1. Oktober 2008 Richard Lauenstein

Rechten Meinungsmachern nicht das Feld überlassen!

Politische Kabarettisten wie Urban Priol, Georg Schramm und Volker Pispers haben es nicht unbedingt leicht. Was sie gezielt überzeichnen, um es deutlicher auf den Punkt zu bringen, wird von der tatsächlichen Entwicklung immer schneller realsatirisch überholt. Ihre Stichwortlieferanten, viele Akteure der "politischen Klasse" haben es allerdings auch nicht leicht. Wachsende Teile der Bevölkerung wollen nicht mehr so, wie sie und diejenigen, deren Interessen sie hauptsächlich vertreten, es gerne hätten.

Gäbe es etwa eine Volksabstimmung zum wirtschafts- und militärpolitisch brisanten "EU-Reformvertrag", läge Irland politisch vermutlich näher an Deutschland als geografisch. Die Mehrheit der Bevölkerung hat längst genug von der fortwährenden Umverteilung von unten nach oben, von explodierenden Managergehältern bei anhaltender Massenarbeitslosigkeit, zunehmender prekärer Beschäftigung und sinkenden Reallöhnen und -renten. Sie will auch keine Kriegseinsätze deutscher Militärs und schon gar nicht deren Ausweitung.

Einige führende Köpfe der seit Gerhard Schröder neoliberal aufgestellten Sozialdemokratie reagieren darauf nach dem Motto "Jetzt erst recht!" – zusätzlich getrieben durch den Druck der konservativen Konkurrenz und der meisten Medien. Andere denken besonders laut darüber nach, was politisch und in den Köpfen der Menschen geändert werden müsste, um das "Weiter so!" nicht zu gefährden. Man will weiter von denen gewählt und toleriert werden, um deren Zukunft es dabei geht. Dass mitunter auch Ideen geäußert werden, die kritische Zeitgenossen zweifeln lassen, ob sie eher darüber lachen oder besorgt sein sollen, darf nicht verwundern.

So warnte Altbundespräsident Roman Herzog angesichts einer minimalen, deutlich unter den Teuerungsraten der letzten Jahre liegenden außerplanmäßigen Erhöhung der gesetzlichen Altersrenten um 1,1% am 11. April 2008 in der "Bild"-Zeitung theatralisch vor einer "Rentnerdemokratie".

Während der Vorsitzende der CDU-Seniorenvereinigung Otto Wulff diese Warnung als "groben Unfug" bezeichnete, preschte ein anderes Mitglied des CDU-Bundesvorstandes, der RCDS-Vorsitzende Gottfried Ludewig, mit dem Vorschlag vor: "Diejenigen, die den deutschen Wohlfahrtsstaat finanzieren und stützen, müssen in diesem Land wieder mehr Einfluss bekommen. Die Lösung könnte ein doppeltes Wahl- und Stimmrecht sein." Allein mit "Hartz-IV-Beziehern und Rentnern" könne der soziale Ausgleich in Deutschland nicht funktionieren. Die FDP wies diesen Vorstoß als "Entmündigung der Wähler" zurück.

In Äußerungen wie von Herzog und Ludewig kommt erneut die alte Technik des "Teile und Herrsche" zum Tragen, mit der legitime Interessen und Ansprüche verschiedener Bevölkerungsgruppen so gegeneinander ausgespielt werden, dass im Ergebnis Dritte davon profitieren. In jeder Gesellschaft müssen die Güter und Leistungen für die noch nicht bzw. nicht mehr im Arbeitsleben Stehenden von der aktiven Arbeitsbevölkerung erwirtschaftet werden. Die enorm gesteigerte Produktivität ließe dies auch bei uns trotz sinkender Bevölkerungszahlen ungeschmälert zu. Seit es nach dem Militärputsch in Chile 1973 erstmalig gelungen ist, in einem Land eine kapitalgedeckte Alterssicherung durchzusetzen, streben Neoliberale danach, möglichst überall gesetzliche Rentenregelungen zugunsten einer Privatisierung zurückzudrängen. Das entlastet alle Unternehmen auf der Kostenseite und verschafft einigen, vor allem Banken und Versicherungen, zusätzliche Gewinnmöglichkeiten.

In diesem Sinne "ruckt" auch Roman Herzog schon länger durch das Land, entweder solo oder mit seinem "Konvent für Deutschland". Letztlich geht es immer um die Durchsetzung solcher "Reformen", bei denen viele zu Gunsten weniger draufzahlen müssen. Wochen vor seiner Warnung vor einer "Rentnerdemokratie" hatte er angesichts der wachsenden Schwierigkeiten, nach dem Auftreten der LINKEN als fünfte parlamentarische Kraft stabile Regierungsmehrheiten zu bilden, eine Wahlrechtsreform angemahnt – sonst drohten Minderheitsregierungen und ein Kanzler, der im Ausland nur als "lahme Ente" wahrgenommen werde.

Unter Berufung auf eine vom Stipendiaten Gary Merrett verfasste Studie der Friedrich-Naumann-Stiftung beklagten die niedersächsischen FDP-Abgeordneten Gabriela König und Björn Försterling, in Schulbüchern für niedersächsische Gymnasien werde die "freie Marktwirtschaft" häufig falsch dargestellt und eine antikapitalistische Grundstimmung vermittelt.

Merrett kann sich gar nicht darüber beruhigen, dass in Deutschland der Staat doch tatsächlich fast das komplette Bildungswesen übernommen habe. Im Bereich der ökonomischen Bildung werde zusätzlich konsequent ökonomischer Nonsens mit antikapitalistischem Beigeschmack serviert. Den Schulbuchautoren wirft er u.a. vor, keine begeisterten Freihändler zu sein, den Kauf von Fair-Trade-Produkten vorzuschlagen, Zusammenhänge zwischen Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit zu behaupten und dem Staat eine ausgleichende Rolle zuzuschreiben. Wen könne es da noch verwundern, dass immer mehr junge Menschen sich Vereinigungen wie attac anschlössen, zu Staatsgläubigkeit neigten und umfassende Ansprüche an den Staat stellten. "1990 glaubte man den Sozialismus endlich aus Deutschland vertrieben zu haben. Doch der Sozialismus ist nicht tot – er lebt in vielen Schulbüchern weiter." (Welt Online, 16.4.2008)

Redakteure und Vertreter der Schulbuchverlage wiesen diese Kritik als "reine Meinungspeitsche" zurück. Die FDP meine wohl, man müsse ihr Parteiprogramm in den Schulbüchern abdrucken. Auch Kultusministerin Elisabeth Heister-Neumann widersprach der Einschätzung der FDP-Abgeordneten und sah auch keine Notwendigkeit, den Verlagen zusätzliche Auflagen zu machen. Das Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung kommt in einer Studie über 140 deutsche, englische und schwedische Schulbücher zu dem Ergebnis, Unternehmen und Wirtschaft würden "erstaunlich differenziert" dargestellt.

In den Äußerungen von Merrett, König und Försterling offenbart sich einmal mehr der tumbe Wirtschaftsliberalismus und Marktradikalismus, dem die FDP sich anders als zu Zeiten von Karl-Hermann Flach und den "Freiburger Thesen" inzwischen hingegeben hat. Die komplexe Welt der heutigen Ökonomie aus subjektiven Nutzenkalkülen deduzieren zu wollen, ist an Schlichtheit kaum zu überbieten.

Dass ihre Glaubenssätze bestimmten Interessen Vorteile verschaffen, ist noch kein Wahrheitsbeweis. Auf lange Sicht, so Ernst Bloch, sei etwas nicht deshalb wahr, weil es nutze, sondern nur das könne etwas nutzen, was wahr sei, was tatsächlich stimme. Ob Theorien ihre Gegenstände aber adäquat und logisch widerspruchsfrei spiegeln, muss historisch-konkret geprüft werden.

An der vordersten Front des niedersächsischen Kampfes gegen den Sozialismus stehen allerdings nicht die wackeren "Anti-68er" von der FDP-Fraktion, sondern der als "harter Hund" bekannte Innenminister Uwe Schünemann. Im Verfassungsschutzbericht 2007 und in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Kreszentia Flauger (DIE LINKE) stellte er fest, der von der LINKEN benutzte Begriff des "demokratischen Sozialismus" sei nur scheinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar. Im besonderen nicht damit kompatibel seien die Ziele der Entprivatisierung bestimmter Wirtschaftsbereiche ("Wirtschaftsdemokratie") im Zusammenhang mit der Überwindung des Kapitalismus sowie die Bekenntnisse zu den Theorien von Karl Marx. So werde auf der Grundlage des "Basis-Überbau-Modells" davon ausgegangen, dass die Veränderung des Wirtschaftssystems auch eine der Staatsform nach sich ziehen müsse.

Die neue Partei, praktisch längst eine eher linkssozialdemokratische Formation, wird immer noch per amtlichem Federstrich zum Wiedergänger der SED erklärt – frei nach dem Motto: Wenn sie sich von diesem Teil ihrer Vergangenheit nicht distanziert, ist sie verwerflich, und wenn sie es – wie schon viele Male geschehen – tut, glauben wir es ihr auch nicht.

In anderen Staaten wird meist souveräner damit umgegangen, dass die historisch aus der Sozialdemokratie hervorgegangenen kommunistischen Parteien nach der Implosion des Realsozialismus inzwischen zu großen Teilen in die sozialdemokratische Welt zurückgekehrt sind und diese selbst sich aktuell neu ausdifferenziert und aufstellt. Hierzulande gilt die LINKE – wie ehedem die Grünen – in erster Linie noch als lästige Störgröße, die von einigen, durchaus nicht von allen Vertretern des politischen Establishments, auch mit staatlichen Mitteln klein zu halten versucht wird. Vielleicht ändert sich das erst, wenn es auch zwischen CDU und LINKEN zu Koalitionen kommt. Manche Anzeichen aus Sachsen-Anhalt und Brandenburg versprechen eine interessante Entwicklung.

Deutlich sind die weit über die LINKE hinausreichenden Verdikte gegen "demokratischen Sozialismus", "Wirtschaftsdemokratie" und marxistisches Denken.

Demokratische SozialistInnen, ob marxistisch inspiriert oder nicht und gleich ob und wie organisiert, eint die Überzeugung: Die großen gesellschaftlichen Probleme dieser Zeit sind wenn, dann nicht durch weniger, sondern nur durch mehr Demokratie in allen Bereichen zu lösen. Politische Selbstbestimmung und wirtschaftliche Fremdbestimmung und Übervorteilung der Masse der Bevölkerung gehen auf Dauer nicht zusammen. Die politische Demokratie muss zur wirtschaftlichen und sozialen weiterentwickelt werden. Nach 1945 glaubte das einen (taktischen?) Moment lang sogar die CDU.

Demokratische SozialistInnen setzen sich dafür ein, dass die Grundrechte der Menschen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern auch praktisch-materiell fundiert und ausgeweitet werden in Richtung einer umfassenden Teilhabe aller an der Verfügung über die gesellschaftlich relevanten Lebensbedingungen.

Demokratie braucht Sozialismus, den Abbau und die schließliche Überwindung unwürdiger Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse. Und Sozialismus geht schon gar nicht ohne Demokratie, ohne gesicherte und gestärkte Grundrechte, Eigentumspluralismus, freie Wahlen, Mehrparteiensystem, Gewaltenteilung, freie Medien und unabhängige Gewerkschaften.

Die Verfassung der Bundesrepublik schreibt als Konsequenz der Erfahrungen mit Weimarer Republik und Faschismus zwingend einen demokratischen und sozialen Bundesstaat vor. Die Frage der Wirtschaftsverfassung ist nach wie vor offengelassen; möglich sind sowohl Privatisierungen als auch Vergesellschaftungen. Dass diese Orientierung Parteigängern einer Kapitalvorherrschaft gründlich gegen den Strich geht, ändert keinen Deut an ihrer historischen und demokratischen Legitimität.

Empörend ist die Stigmatisierung des Begriffs "Wirtschaftsdemokratie", der auf ein bis heute aktuell gebliebenes, 1928 dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund vorgestelltes Konzept des sozialdemokratischen Ökonomen Fritz Naphtali und seiner Mitarbeiter zurückgeht. Naphtali emigrierte 1933 nach Palästina, arbeitete dort als Dozent, Kommunalpolitiker, Gewerkschafter und Leiter einer Arbeiterbank und gehörte als Mitglied der sozialdemokratischen Mapai dem israelischen Parlament sowie mehreren Regierungen als Minister an. Ihm ging es darum, "Schritt für Schritt" eine kapitalistische Wirtschaft und Gesellschaft in eine sozialistische umzugestalten. Dazu gehörten für ihn zwingend eine Demokratisierung des Bildungssystems, des Arbeitsverhältnisses und der Wirtschaftsführung.

Dass die modernen Sozialwissenschaften viel dem Wirken von Karl Marx verdanken, werden ernsthafte Kenner der Materie nicht bestreiten. Karl Marx, Friedrich Engels und August Bebel als Vordenker einer ehedem kämpferischen Sozialdemokratie haben auch bereits für die Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse gestritten, als die ideologischen Vorläufer heutiger Konservativer und mancher Liberaler noch dem halbfeudalen preußisch-deutschen Obrigkeitsstaat mit seinem Klassenwahlrecht oder anderen Staatsgebilden "von Gottes Gnaden" huldigten. Das "Manifest" von Marx und Engels gilt noch heute als ein Gründungsdokument der modernen sozialen Bewegung, die sich in Fortführung der Impulse der Aufklärung einer nicht bloß politischen, sondern allgemein menschlichen Emanzipation verschrieben hat.

Dass spätere Parteikommunisten die diktatorischen Regime nachholender Industrialisierung und Modernisierung und staatssozialistische Systeme wie die CSSR und die DDR als authentische Umsetzungen Marxscher Ideen hingestellt und Zweifel und Kritiker, darunter viele Marxisten, massiv unterdrückt haben, ist dem politisch aktiven Philosophen und Wissenschaftler gerade nicht anzulasten. Generationen von Sozialdemokraten, Linkssozialisten, demokratischen Kommunisten und auch Linksliberalen haben der sowohl von Parteikommunisten als auch von bürgerlichen Gegnern vorgenommenen interessierten Gleichsetzung energisch widersprochen.

Marxens Denkansatz kannte keine fix und fertigen Utopien, keine Rezepte für die Garküchen der Zukunft, keine abgeschlossenen Welterklärungen, sondern beinhaltete vor allem eine kritische Herangehensweise an theoretisch und praktisch bedeutsame Fragestellungen. Marx hat Leitfäden zum Studium, konkrete Analysen und Prognosen geliefert, die falsifizierbar blieben.

Das "Basis-Überbau"-Theorem ist ein gesellschaftswissenschaftlicher methodologischer Hinweis. Es besagt, dass unter den Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen die Menschen ihre Geschichte selbst machen, die ökonomischen die schließlich entscheidenden, in letzter Instanz grundlegenden sind und dass die konkreten Wechselbeziehungen zwischen den ökonomischen und den auf ihrer Basis existierenden und sich entwickelnden nichtökonomischen Seiten einer Gesellschaft in jedem einzelnen Fall besonders zu studieren sind. Nicht dass, sondern wie sie zusammenhängen und -wirken, ist immer wieder neu herauszufinden.

Im Hinblick auf einige übereifrige zeitgenössische Epigonen und Vereinfacher hat er festgestellt, alles was er wisse, sei, dass er kein "Marxist" sei. Sein Lieblinsmotto lautete "de omnibus dubitandum", an allem sei zu zweifeln, und klar blieb für ihn immer, die arbeitende Bevölkerung könne sich nur selbst emanzipieren.

Diesen Denkansatz ausgrenzen zu wollen, bedeutet die Beiträge von Karl Marx, Friedrich Engels, August Bebel, Klara Zetkin, Rosa Luxemburg, Rudolf Hilferding, Otto Bauer, Karl Korsch, Bertolt Brecht, Ersnt Bloch, Theodor W. Adorno, Erich Fromm, Wolfgang Abendroth, Otto Brenner, Willi Bleicher, Peter v. Oertzen, Oskar Negt, Wolfgang Fritz Haug, Frigga Haug, Elmar Altvater, Joachim Bischoff und vielen anderen auszugrenzen. Sind wir schon wieder so weit?

Die hier behandelten Punkte sind zu ernst, um über dem Lachen die Sorge zu vergessen. Ganz zu schweigen von manchen CDU/CSU-Plänen zum innerstaatlichen Einsatz der Bundeswehr, zum Versammlungsrecht, zur persönlichen Datenerfassung. In der Debatte zu den Notstandsgesetzen wurde Ende der 1960er Jahre mehr Kritik aus geringerem Anlass laut.

Heute würden sich viele Linke und politisch Liberale mehr Widerspruch aus den Reihen der Gewerkschaften wünschen. Auch wenn die SPD ihr linkes Terrain inzwischen kampflos einer anderen, neuen Partei überlassen hat, täte sie schon aus eigenem Interesse gut daran, nicht lediglich in Wiefelspützscher Manier damit umzugehen. Demokratie ist ein zu kostbares Gut, um es wirtschaftsliberalen und rechtskonservativen Eiferern zu überlassen.

Richard Lauenstein ist Sekretär für Bildungspolitik bei der GEW Niedersachsen.

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