28. Oktober 2021 Micha Brumlik: Anmerkungen zum geschichtspolitischen »Kurswechsel« des israelischen Außenministers Jair Lapid

Rassismus und Antisemitismus

Vor einiger Zeit erregte der israelische Außenminister Jair Lapid Aufmerksamkeit und Empörung – vor allem unter der israelischen Rechten –, als er in einer Rede auf dem Globalen Forum zur Bekämpfung von Antisemitismus (GFCA) vom 13. bis 15. Juli 2021 behauptete:

»Es ist für uns an der Zeit, damit zu beginnen, die wahre Geschichte über die Antisemiten zu erzählen. Antisemiten gab es nicht nur im Ghetto in Budapest. Antisemiten waren die Sklavenhändler, die gefesselte Sklaven ins Meer warfen. Antisemiten waren die Hutu in Ruanda, die die Tutsi abschlachteten. Antisemiten sind die Muslime, die im letzten Jahrzehnt mehr als zwanzig Millionen Muslime getötet haben. Antisemiten sind der IS und Boko Haram. Antisemiten sind diejenigen, die junge LGBT-Menschen zu Tode prügeln. Antisemiten sind all jene, die Menschen verfolgen, nicht für das, was sie getan haben, sondern für das, was sie sind, für das, als was sie geboren wurden.« (Zitiert in dem Beitrag von Joseph Croitoru »Judenhass ist auch Rassismus« in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.8.2021, S. 11)

Man mag in Lapids Rede eine rhetorische Übertreibung oder auch eine ernsthafte Überzeugung erkennen – gleichwohl führt nichts an einer genauen historisch-kritischen Analyse vorbei: Rassismus und Antisemitismus hängen auf das Engste miteinander zusammen, ohne jedoch miteinander identisch zu sein. Judenhass in Form des Antijudaismus existiert seit Anbeginn in der westlichen, der christlichen Kultur: Galten doch die Jüdinnen und Juden bald als »Gottesmörder« beziehungsweise als nicht wahrhaft gläubige Vertreter einer berechnenden »Werkgerechtigkeit«.

Den daraus erwachsenen Diskriminierungen und auch körperlichen Angriffen bis hin zu Pogromen konnten sich geborene Jüdinnen und Juden bis in die frühe Neuzeit durch die Taufe entziehen. Das änderte sich mit dem 16. Jahrhundert, als im katholischen Spanien verfolgte Juden und Muslime zum Christentum übertraten. Als Reaktion auf die »Scheinchristen« und die »Marranen« entstand die protorassistische Theorie der »limpieza de sangre«. Diese machte es konvertierten Juden und Muslimen unmöglich, als Christen anerkannt zu werden. Tatsächlich war dies auch eine Ursache für frühe Formen rassistischer Judenverfolgung bzw. der Verfolgung getaufter Mauren im spätmittelalterlichen Spanien. War doch diese Zuschreibung oft genug die Begründung dafür, »Marranos« oder »Moriscos« vor ein Inquisitionsgericht zu bringen, sie zum Tode zu verurteilen und grausam hinzurichten.

Micha Brumlik ist seit 2013 »Senior Advisor« am Selma Stern Zentrum für jüdische Studien Berlin/Brandenburg. Bis 2013 war er Professor für Theorien der Bildung und Erziehung und von 2000 bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte des Holocaust in Frankfurt a.M. Letzte Buchveröffentlichung »Postkolonialer Antisemitismus? Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger« (VSA: Verlag Hamburg 2021). In Sozialismus.de schrieb er in Heft 7-8/2021 »Kolonialer Völkermord im Osten Europas. Die Wehrmacht in der Sowjetunion«.

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