28. August 2023 Richard Detje: Theo Steegmann 1.12.1955–25.7.2023

Rheinhausens Gesicht

Theo Steegmann traf ich das erste Mal Mitte Dezember 1987. Gut zwei Wochen zuvor, am 26. November, hatte der Krupp-Vorstandsvorsitzende Gerhard Cromme angekündigt, das Hütten- und Bergwerk in Duisburg-Rheinhausen, in dem über 6.000 Kolleg*innen arbeiteten, zu schließen.

Ich wurde durch ein Werk im Ausnahmezustand geführt. Verabredet war ein Interview über Perspektiven des Widerstands der Belegschaften in der Stahlkrise, die bereits in Hattingen in der Henrichshütte, in der Maxhütte in Sulzbach-Rosenfeld und zahlreichen anderen Standorten gewütet hatte.

Vier Jahre zuvor hatten die Delegierten des Gewerkschaftstags der IG Metall (gegen die Empfehlung des Vorstands) die »Überführung von Schlüsselindus­trien und marktbeherrschenden Unternehmen in Gemeineigentum« und damit insbesondere die »Vergesellschaftung der Stahlindustrie bei demokratischer Kontrolle« gefordert – doch daraus folgte zunächst wenig. Nun war es anders: Am 10. Dezember 1987 legten 100.000 Stahlarbeiter die Arbeit nieder – der Verkehr im Revier ruhte. Alle Zufahrtswege nach Rheinhausen waren blockiert.

Der zweite Betriebsratsvorsitzende Theo Steegmann war schwer zu finden – irgendwo in den riesigen Hallen sollte er sich aufhalten. Auf der Suche kam ich in den Genuss einer einmaligen Werksbesichtigung. Schließlich fanden wir ihn. Er führte mich zu seinem Büro, musste nur kurz noch einmal telefonieren. Da saß er: an seinem Schreibtisch, hinter ihm ein großes Poster von Rosa Luxemburg. Ich dachte: Die Idee der sozialen Emanzipation durch die revolutionäre Umwälzung der herrschenden Verhältnisse kann also doch konkret werden.

Es wurde ein sehr langes Interview, das 1988 in der Januar-Ausgabe dieser Zeitschrift (notwendigerweise stark gekürzt) veröffentlicht wurde. Wir kamen schnell über die Nachzeichnung der aktuellen Entwicklung hinaus auf strategische Fragen, wie diese, O-Ton: »Entscheidend ist, dass die IG Metall ihre Politik ändert. Sie fordert nach wie vor: Erhalt aller Stahlstandorte. Diese Forderung ist m.E. überholt, nicht mehr glaubwürdig und zugkräftig, denn die Unternehmer haben mittlerweile mit der Maxhütte, Oberhausen, der Mittelbandstraße bei Krupp in Leverkusen und in Hattingen vier Standorte kaputtsaniert. Wie lange soll da die Forderung ›Sicherung aller Standorte‹ noch halten? Wir brauchen eine regional ausgewogene Strukturpolitik, die konkret aufzeigt, wo welche neuen Arbeitsplätze geschaffen werden können.«

Das markierte entscheidende Punkte. Neben dem Kampf für die 35-Stunden-Woche prägten die Auseinandersetzungen um regionale Beschäftigungs-, Industrie- und Strukturpolitik die 1980er-Jahre, in denen ganz praktische wirtschaftsdemokratische Alternativen durchdiskutiert wurden, die noch heute Anregungsqualität haben. Das Beeindruckendste war, in welchem Maße die Belegschaften und ihre Interessenvertretungen voneinander lernten, sei es mit Blick auf betriebliche Aktionsformen bis hin zu Betriebsbesetzungen oder auf regionale Bündnisse, die weite Teile der Zivilgesellschaft in die Aktionsplanungen einbezogen. Etliche dieser Debatten fanden auch im Forum Gewerkschaften dieser Zeitschrift statt, in dem Theo lange Jahre mitarbeitete.

Das Werk in Rheinhausen wurde 1993 geschlossen und »plattgemacht« – Vorruhestands- und Sozialplanregelungen sorgten dafür, dass der Weg nicht in Arbeitslosigkeit führte. Theo wurde Geschäftsführer der Qualifizierungsgesellschaft Rheinhausen, glänzte auch dort mit neuen Ideen zum Umgang mit Langzeitarbeitslosigkeit, eines der brisantesten Themen nach der Übernahme und Deindustrialisierung der DDR. Später wurde er Leiter der Abteilung Weiterbildung bei Nirosta, einem Tochterunternehmen von ThyssenKrupp, das schließlich vom Weltmarktführer für Edelstahl, Outokumpu, übernommen wurde. Von 2013 bis 2017 arbeitete Theo als Referent des Euro-Betriebsrats. Über Europa kamen wir gelegentlich wieder ins Gespräch, trafen uns bei Tagungen. Unser Themenspektrum erweiterte sich, als Theo sich bei »What’s left?« engagierte, dem Versuch, ein übergreifendes Netzwerk der Linken im Ruhrgebiet zu schaffen.

In das Zentrum des politischen Geschehens kehrte er als Sprecher der BI »Neuanfang für Duisburg« mit dem erfolgreichen Bürgerentscheid zur Abwahl des Oberbürgermeisters Adolf Sauerland nach dem Unglück bei der Love Parade 2010 (21 Tote, 652 Verletzte) zurück – und blieb ein streitbarer Zeitgenosse, etwa in der Kommunalpolitik der SPD, ein Themenfeld, für das er sich auch bei Attac einsetzte.

Anlässlich des 75. Geburtstages von Otto König kehrten wir im IG-Metall-Bildungszentrum Sprockhövel zum alten Thema der Industrie- und Strukturpolitik zurück – Hartmut Schulz bilanzierte die Hattinger, Theo die Rheinhausener Erfahrungen. Angedacht war, das in einem Workshop zu vertiefen – 2024 sollte es soweit sein. Der Herzinfarkt hat das nun verhindert.

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