1. Februar 2000 Norman Paech

Recht, Demokratie und Ehre

Zwei Ereignisse binnen Jahresfrist haben die ewige Frage nach der Normalität der Bundesrepublik endgültig überflüssig gemacht. Sie sollten zudem niemanden mehr zu Illusionen über den vielleicht noch unverbrauchten Charakter der ja immer noch jungen Demokratie in Deutschland verleiten. Und sie haben mehr miteinander zu tun als auf den flüchtigen Blick zu vermuten ist: die erstmalige Beteiligung der Bundeswehr an einem Angriffskrieg und die wiederholte Überführung der politischen Parteien an der Macht wegen fortgesetzter organisierter Kriminalität.

Manche Schlaglichter dieses kurzen Jahres haben nur lang gehegte Vermutungen bestätigt: wie der alltägliche Antisemitismus der bürgerlichen politischen Klasse, der sich bislang erfolgreich hinter der Fassade der Wiedergutmachung verstecken konnte, oder die mafiose Verstrickung von Politik und Kapital, die man lange Zeit als italienische Krankheit unter publizistische Quarantäne stellte und streng von der Korruption zu trennen wusste, die Strauß in der deutschen Politik hoffähig machte. Auch die bedenkenlose Instrumentalisierung von Faschismus, Holocaust und Menschenrechten zur politischen Abtragung der eigenen historischen Hypothek und Rechtfertigung des aktuellen Schlachtfeldes war keine Überraschung. Vielen wird auch die Schwäche des christlichen Pazifismus und die Liquidierung des aus der Gewerkschaftsbewegung kommenden Rufs »Nie wieder Krieg« nicht allzusehr verwundert haben. Verwundern sollte aber doch die souveräne Missachtung von Demokratie und Gesetz sowie die offensive Verteidigung dieser Rechtsverstöße, die beiden Ereignissen gemeinsam sind, wenn sie auch von verschiedenen Parteien stammen. Da sind keine Unterschiede mehr zu den Demokratien unserer Nachbarstaaten – das System Kohl, um bei ihm zu bleiben, ist allenfalls die rheinische Variante der politischen Kriminalität.

Die gegenwärtige Strategie der Bearbeitung dieses durchaus amüsanten und unterhaltsamen Kapitels der Beziehungen zwischen Kapital und Politik besteht in der Isolierung der Details voneinander. Die Fragmentierung des ganzen Gemäldes in einzelne Personen, einzelne Transaktionen und Affären, die Lokalisierung der Korruption und Bestechlichkeit und die Parzellierung der Interessen sollen den Blick auf das Ganze stören. Es soll vom internen Zusammenhang von privaten Kapitalinteressen und öffentlicher Herrschaft, der dieses Syndrom von Korruption, Bestechlichkeit, Drohung und Erpressung bis hin zum Mord oder Selbstmord offensichtlich notwendig produziert, abgelenkt werden. Das bunte Treiben der Makler und Dealer, Mittler, Schieber, Kofferträger, Prinzen und Zaunkönige wird in den Vordergrund geholt, um dahinter die graue Verklammerung von ökonomischer Macht und politischer Herrschaft im Ungefähren verschwimmen zu lassen. Das System Kohl sei eine heilbare Krankheit, das System dieses Kapitalismus ansonsten gesund, lautet die Devise.

Ein zentraler Angelpunkt unserer bürgerlichen Demokratie ist die Rechtsstaatlichkeit politischer Herrschaft, die in einem parlamentarischen System entscheidend von den Parteien abhängt. Wenn Manfred Kanther auf einer Fachtagung zur Inneren Sicherheit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Jahre 1993 sagte: »Ohne einen allgemein zu beachtenden Konsens über Recht und Ordnung kommt keine Gesellschaft aus. Dieser Konsens besteht darin, dass die Gesetze für alle gelten und gegen jedermann durchgesetzt werden müssen... wir dürfen keinen selektiven Rechtsgehorsam zulassen. Rechtsverwirklichung und Rechtsverfolgung müssen grundsätzlich lückenlos sein, sonst verliert das Recht seine Autorität,« formuliert er damit in der Tat die Essenz des Rechtsstaatsprinzips. Diese Art von Äußerungen gehört zum festen Haushalt jeder Regierung, beiderseits des Atlantiks. Madeleine Albright beschwor in ihrer großen Rede zur amerikanischen Außenpolitik im Dezember 1998 dreimal die »rule of law« als unverzichtbare Bedingung und Grundlage der internationalen Beziehungen, bevor sie gut ein Jahr später zum Angriff auf Jugoslawien und das Völkerrecht loszog. Nur wer keinen Ausweg aus dem Zusammenbruch seiner Geschäfte und dem Desaster seiner Moral mehr sieht, reduziert sein Rechtsverständnis auch öffentlich auf das Gesetz der Ganoven, das Ehrenwort.

Der Vorwurf, diese Politiker hätten ein gebrochenes Verhältnis zum Recht, meint nichts anderes als dass sie zwar unbedingten Gehorsam von Volk und Staaten fordern, sich selbst ihm aber immer wieder entziehen. Ihre Position ist taktisch und sie nutzen den Doppelcharakter des Rechts als Herrschaftssicherung und Herrschaftskontrolle. Sie schöpfen die Möglichkeiten zur Verschärfung des Rechts bis an die Grenzen des parlamentarischen oder internationalen Widerstandes aus, unterlaufen aber gleichzeitig die Selbstbindung und Eigenkontrolle durch Ausnahmeklauseln, die erstaunlich offen die eigene Unantastbarkeit garantieren. So verfolgen zwar die internationalen Tribunale zu Jugoslawien und Ruanda die Verbrechen der örtlichen Rivalen, die NATO hat jedoch nichts zu befürchten. Und die USA haben ganz unverblümt die Zuständigkeit des 1998 in Rom verabschiedeten Internationalen Strafgerichtshofs für ihre Staatsbürger abgelehnt. In unserem nationalen Strafrecht treffen wir auf eine Vorschrift wie den § 129 Strafgesetzbuch: »Wer eine kriminelle Vereinigung bildet, sich als Mitglied an einer solchen beteiligt, für sie wirbt oder sie unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.« Wer denkt dabei schon an die Parteien? Realistischerweise die Parteien selbst, da sie als Gesetzgeber im Bundestag einen Absatz 2 hinzugefügt haben, der die Anwendung des Paragraphen ausschließt, »wenn die Vereinigung eine politische Partei ist, die das Bundesverfassungsgericht nicht für verfassungswidrig erklärt hat.«

Zur Begründung dieses zwar nicht kompletten aber doch weitgehenden strafrechtlichen Schutzes wird auf das so genannte Parteienprivileg verwiesen, welches den Parteien 1949 zum ersten Mal in der deutschen Geschichte einen Platz in der Verfassung bescherte. Denn in einem parlamentarischen System werden Herrschaft und Recht in entscheidender Weise durch die Parteien vermittelt. Wer ihre Führungsriegen kaufen kann, kauft die Republik – das war die Lehre aus den Millionen, die aus den schwarzen Kassen des Flick-Konzerns bar in die Führungsetagen der Parteien flossen. Schon lange bevor die Parteien endlich 1967 den Auftrag des Grundgesetzes zu einem Parteiengesetz erfüllten, hatte bereits 1958 das Bundesverfassungsgericht versucht, die Käuflichkeit der Politik durch die Industrie in überschaubaren Grenzen zu halten: Es verbot die Steuerbegünstigung von Parteispenden und die Einrichtung von Geldwaschanlagen, die zwischen die Firmen und die Parteien gebaut wurden. Vergeblich, wie der Flick-Skandal zeigte. Die nachfolgenden, Jahrzehnte langen Auseinandersetzungen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Parteien um die Begrenzung und Offenlegung ihrer Geldquellen waren letztlich nur Spiegelgefechte. In der Gestalt des Gesetzgebers dehnten die Parteien immer wieder die vom Gericht gezogenen Grenzen aus, um in der Schemengestalt der kriminellen Vereinigung diese Grenzen gleichzeitig zu unterwandern. Erst 1994 enden diese Kämpfe mit der Neufassung von Parteiengesetz und Steuergesetzen, die die Stückelung der Spenden erschweren, die Rechenschaftspflicht verschärfen und die staatliche Wahlkampfkostenerstattung an die tatsächlich abgegebenen Stimmen koppelt. Wer allerdings glaubte, dass damit auch die unterirdischen Verbindungen von Kapital und Politik an die Oberfläche der legalen Öffentlichkeit gehoben werden konnten, sieht sich schon jetzt wieder getäuscht. Recht soweit möglich, Ehrenwort wenn nötig. Die Diskussion der Parteienfinanzierung hat zwischen staatlicher und privater Finanzierung alle Varianten durchlaufen, ohne der immer wieder anbrandenden Gewalt des Geldes wirksame Dämme zum Schutz der politisch-sozialen Gewaltenteilung, von Demokratie und Recht entgegenstellen zu können. Weder das Verbot der Spenden noch die Einstellung der staatlichen Finanzierung, weder die vollkommene Transparenz der Herkunft der Spenden noch die stärkere Alimentierung der Parteien durch den Staat garantieren das politische Ideal der in Art. 20, 21, 38 und 9 Grundgesetz kodifizierten Vorstellung von politischen Parteien, die allein aus der Mitgliedschaft und dem Auftrag der Wähler ihre demokratische Legitimation beziehen. Die Parteien selbst, in Gestalt des Gesetzgebers, mögen zwar die Selbstkontrolle in verschiedenen Details verschärfen, die Gefahr der Verselbständigung gegenüber den Wählern durch fremdfinanzierte Loyalitäten ist dadurch nicht gebannt. Wo Politik als Ware käuflich zu erwerben ist, bestimmt der Preis die Politik. Man mag das bestrafen, aber die Bestrafung der organisierten Kriminalität hat diese selbst nicht beseitigt. Gleichwohl sollte man darauf nicht verzichten, um nicht den Anspruch von Demokratie und Recht aufzugeben.

Wo Hase und Igel nur unterschiedliche Kostümierungen derselben Parteien sind, hat der Hase (Gesetzgeber) schlechte Karten. Bessere hätten nur die Wähler. Sie könnten eine Partei untergehen lassen, ohne dass gleich das System kollabiert. Sie hätten die Macht zur Parteierneuerung, zumindest zeitweilig. Unser Problem ist, dass die konservativen bürgerlichen Parteien Politiker von höherer politischer Moral brauchen als etwa die Bündnisgrünen oder die PDS, da sie den Verlockungen und dem Druck der Firmenlobby weit heftiger ausgesetzt sind. Schaffen wir also ein System, das Politiker mit nur durchschnittlicher moralischer Widerstandskraft verträgt – wenn es auch gegenwärtig so scheint, als sei es gleich vergeblich die Gesellschaft wie den Menschen zu verändern.

Norman Paech ist Professor für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg.

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