1. März 2005 Frank Deppe und Richard Detje

Reformsommer

Das jüngste Kapitel gewerkschaftlicher Strategiekonflikte ist so alt wie die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung. Die Themen: Wie können Gewerkschaften in einer durch Massenarbeitslosigkeit geprägten Zeit struktureller Defensive und Krise überleben? Wie kann das Projekt der sozialstaatlichen Zivilisierung des Kapitalismus für die Bedingungen des 21. Jahrhunderts erneuert – oder wenn man so will "modernisiert" – werden? Und seit der Verkündung der Agenda 2010 im Frühjahr vorletzten Jahres: Was bedeutet das politische Mandat unter den Bedingungen eines Bruchs zwischen Gewerkschaften und regierender Sozialdemokratie?

Dabei geht es nicht in erster Linie um taktische Manöver. Wie beispielsweise die auszehrenden Mitgliederverluste gestoppt werden können, ist eine Überlebensfrage. ver.di hat mit der Matrix die Organisationsreformen am weitesten vorangetrieben. In der IG Metall sind einige Bezirke zu der Auffassung gelangt, dass Mitgliederwerbung eine deutlichere Profilierung als Dienstleistungs- oder Serviceorganisation erfordert. In der IG BCE und bei Transnet setzt man auf politischen Bestandsschutz: Was für die eine Gewerkschaft die Zusicherung von Steinkohlesubventionen ist, ist für die andere das vom Verkehrsministerium abzusegnende Investitionsprogramm der Bahn. Und das Kerngeschäft, die Verteilungspolitik, scheint ihnen nach erfolgreichen betrieblichen und tariflichen Erpressungsmanövern weitgehend entglitten zu sein. So geraten sie immer tiefer in einen deflationären Zirkel sinkender Realeinkommen, ökonomischer Stagnation und anhaltenden Beschäftigungsabbaus.

Eine starke politische Dachorganisation wäre der Ort, Strategiekonflikte auszutragen. Doch eine solche Position hatte der DGB in den letzten 50 Jahren nicht, und sie wurde zuletzt auch durch die Bildung von Multibranchengewerkschaften unterlaufen. Nichts an den Füßen, profillos, schwankend – das ist zumeist das Image von DGB-Vorsitzenden. Michael Sommer machte da bislang keine Ausnahme.

Doch das soll sich ändern. Damit die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder nicht unter die "psychologisch nicht unwichtige Grenze" von sieben Millionen abrutscht, reicht es nicht aus, Beratung und Betreuung zu verbessern. Das "Image" muss stimmen. Michael Sommer gibt sich fest überzeugt: Gewerkschaften, die als "betonköpfige Bewahrer" gelten, schrecken ab. Zukunft hat nur eine "Reformkraft", "die das Interesse ihrer Mitglieder modern vertritt".[1] Bei der Wortkombination "Reform" und "modern" halten sich spätestens seit dem Frühjahr 2003 viele instinktiv die Taschen zu. Was nun? Umdenken Kollegen?

Ja und Nein! Nein, wenn die Erwartung sein sollte, dass die Verteilungsverhältnisse geändert werden müssen, um den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang der Republik zu stoppen. Eine in der jüngeren Geschichte beispiellose Stagnationsperiode, der Abbruch eines Miniaufschwungs nach wenigen Monaten, die wachsende Gefahr einer Deflation – diese Aktualisierung der Weimarer Konstellation kommt Michael Sommer noch nicht einmal als Worst-Case-Szenario in den Sinn.

Zum Umdenken, zum Räumen der Blockadeposition, fordert der Kollege Vorsitzender auf, weil "sich die Grundlagen des Sozialstaates durch die demografische Entwicklung, die anhaltende Massenarbeitslosigkeit und die Globalisierung stark verändert haben." Also doch die Taschen geschwind zunähen? Verkehrt wärs wohl nicht.

Michael Sommer ist von zentralen Gegenpositionen zur Agenda 2010 nicht mehr überzeugt. Trotz mehrfachem Gewinn der Weltmeisterschaft auf nahezu allen Exportmärkten habe die Globalisierung den Sozialstaat fest im Griff. Und die Argumentation, dass die Finanzierung einer alternden Gesellschaft eine Frage qualitativen Wachstums und einer gerechten Verteilung der Produktivitätsentwicklung ist, hält er für "zu einfach gedacht". Was ist passiert, was hat sich verändert?

Michael Sommer will Grundsatzfragen anpacken: "Worum es mir geht, ist eine grundsätzliche Diskussion über die Finanzarchitektur des Sozialstaates." Dazu springt er zunächst erschreckend kurz: "Wir können und müssen Sozialabgaben senken." Arbeit auch im Standort D billiger zu machen, ist also nicht nur für Wolfgang Clement, sondern auch für Michael Sommer eine unerlässliche Antwort auf die Globalisierung – eine Erkenntnis, die ersterer aufs wärmste begrüßt, und die letzterer durchaus ernst meint. Nicht zufällig hat kürzlich im DGB ein Vertreter der Unternehmensberatung McKinsey – die den Bundesvorstand gegenwärtig in Fragen der Kundenbindung, des "Consumer Relation Management", berät – Empfehlungen über öffentlichkeitswirksame Schwerpunktthemen bis zur Bundestagswahl 2006 zur Diskussion gestellt. Einer der "unorthodoxen" Vorschläge, die der DGB kommunizieren sollte: Die Lohnnebenkosten sind zu ... wir wissen schon.

Teil 2 der neuen Finanzarchitektur: Damit die Sozialabgaben sinken können, brauchen wir "einen höheren Steueranteil, mit dem das finanziert wird". Das Modell der Bürgerversicherung scheint dem Vorsitzenden wenig zielführend zu sein ("allenfalls ein Detail"), und die weitere Senkung der Unternehmenssteuern ("Ich wäre bereit, ... darüber zu reden") soll wohl eher aufkommensneutral erfolgen. Höhere Mehrwertsteuer? "Nein, das wäre momentan Gift für die Konjunktur." Was dann? Sollte sich der DGB-Vorsitzende stärker an skandinavischen Vorbildern der Sozialstaatsfinanzierung orientieren (was ja nicht gleich Dänemark mit seiner Tradition ausschließlich steuerfinanzierter Sozialpolitik sein muss), müsste er ein Modell propagieren, dass einen deutlich höheren Anteil des Staates am Bruttosozialprodukt vorsieht – also eine dezidierte Gegenposition zum bundesdeutschen Mainstream des Schrumpfstaates beziehen. Da allerdings nichts darauf hinweist, dass Michael Sommer sich in diese Richtung zu profilieren gedenkt, rückt er der angelsächsischen Alternative zum beitragsfinanzierten Sozialstaat näher.

Dem entspricht Teil 3 der Finanzarchitektur: die "Grundversorgung". Die muss nicht erst geschaffen werden, da sie bereits Ergebnis der Agenda 2010 ist. "Das können wir kritisieren, ändern werden wir es nicht mehr, von wichtigen Details abgesehen." Praktisch heißt das: Da das Verarmungsprogramm Hartz IV nicht mehr korrigierbar ist, sollte der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung gesenkt werden. Wenn schon Leute vor die Hunde gehen, sollte zumindest für die Konkurrenzfähigkeit des Standorts etwas davon abfallen.

Daraus folgt mit Teil 4 die Krönung der neuen Finanzarchitektur: Die auf eine Grundversorgung abgeschmolzenen Sozialstaatssysteme sollen aufgestockt werden durch "private Vorsorge". "Deshalb werden wir darüber reden müssen, welche Leistungen wir künftig solidarisch über Beiträge, welche wir über Steuern und welche wir privat finanzieren."

Dass Michael Sommer den Weg der Agenda 2010 für "unumkehrbar" hält, ist noch ein Understatement: Er hält ihn offenkundig auch für gangbar. Der Begriff der "Reform" erhält durch den DGB-Vorsitzenden keinen anderen Inhalt, keine andere Zielperspektive als durch die Bundesregierung.

Die Bundesregierung wird es schätzen, an der Spitze des Deutschen Gewerkschaftsbundes jemanden sitzen zu wissen, der die Abkehr von der – bereits erheblich ramponierten – paritätischen Sozialstaatsfinanzierung nun auch in den Gewerkschaften offensiv vertreten will. Die Legitimation für die Befreiung des Kapitals von den Kosten der Arbeitslosen-, Renten- und Gesundheitsversicherung dürfte mit dieser Unterstützung leichter fallen.

Doch weshalb eine Politik, die die Finanzierung eines rudimentärer werdenden Sozialstaats immer mehr den Lohnabhängigen erstens als Beschäftigten, zweitens als Steuerzahlern und drittens als privaten Schatzbildnern auferlegt, die Attraktivität von Gewerkschaften erhöhen soll, ist weder sachlogisch noch interessenpolitisch nachvollziehbar. Wozu sollen Gewerkschaften gut sein, die die Enteignung der Lohnarbeit auf der Ebene der Sekundärverteilung fordern?

Nachvollziehbar ist allerdings, dass Michael Sommers Versuch der Profilierung als moderner Reformer nicht nur intensiven konzeptionellen Überlegungen während des Winterurlaubs, sondern wachsendem Druck aus dem Bundeskanzleramt und dem Willy-Brandt-Haus geschuldet ist. Sollte das der Fall sein, sind die Vorbehalte aus den Reihen sozialer, zivilgesellschaftlicher Bewegungen, einflussreiche Teile der Gewerkschaften hätten den Widerstand gegen die Entsolidarisierung und Entdemokratisierung der Republik aufgegeben, nicht unberechtigt. Doch was folgt daraus? Die Gewerkschaften als Bündnispartner abzuschreiben, hätte zur Konsequenz, die Strategie der Mobilisierung der Zivilgesellschaft, in der die Gewerkschaften hierzulande ja selbst noch ein wesentlicher Bestandteil sind, gegen ein zunehmend selbstreferenzielles politisches System für gescheitert zu erklären – und mehr noch: Das würde jenen in den Gewerkschaften höchst willkommen sein, denen eine solche bündnispolitische Perspektive schon immer ein Gräuel und die Wiederherstellung einer subalternen Arbeitsteilung von Gewerkschaft und sozialdemokratischer Partei eine Herzensangelegenheit ist. Auf diesem Hintergrund könnte die Neupositionierung des DGB-Vorsitzenden auch als Signal gelesen werden, dass die Strategiekonflikte nun rechtzeitig vor der Bundestagswahl in eineinhalb Jahren entschieden werden sollen.

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