1. Januar 2003 Redaktion Sozialismus

Reformstau und rot-grüne Flickschusterei

Die SPD-Führung sieht sich von Freund und Feind ungerecht behandelt und reagiert verständnislos bis aggressiv auf die Kritik am Regierungshandeln. Die bürgerliche Opposition verweigere sich der in der Demokratie unverzichtbaren Kooperation. Dass die nationale Ökonomie nicht gut dasteht und folglich bei Sozialkassen und öffentlichen Haushalten etliche Probleme zu lösen sind, räumt Bundeskanzler Schröder ein.

Aber auch aus den eigenen Reihen wird der Vorwurf erhoben, ein politisches Projekt für die Regierungsarbeit sei bestenfalls schemenhaft erkennbar. Besonders bitter stößt der SPD-Führung auf, dass die eigene Partei in den demoskopischen Umfragen unter die 30%-Marke abgesunken ist, während der grüne Koalitionspartner sich auf deutlich über 10% verbessert hat. Das Führungsteam der SPD gibt die Botschaft aus: Es gilt am Sanierungskurs festzuhalten und darauf zu vertrauen, dass der anhaltende Widerstand in den nächsten Monaten zusammenbricht. Die Zielsetzung von Rot-Grün sei klar und könne von allen nicht voreingenommenen BürgerInnen verstanden werden: Es komme darauf an, das europäische Sozialstaatsmodell gegenüber Globalisierung und internationalen Finanzmärkten zu verteidigen. Dies könne nur gelingen, wenn seine Effizienz verstärkt wird.

Dies sieht die bürgerliche Opposition und mit ihr ein Großteil der Medien völlig anders. Für den schlechten Zustand der Ökonomie sei keineswegs in erster Linie die Weltwirtschaft verantwortlich. Deutschland sei Klassenschlechtester in Sachen Wirtschaftswachstum, weil die Regierung eine Therapie der bekannten strukturellen Defizite verschleppe – das leistungshemmende Steuersystem, die zu teure Sozialversicherung und ein bis zur Strangulation regulierter Arbeitsmarkt. Selbstverständlich seien diese strukturellen Defizite nicht erst unter Rot-Grün entstanden, aber jetzt werde die Radikalreform zu einer Überlebensfrage. Denn: "Deutschland lebt über seine Verhältnisse, der deutsche Wohlfahrtsstaat ist unbezahlbar geworden." Teile der bürgerlichen Opposition rütteln im Verein mit dem Großteil der wirtschaftlichen Elite mit vollem Bewusstsein am Grundkonsens der westdeutschen Nachkriegsentwicklung: der "sozialen Marktwirtschaft".

Stimmt diese Fundamentalkritik? Bislang registrieren wir in der Berliner Republik immer noch einen Zuwachs des gesamtgesellschaftlichen Produkts. Die offenkundige Abschwächung hat selbst den Analysen der internationalen Wirtschaftsorganisationen und Banken zufolge einen eindeutigen Grund: Die zumindest unter ökonomischem Blickwinkel missratene feindliche Übernahme der DDR ist für zwei Drittel der Abschwächung der Zuwachsraten beim Wirtschaftswachstum verantwortlich. Kohl & Co. wollten die Vereinigung aus der Portokasse zahlen. Faktisch ist der Großteil der Kosten bis heute aus den Sozialkassen – Rentenversicherung, Bundesanstalt für Arbeit, Krankenversicherung – aufgebracht worden. Wenn heute ein wachsender Teil der Aufwendungen für das Sozialsystem über die Steuern bezahlt wird, dann ist dies das Resultat der hohen Arbeitslosigkeit und der Überforderung durch die Kosten der Einheit. Schlussfolgerung: Deutschland lebt nicht über seine Verhältnisse, die Republik ist auch keineswegs ein Bremsklotz für den internationalen Konjunkturzug, aber angesichts der weltwirtschaftlichen Entwicklungstendenzen sind bei den nationalstaatlichen Verteilungsverhältnissen tektonische Verschiebungen zu verzeichnen.

BürgerInnen, die in allererster Linie vom Arbeitseinkommen leben, fühlen sich vom Fiskus ausgequetscht. All jenen, die überwiegend von Kapital- und Vermögenseinkommen leben, fehlt jedes Verantwortungsbewusstsein dafür, dass auch diese Einkommensarten zur Finanzierung von sozialen und öffentlichen Leistungen beitragen müssen. Schon für die letzten Jahre gilt: Die Finanzierung des Gemeinwesens basiert überwiegend auf den Arbeitseinkommen, weil die Steuer- und Abgabenpolitik die Kapital- und Vermögenseinkommen massiv begünstigt. Die Steuersenkungen auf Arbeitseinkommen – wegen der Flutkatastrophe ist die nächste Runde auf 2005 verschoben – ändern an dieser einseitigen Belastung wenig; sie werden überkompensiert durch den Anstieg der Sozialabgaben.

Die Krönung der rot-grünen Konzeptionslosigkeit ist die Abgeltungssteuer für Zinserträge. Monatelang war insbesondere von Gewerkschaften – ver.di und IG Metall – im Verein mit sozialdemokratischen Landesregierungen für die Wiedererhebung einer Vermögenssteuer gestritten worden. Ab dem 1. Januar 2003 soll nun die bisherige 30%ige Zinsabschlagsteuer (Ertrag: 8,5 Mrd. EUR) durch eine auf 25% herabgesetzte Abgeltungssteuer ersetzt werden, die nach Einschätzung z.B. des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle zunächst einmal bis zu 3 Mrd. weniger in die Kassen bringt – gegenüber einer Vermögensbesteuerung mit seriös kalkulierten Mehreinnahmen in Höhe von 15 Mrd. EUR. Des Kanzlers Gegenrechnung, wonach die Repatriierung von Steuerfluchtgelder in der Größenordnung von 100 Mrd. EUR. einmalig 25 Mrd. bringen würde, ist reine Rosstäuscherei. Allenfalls mit "ein paar Milliarden" Rückführung rechnet das ifo-Institut. Und das Beispiel Italien ist bestenfalls ein Beleg für luxuriöse Steuergeschenke: Dort liegt die Abgeltungssteuer bei 2,5% (bzw. bei Null, wenn man Staatsanleihen zeichnet): Ertrag 1,35 Mrd. EUR. Jenseits wie diesseits der Alpen: Die Vermögenseinkommen werden weiter begünstigt, der Grundsatz sozialer Gerechtigkeit massiv verletzt.

Kein Wunder, dass der rot-grünen Koalition an einer Aufklärung über die realen Verteilungsverhältnisse nicht gelegen ist. Die Regierung hofft – wie schon in den letzten zwei Jahren – auf einen Wirtschaftsaufschwung, der zumindest eine Atempause schaffen soll. Freilich fehlt dieser Hoffnung der ökonomische Unterbau. Zum Jahresende 2002 sind die Prognosen von vielen wirtschaftswissenschaftlichen Instituten erneut zurückgenommen worden. Die meisten Schätzungen liegen bei einem für 2003 zu erwartenden Wirtschaftswachstum von 1%. Schon die Realisierung dieser Größe würde der rot-grünen Koalition weitere Turbulenzen bescheren. Denn Finanzminister Eichel hat die Haushaltsplanung auf einem Wachstum von 1,5% aufgebaut. Man muss der Koalitionsregierung nicht – wie der französische Ministerpräsident – eine "brutale Wirtschafts- und Finanzpolitik" attestieren, die die Entwicklung im gesamten EU-Raum gefährde. Aber zutreffend ist zweifellos, dass viele der eingeleiteten Maßnahmen auf eine Gefährdung des Wachstumszieles hinauslaufen.

  Die Arbeitslosenzahlen werden bis zum Februar 2003 auf wenigstens 4,5 Millionen ansteigen.

  Allein bei den Arbeitslosen werden 7 Mrd. EUR Kürzungen vorgenommen – das Gros der so genannten "Einsparungen" zwecks Haushaltskonsolidierung. Das Zusammenspiel von Sozialleistungskürzungen und einer erhöhten Sparquote wird das Wirtschaftswachstum weiter schwächen.

  Die Unternehmensinsolvenzen und Konkurse von Privathaushalten werden mit über 80.000 Fällen eine neue Rekordmarke erreichen.

Im ersten Halbjahr 2003 wird die Wirtschaft kaum aus der Stagnation herauskommen, was weitere "Nachbesserungen", d.h. weitere Kürzungen und Einnahmeerhöhungen in allen Sozialkassen, provoziert. Sollten zudem die USA den angedrohten Krieg gegen den Irak wahr machen, wird die Globalökonomie – mindestens kurzfristig – auf Talfahrt gehen. Auch die langfristigen ökonomisch-finanziellen Folgen eines solchen Krieges werden negativ sein. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht die Finanzlasten für eine Militäraktion von vier bis sechs Wochen, die von Experten mit ca. 200 Mrd. $ angegeben werden. Die Veränderung der Ölpreise und die Auswirkungen auf die gesamte Ökonomie des Nahost-Raumes werden die konjunkturellen Auftriebkräfte schädigen.

Schlussfolgerung: Solange die SPD Aufklärung über die wirklichen Verhältnisse für politisch nicht zielführend hält, die verträumte sozialistische Linke in einen schrulligen Streit zwischen konzeptionsloser Regierungsbeteiligung und wenig auf politische Alternativen zugespitzter Oppositionspolitik verstrickt ist, wird die Parteienverdrossenheit und damit der Erosionsprozess des parlamentarischen Systems weiter zunehmen. Die zivilgesellschaftlichen Organisationen sind gefordert, damit diese Entwicklung nicht in Fatalismus und Rechtspopulismus umschlägt.

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