus dem Export von Rohstoffen schafft eine Interessenkonvergenz zwischen Staatsbürokratie und Oligarchen – wie auch die allgemein beklagte Ineffizienz der Haushaltspolitik. Gekoppelt ist dies mit einer Steuer-, Kredit- und Geldpolitik, die den Zugang zu Krediten und die Eigenfinanzierung vor allem in Unternehmen der verarbeitenden Industrie und in der Landwirtschaft erschweren. Resultat ist selbst bei günstiger wirtschaftlicher Lage ein geringes Tempo an Innovationen.[19] Wie bereits erwähnt wirkt der WTO-Beitritt hier als zusätzliches Problem. Er erfolgte unvorbereitet, so dass die Folgen nicht absehbar sind. Landflucht, ein Einkommen, das unter der Hälfte des Landesdurchschnitts liegt, eine Arbeitslosigkeit, die doppelt so hoch ist wie im Durchschnitt sind schon jetzt wesentliche Parameter des Lebens auf dem Lande.[20] Immerhin geht es dabei immer noch um 26% der Bevölkerung und um nicht unbedeutende Teile der verarbeitenden Industrie. So ist es verständlich, dass gerade aus diesem Bereich der Ruf nach Stärkung des Binnenmarktes und nach Ausnutzung der inneren Ressourcen des Landes, der materiellen wie der intellektuellen, besonders nachdrücklich laut wird.


Die Dialektik von Kultur, Politik, Ökonomie und ihre Akteure


Die Kritik des politischen Systems ist die eine Seite – die andere die Kulturkritik. Auch bei Grinberg und anderen ÖkonomInnen ist diese Seite immer Teil der Konzeptbildung. Eine einflussreiche Richtung dieser Seite repräsentiert Ludmilla Bulavka, die eng mit dem linken »Alternativy«-Projekt verbunden ist. Sie charakterisiert die gegenwärtige russische Gesellschaft als eine »Welt der Simulanten«. Dabei spielen für sie die Entfremdung von der Wirklichkeit, die Fixierung auf Abstraktionen statt konkreter Tätigkeit (also z.B. Job statt Arbeit in einem bestimmten Beruf), die Absage an Subjektivität und ihre Ersetzung durch uniformierten Individualismus (nach ihrer Sicht eine der Ursachen der Stalin-Renaissance), die Dominanz religiösen Bewusstseins bei gleichzeitigem Zerfall der Ideale eine zentrale Rolle. Ergebnis sei eine »Diktatur des Allgemeinen«. Man müsse, so ihre Forderung, sich endlich bewusst den Problemen der Praxis zuwenden und gesellschaftliche Formen (Institutionen) schaffen, in denen Menschen sich entfalten und ihre Rechte wahrnehmen können. Dies führt wieder zur Frage der Akteure zurück. Gewerkschaften oder soziale Bewegungen als politische und ökonomische Faktoren kommen in den Diskursen der zwei oben benannten Strömungen kaum vor. Nur einer der Workshops des MEF war ausdrücklich den Gewerkschaften gewidmet. In den vorbereitenden Materialien des Forums untersuchte lediglich ein Beitrag von Alexander Buzgalin, Vertreter des »postsowjetischen kritischen Marxismus«[21] und in seiner Eigenschaft als Professor an der Moskauer Lomonossov-Universität Mitveranstalter des Forums, dieses Thema. In dem von ihm gemeinsam mit Larissa Ožogina verfassten Beitrag verweisen sie auf die zahlreichen Initiativen, die sich auf regionaler und lokaler Ebene entwickeln.[22]

Dies wird auch von anderen AnalytikerInnen in Russland als wesentliches Potenzial von Veränderungen hervorgehoben. Gewerkschaften, wie etwa die Konföderation der Arbeit Russlands, Elterninitiativen, Initiativen in der Stadtpolitik u.v.a.m. schaffen sich zunehmend die von Bulavka angemahnten Räume und brechen die von ihr beschriebene »Welt der Simulanten« im Kleinen auf – mitunter auch erfolgreich. Die Rahmenbedingungen bleiben aber widersprüchlich. So sieht die in der parlamentarischen Diskussion befindliche Neufassung des Arbeitsgesetzbuches zwar die Schaffung von Betriebsräten vor – die allerdings vom Arbeitgeber berufen werden und aus Beschäftigten bestehen sollen, die sich um das Unternehmen verdient gemacht haben.[23]

Die Stabilisierung unter Putin zu Beginn der 2000er Jahre gab die Möglichkeit, überhaupt wieder strategische Überlegungen anzustellen und die Entwicklung der 1990er zu analysieren. Das erfolgte in den ersten Jahren vor allem unter dem Gesichtspunkt der Forderung nach der Entwicklung eines Sozialstaates in Russland, auch durch den damaligen Präsidenten Putin befördert. Die erkannte Notwendigkeit fand aber in dem durch das »Bermudadreieck« aufgemachten Bedingungsgefüge keinen Träger. Die Initiative hätte vom Staat ausgehen müssen. Er hätte sich selbst zurücknehmen, einen Kontrahenten »schaffen« müssen. Der deutsche Sozialstaat war eine Anerkennung der Macht der Arbeiterklasse. Der russische Staat hätte eine Macht anerkennen müssen, die es nicht gab/gibt – aus historischer Erfahrung heraus, nicht aus kurzfristigen Optionen der Systemsicherung. Da sich aber der Charakter der Staatlichkeit nicht änderte, die rohstoffzentrierte Kurs die Macht der »alten« Oligarchen im Bündnis mit Teilen des Staatsapparates in der Substanz nicht antastete, damit aber auch keine Träger eines russischen Sozialstaates die politische Bühne betreten konnten, verblieb nur die Möglichkeit des patriarchalen Weges oder der Stagnation oder einer Kombination beider. Dies schuf den Raum für die Kirche und verschiedene andere Organisationen, die sich auf die Tradition der Wohltätigkeit und der damit verbundenen paternalistischen Werte berufen.

Auf der parlamentarischen Ebene sind die sich vorsichtig konsolidierenden sozialdemokratisch orientierten Kräfte kaum präsent. Babkin selbst vertritt eine Partei namens »Delo«, der von Beobachtern vorsichtig die Möglichkeit eingeräumt wird, angesichts der Problemlagen Einfluss zu gewinnen. Inwieweit die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die als größte Oppositionspartei durchaus über die Ressourcen zu einer Alternative verfügt, sich zu einem Ort des Zusammenkommens dieser »kleinen« Aufbrüche profilieren wird, ist offen. Auch hier wächst eine neue Generation heran, was sich z.B. in der neu gestalteten Internet­seite der Partei manifestiert. Dies mag eine Äußerlichkeit sein, vielleicht aber auch der Anfang von Veränderungen.

Das spannungsreiche Wechselverhältnis von Politik-Wirtschaft und Kultur wird die Entwicklung Russlands auch weiterhin prägen – und sowohl schwer verständliche Langsamkeit, aber auch unverhoffte Sprünge mit sich bringen. Eines ist allerdings klar: Die beiden oben angedeuteten Strategien in den Eliten werden vor allem davon beeinflusst werden, wie sich die »kleinen« Aufbrüche verbinden werden. Beide Wege werden mit einem passiven Konsens nicht mehr auskommen, sie brauchen in einer starken Gewerkschaft- und sozialen Bewegung Stütze und Gegengewicht.

Dr. Lutz Brangsch ist Referent für Demokratie und Staat im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

[1] Die statistischen Angaben sind, wenn nicht anders angegeben, dem online-Angebot des Statistischen Dienstes der Russischen Föderation entnommen – www.gks.ru
[2] Izrjadonova, O.: Realny sektor ėkonomiki in: Ėkonomičeskoe razvitie Rossii Nr. 3/2013, S. 19
[3] Vgl. dazu die Website der Bewegung gegen den WTO-Beitritt stop-vto.ru (Stand 14.4.2013)
[4] Volovik, N., Charina, K.: Vnešnaja torgovlja in: Ėkonomičeskoe razvitie Rossii Nr. 3/2013, S. 25f.
[5] Cuchilo, S.: Rossijskaja promyšlennoct v janvare 2013g. in: a.a.O. S. 22
[6] Vgl. www.gaidarforum.ru (Stand 4.4.2013)
[7] Vgl. me-forum.ru (Stand 4.4.2013)
[8] Vgl. www.rane.ru/novosti-media/novosti/anonsy/2356-22-23-20-l-20r.html (Stand 4.4.2013)
[9] http://me-forum.ru/about/goals/ (Stand 4.4.2013)
[10] Grinberg, Ruslan S.: Svoboda i spravedlivost. Rossijskie soblazny ložnogo vybora, Moskva 2012, S. 14. Dieses Buch (etwa »Freiheit und Gerechtigkeit. Die Russen sind zu einer falschen Wahl verführt«) versucht die Positionen, die auf dem MEF vertreten werden, theoretisch zu fundieren.
[11] Grinberg, a.a.O., S. 157
[12] Grinberg, a.a.O., S. 140
[13] Vgl. Babkin, Konstantin: Razumnaja promyschlennaja politika, ili Kak nam vyiti iz krizisa, Moskva 2011, S. 26ff. auch unter me-forum.ru/upload/iblock/2a4/2a48673eca7cc12e68a17b94d168a4e3.pdf (Stand 16.4.2013)
[14] Babkin, a.a.O., S. 48f.
[15] Vgl. z.B. me-forum.ru/media/news/1020/ (Stand 16.4.2013)
[16] Babkin, a.a.O., S. 32ff.
[17] Vgl. me-forum.ru/media/news/ (Stand 16.4.2013)
[18] Konferenzprotokoll unter me-forum.ru/upload/iblock/9b8/9b857be30d399817dc46c9be59a4f51c.pdf S. 7 (Stand 4.4.2013)
[19] Vgl. Glazev, S., Ob alternativnoy politike ustoyčivogo socialno-ėkonomičeskogo razvitija Rossii in: Mir i peremen 1/2013, S. 90
[20] Babkin, K., Ideologija razumnoy ėkonomičeskoy politiki in: Mir i peremen 1/2013, S. 81f.
[21] Vgl. ifg.rosalux.de/2010/10/04/ruth-stoljarowa-die-schule-des-kritischen-marxismus-in-russland/ (Stand 4.4.2013)
[22] Vgl. me-forum.ru/upload/iblock/765/765ee41aaa6df22fabe360336401a909.pdf (Stand 4.4.2013)
[23] Kočugova, Elena: Kollektivny razum iz Germanii, mn.ru/politics/20130415/343880592.html (Stand 17.4.2013)

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