24. Juni 2019 Maximilian Pichl: Zum Mordfall Walter Lübcke
Rechtsterrorismus und Staat
Der Tod des CDU-Politikers und nordhessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat zu einer breiten öffentlichen Debatte über rechtsterroristische Netzwerke geführt.
Denn es hat sich der Verdacht erhärtet, dass der Politiker durch einen oder mehrere neonazistische Täter ermordet worden sein könnte. Die Polizei nahm aufgrund von DNA-Spuren am Tatort einen Mann fest, der laut antifaschistischen Recherchen[1] lange Jahre in der extrem rechten Szene Nordhessens aktiv gewesen ist. Die Ermittlungen sind nach aktuellem Stand noch im Gange, aber schon gibt es eine Debatte darüber, ob der Festgenommene als Einzeltäter gehandelt haben könnte oder ob es weitere Unterstützer aus dem »Combat 18«-Umfeld gegeben hat. In der Vergangenheit wurden rechtsterroristische Attentate mitunter als »Amokläufe« von einzelnen verharmlost, wodurch gleichsam die ideologischen Zusammenhänge solcher Taten negiert werden. Unabhängig vom Fall Lübcke ist jedoch die Frage nach einer vermeintlichen Einzeltäterschaft bereits falsch gestellt.
Kein Attentäter aus dem extrem rechten Spektrum handelt in einem luftleeren Raum. Aus der Aufarbeitung der NSU-Mordserie wissen wir hinreichend, dass sich die späteren Täter im Zuge der Pogrome Anfang der 1990er Jahre, der daraufhin erfolgten Asylrechtsverschärfungen und durch die Inbesitznahme von demokratischen Räumen radikalisierten – gesellschaftliche Prozesse, die gerade hochaktuell sind. Die Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse im Zuge des globalen autoritären Rechtsrucks, die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren und die damit einhergehende diskursive wie physische Entfesselung extrem rechter Gewalt verdichten sich in rechtsterroristischen Attentaten, die nicht auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt bleiben (Stichwort: Christchurch-Attentat in Neuseeland). Ohnehin stellten sich viele vermeintlich isoliert agierende Einzeltäter im späteren Verlauf der Aufklärung als vernetzt heraus, man denke nur an Josef Bachmann, der Rudi Dutschke auf offener Straße anschoss und der nicht nur zur NPD, sondern auch zur sogenannten »Braunschweiger Gruppe« Kontakte unterhalten haben soll.
Aktensperrungen und -vernichtungen
Der mutmaßliche Tathintergrund holt zudem eine Episode aus dem NSU-Untersuchungsausschuss Hessen wieder hervor, in dem es um die Kenntnisse der Sicherheitsbehörden in Bezug auf das Gefährdungs- und Gewaltpotenzial der extrem rechten Szene in Nordhessen ging und der zugleich zeigt, wie die Sicherheitsbehörden eine hinreichende rechtsstaatliche Aufarbeitung verhindern.
Maximilian Pichl hat Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft studiert. Der Beitrag erschien zuerst in veränderter Form auf dem Verfassungsblog am 19. Juni 2019: verfassungsblog.de/rechtsterrorismus-und-staat/. Der Autor forscht an der Universität Frankfurt am Main und an der Universität Kassel zur rechtsstaatlichen Aufarbeitung der NSU-Mordserie und zur Krise der europäischen Migrationspolitik. Er ist (gemeinsam mit Benjamin-Immanuel Hoff, Heike Kleffner und Martina Renner) Herausgeber des Buches »Rückhaltlose Aufklärung? NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungsausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl«, VSA: Verlag Hamburg 2019; darin hat er zudem den Beitrag »Aufklärung im Parlament. Die NSU-Untersuchungsausschüsse im Vergleich« verfasst.
[1] Siehe dazu die umfassenden Beiträge von Exif Recherche (exif-recherche.org/) und NSU Watch (www.nsu-watch.info).